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Ein vergessener Gründervater der Fundamentaloptimist Ludwig Erhard und seine Soziale Marktwirtschaft

Von Daniel Koerfer

(erschienen in: Agora42, Nr. 1, Januar 2010, S.94-102)

Die junge Journalistin aus Hamburg fuhr im Frühjahr 1948 nach Frankfurt am Main. Sie hatte vor dem Krieg in Königsberg und Basel Volkswirtschaft studiert und ihr Studium mit der Promotion abgeschlossen, anschließend in Ostpreußen ein großes Gut geleitet, den Untergang des Großdeutschen Reiches erlebt, war zu Pferd mit einem kleinen Treck nach Westen geflüchtet wie Millionen ihrer Landsleute auch. Jetzt war sie von der Redaktion einer neu lizensierten Wochenzeitung auf die Reise geschickt worden, um die erste Pressekonferenz des neuen Direktors der Verwaltung für Wirtschaft im bizonalen Wirtschaftsrat (Wirtschaftsrat der zusammengeschlossenen Besatzungszonen der USA und des Vereinigten Königreichs) zu verfolgen. Ihr Eindruck von dem bis dahin gänzlich unbekannten Mann, von seinen Visionen? Blankes Entsetzen. Marion Dönhoff berichtete anschließend ihren Redaktionskollegen von der ZEIT: „Wenn Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann mit seinem absurden Plan, alle Bewirtschaftungen in Deutschland aufzuheben, würde das ganz gewiss fertig bringen. Gott schütze uns davor, dass der einmal Wirtschaftsminister in Deutschland wird.“ Der Mann, vor dem sie so nachdrücklich warnte, hieß Ludwig Erhard – von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister, anschließend für drei Jahre Adenauers Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers und einer der Gründerväter der zweiten deutschen Republik.

Würde Erhard heute wieder antreten und seine Konzeption vorstellen, die Geschichte würde sich wiederholen: Medialer Hohn und Spott, ja Verachtung für seine „neoliberalen“ Rezepte wären ihm sicher. Jene Soziale Marktwirtschaft, auf die sich heute alle Parteien bis hin zur Linken berufen, hat mit seiner eigenen Konzeption kaum noch etwas zu tun. Denn die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards verhält sich zum überdehnten, durch immer höhere Schuldenberge finanzierten Versorgungsstaat unserer Zeiten wie Feuer zu Wasser.

Wer in seinem gerade wieder aufgelegten Bestseller von 1957 – vermutlich wurde er schon damals vielfach gekauft und verschenkt, aber nie gelesen – mit dem programmatischen Titel Wohlstand für alle blättert und etwa das Kapitel „Versorgungsstaat – der moderne Wahn“ entdeckt, wird aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. 50 Jahre her – und doch ist's, als sei kein Tag vergangen. Dort steht etwa: „Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: ‚Ich will mich aus eigener Kraft bewähren. Ich will das Risiko meines Lebens selbst tragen. Ich will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge Du, Staat dafür, dass ich dazu in der Lage bin.’ Der Ruf darf nicht lauten: ‚Du, Staat, komm mir zu Hilfe, schütze mich und helfe mir’, sondern umgekehrt: ‚Kümmere Du, Staat, Dich nicht um meine Angelegenheiten, sondern gib mir soviel Freiheit und lass mir vom Ertrag meiner Arbeit so viel, dass ich meine Existenz, mein Schicksal und dasjenige meiner Familie selbst zu gestalten in der Lage bin.’“

Welcher Politiker würde heute solche Sätze formulieren? Welche Partei würde solche Sätze in ihr Programm schreiben? Welche Partei würde daraufhin noch gewählt? Aber es geht noch weiter. Ludwig Erhard warnte schon 1956: „Die wachsende Sozialisierung der Einkommensverwendung, die um sich greifende Kollektivierung der Lebensplanung, die weitgehende Entmündigung des Einzelnen und die zunehmende Abhängigkeit vom Staat müssen die Folgen eines gefährlichen Weges sein, an dessen Ende der soziale Untertan und die bevormundete Garantierung der materiellen Sicherheit durch einen allmächtigen Staat, aber auch in gleicher Weise die Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts in Freiheit stehen wird.“

Soziale Marktwirtschaft

50 Prozent der Wirtschaftspolitik sei Psychologie – das wusste auch Erhard schon und nicht nur die medialen Plappermäulchen unserer Zeit. Aber was ist mit den anderen 50 Prozent? Kaum jemand wird Ihnen darauf heute eine vernünftige Antwort geben. Die anderen 50 Prozent, hat Erhard einst geantwortet, sind eine klare, durchdachte Ordnungspolitik im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft. Was war diese ominöse, diese rätselhafte und daher heute von jedem im eigenen Sinne ausgelegte Soziale Marktwirtschaft für ihn? Nicht der unbeschränkte, freie Markt! Das nannte er „Freibeutertum“. Nein, dem Staat wurde in seinem Konzept eine beträchtliche Rolle zugewiesen: Regeln, Rahmenbedingungen für den Wettbewerb festlegen, deren Einhaltung überwachen, Kartelle bekämpfen, qualifizierte Ausbildung für möglichst viele sichern, den Einzelnen vor den schlimmsten Folgen wirtschaftlichen Scheiterns bewahren – aber eben nicht eine immer umfassendere Versorgung und am Ende soziale Gleichheit auf niedrigstem Niveau.

Erhards Grundüberzeugungen, die er bisweilen etwas verschwurbelt vortrug, waren vergleichsweise einfach. Für den Fundamentaloptimisten Ludwig Erhard galt vor allem die Botschaft der Freiheit, und zwar der simplen, bürgerlichen Freiheiten: Freiheit der Arbeitsplatzwahl, Freiheit der Berufswahl, Freiheit des Reisens und der Konvertierbarkeit der Währungen bis hin zu den politischen Rechten und Freiheiten. Er war schon früh ein überzeugter Verfechter der Globalisierung, des weltumfassenden freien Handels, verachtete und bekämpfte Handelsbeschränkungen und das Abschotten von Märkten, weil Wohlstand möglichst vielen Menschen zukommen sollte, auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen. Denn von einem war er zutiefst überzeugt: Kein Staat, keine Partei, kein Politiker ist klüger und gerechter als der Markt, der Wettbewerb. Jede Intervention von Staatsseite – etwa über Subventionen, Zölle, gesetzliche Beschränkungen oder Bürgschaften, auch Garantien in Millionen- oder Milliardenhöhe – verzerrt, verfälscht, reduziert die Kraft des Marktes als unbestechlicher Schiedsrichter und zieht stets mehr Probleme nach sich als sie löst. K.T. zu Guttenberg stand in jener Nacht, als im Kabinett über die staatlichen Opel-Garantien debattiert wurde und er seine Skepsis zu Protokoll gab, weit stärker in der Tradition seines fränkischen Landsmannes und Amtsvorvorgängers, als er selbst wohl ahnte.

Zur Sozialen Marktwirtschaft Erhards gehört neben der Solidarität – etwa mit Millionen von Vertriebenen – und der Forderung nach Vermögensbildung breiter Schichten durch eigene Kraft, Anstrengung und Entbehrung stets auch als wesentliches Kernelement die Möglichkeit der Krise, sogar die Möglichkeit des brutalen Scheiterns. Wer würde wagen, derlei heute offen auszusprechen? Er würde isoliert; ihm würde im medialen Diskurs soziale Kälte vorgeworfen werden, nicht allein von den Parteien auf der Linken des politischen Spektrums, denn die Sozialdemokratisierung der Republik ist mittlerweile soweit fortgeschritten, dass die SPD überflüssig zu werden scheint.

Diese harte Seite der Sozialen Marktwirtschaft wird bei uns zunehmend ausgeblendet. Es bleibt eines der großen Rätsel unserer derzeitigen Gesellschaft, wie wenig geschichtliche und ökonomische Grundkenntnisse in ihr verbreitet sind. „Profundes Halbwissen“ dominiert gerade bei den wichtigsten Multiplikatoren im Fernsehen und Internet. „Je weniger wir von einer Sache verstehen, desto unerschütterlicher ist unsere Überzeugung“, lautet mittlerweile das Mantra dieser Gesellschaft.

Harte Zeiten

Der Mann und seine Wirtschaftsordnung waren beide härter, als im Rückblick scheinen mag. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert, 1897 geboren, erkrankte Erhard als Kind an spinaler Kinderlähmung, lernte – übrigens darin Angela Merkel vergleichbar – erst spät und mühsam laufen, biss sich durch, wurde nach der Realschulausbildung und dem „Einjährigen“ im Ersten Weltkrieg – sein älterer Bruder Max war schon gefallen – zur Bayerischen Artillerie „gezogen“ und in Belgien bei Ypern linksseitig an Arm und Schultern schwer verwundet. Ein langer Lazarettaufenthalt, hohe – später tabuisierte – Morphiumdosen waren die Folge. Kaum jemand wusste oder erfuhr in seiner Ministerzeit davon.

Unfähig, im elterlichen Betrieb, einer kleinen Textilhandlung in Fürth, mitzuarbeiten, geriet dieser Franke eher zufällig an die neu eröffnete Wirtschaftshochschule in Nürnberg. Dort traf er seine drei wichtigsten akademische Lehrer und Förderer Wilhelm Rieger, den jüdischen Gelehrten und großen Sozial-Liberalen Franz Oppenheimer – der in Frankfurt sein Doktorvater werden sollte – und Wilhelm Vershofen, der ihn in den dreißiger Jahren an sein Institut für Wirtschaftsbeobachtung und Konsumforschung holte, wo Erhard in einer Art „Nische“ das Dritte Reich überstand.

Prägend für ihn, wie für seine späteren liberalen Mitstreiter Walter Eucken, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke oder Alfred Müller-Armack (letzterer prägte den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ und wurde Erhards Staatssekretär im Wirtschaftsressort), war vor allem die bittere Erfahrung der Hyperinflation 1922/23: Ein Ei kostete plötzlich zwei Billionen Mark und die gesamten Rücklagen und Sparmittel des väterlichen Betriebes lösten sich in Luft auf, so dass er 1928 Konkurs anmelden musste. Keine andere Erfahrung hat den breiten Mittelstand so verstört, erbittert und geschwächt. Als bald darauf die Weltwirtschaftskrise und Brünings Sparpolitik noch die letzten Wohlstandsreste angriffen, Massenarbeitslosigkeit und  -elend  immer weitere Gruppen der Gesellschaft bedrohten und betrafen, waren Millionen von Deutschen bereit, sich dem größten Demagogen ihrer Zeit auszuliefern – Adolf Hitler.

Prägend war für Erhard gleichermaßen die Erfahrung des ersten deutschen Wirtschaftswunders, das der braune Diktator auslöste. Dieser finanzierte sein Wohnungsbau- und noch (viel) gewaltigeres Aufrüstungsprogramm über hohe Steuern und eine Ausweitung der Staatsverschuldung bei wachsender Devisenknappheit, preisgestoppter Inflation, niedrigen Löhnen und hohen Überstundenzuschläge. Auf diese Weise „gewann“ er auch die Arbeiter für sein Regime. Erhard durchschaute den faulen Zauber, formulierte 1943/44 in seiner nach dem Krieg wiederentdeckten berühmten Denkschrift über Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung für den Reichsverband der Deutschen Industrie bereits Hinweise, wie man mit den unsichtbaren Formen der gewaltigen Staatsverschuldung umgehen müsse. Er skizzierte darin Möglichkeiten der radikalen Beseitigung der Schulden sowie die Grundzüge eines marktwirtschaftlich orientierten Wiederaufbaus. Da Hitler jedoch jegliches Nachdenken über Entwicklungen und Schritte für die Zeit nach dem Krieg schon vor der Entstehung der Denkschrift bei Todesstrafe verboten hatte und Carl Goerdeler im Vorfeld des „20. Juli“ eben diese Denkschrift (häufig) mit sich führte und sogar verbreitete, hätte die schriftlich niedergelegte Form seines „Brainstormings“ für Erhard leicht fatale, ja tödliche Folgen haben können. Doch er hatte Fortune. Sein Papier blieb zunächst unentdeckt. Erst nach dem Krieg soll es den Amerikanern in die Hände geraten sein und sie holten ihn als unbelasteten Wirtschaftsfachmann in die Politik.

Die Zeiten waren bitterhart damals. Nachdem die Kanonen endlich aufgehört hatten zu donnern, gehörten Hunger- und Kältetote zum Alltag. Unterernährung, das Aufleben von Tuberkulose als Volkskrankheit gerade der kleinen Leute und ihrer Kinder, Demontagen von Industrieanlagen und Schwarzmarkt prägten das Leben. Die von Hitler – wie später in der DDR Ulbrichts und Honeckers – heimlich inflationierte Währung galt zwar noch, war aber nichts mehr wert. Die "Zigarettenwährung" galt. Auch die Zwangsbewirtschaftung des Dritten Reiches galt fort. Noch war das Regime nicht wirklich untergegangen. Über Zuteilungen und Lebensmittelkarten oder -marken erhielt man mit etwas Glück weiterhin seine täglichen Rationen.

Die Erbitterung in der Bevölkerung war groß, denn die Läden blieben leer. „Tausche gesamte britische Militärregierung gegen deutsches Naziregime“, stand noch im Herbst 1947 an Häuserwänden in Köln. Wen wundert es: Die Zeit war links. Der Wahlsieg der britischen Labour-Regierung mit einem ebenso farb- wie ahnungslosen Gewerkschaftsführer gegen den Kriegspremier Churchill und die Regierungsbeteiligung der Kommunisten in Paris entsprachen dem Zeitgeist. Selbst ein so prononcierter Verteidiger des Kapitalismus wie Joseph Schumpeter meinte, das ruinierte Europa habe nur noch eine Chance, wenn es sozialistisch werde. Und sogar die CDU formulierte im Februar 1947 in Nordrhein-Westfalen ihr „Ahlener Programm“, redete wie die anderen (neu oder wiederbegründeten) deutschen Parteien Verstaatlichungen von Schlüsselindustrien das Wort.

Gegenwind für die „reine Lehre“

In dieser Situation stellte sich Erhard – mit Billigung und Rückendeckung der wichtigsten Besatzungsmacht, der Amerikaner – gegen diesen linken Zeitgeist. Dass ihn dafür vor allem die Sozialdemokraten scharf attackierten, die nahezu sämtliche Wirtschaftsminister in den Länderregierungen der westlichen Zonen stellten, hat er ihnen nie vergessen. Tatsächlich wurde Erhards Liberalisierungspolitik brutal bekämpft mit Misstrauensvoten in Wirtschaftsrat und Bundestag – und durch den Aufruf von DGB und SPD zum bislang einzigen Generalstreik der deutschen Nachkriegsgeschichte im November 1948 gegen ihn und seine Politik. „Erhard an den Galgen“, stand damals auf den Transparenten der Demonstranten. Das hat Erhard den Sozialdemokraten bis ins hohe Alter schwer übel genommen, hat sie bis zu seiner politischen Partnerschaft, ja Freundschaft mit Karl Schiller in den frühen siebziger Jahren für wirtschaftspolitische Toren gehalten und eine Große Koalition mit ihnen 1966 sogar noch abgelehnt, als er dadurch seine Kanzlerschaft hätte retten können.

Die Einführung der Marktwirtschaft im Jahre 1948 war kein Zuckerschlecken. Sie ging einher mit der Abschaffung der Kriegsplan- und Bezugsscheinwirtschaft mit ihren vielen Verordnungen, (mit) den Produktionsreglementierungen und Bewirtschaftungsregeln. Parallel dazu machte Hitlers Milliarden-Schuldenberg eine brutale Währungsreform, das heißt eine Abwertung der alten Währung gegenüber der neuen D-Mark im Verhältnis von 10:1, erforderlich. Nach dem fulminanten Start und der Initialzündung, als sich über Nacht die Schaufenster füllten, geriet die neue Wirtschaftsordnung rasch in schwere See. Die Preise stiegen, die Löhne blieben niedrig. Die Leute murrten immer vernehmlicher und gingen schließlich auf die Straßen. Selbst in den Schubladen von Erhards eigener Verwaltung lagen schon die fertigen Druckbögen, um wieder zur Bewirtschaftung zurückzukehren. Doch Erhard ließ sich nicht beirren. Und die Besatzungsmacht half, die Löhne durften etwas steigen, ein „Jedermann-Programm“ offerierte besonders preiswert aus Kriegs- und Regierungsbeständen wichtige Waren des täglichen Bedarfs wie Schuhe und Kochgeschirr.

Aber die Lage blieb dramatisch. 15 Millionen Flüchtlinge, meist ohne Hab und Gut, sowie die heimkehrenden Kriegsgefangenen galt es zu integrieren. Ein kleiner Lastenausgleich kam, denn die Währungsreform hatte Sachwertbesitzer von Immobilien oder Aktien über die Massen begünstigt, Besitzer von Geldvermögen schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit schoss aber kurz nach Gründung der Bundesrepublik in Richtung fünf Millionen. Kanzler Adenauer, der Erhard als wortmächtigen Kämpfer mit klarem Gegenprogramm zur planwirtschaftlich orientierten SPD zur Union gelockt und mit seiner Hilfe die erste Bundestagswahl gewonnen hatte – Erhard begegnet uns in den damaligen Meinungsumfragen als der bekanntere Mann, als Zugpferd der Union, nicht Adenauer – wurde unruhig. Nach dem Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 drängten sogar die Amerikaner die Bundesregierung angesichts der unsicheren Versorgungslage bei wichtigen Rohstoffen wie Öl, Treibstoff, Zucker, Lebensmitteln zur Bewirtschaftung und staatlichen Rationierung zurückzukehren. Adenauer, der sich in den frühen dreißiger Jahren mit Aktienspekulationen fast ruiniert hätte, bekannte im CDU-Vorstand, er sei kein prinzipieller Anhänger der Marktwirtschaft; wenn der Erfolg ausbleibe, müsse der Staat immer intervenieren. Im kleinen Kreis sprach er sogar noch offener: Nicht ökonomischer Wettbewerb und harte Konkurrenz, bei der das schmerzlich-bittere Scheitern des Unterlegenen dazu gehöre, sondern der fürsorgende Geist der katholischen Soziallehre entspreche eher seinen wirtschaftlichen Vorstellungen. Dass Adenauer in dieser Phase seinen Wirtschaftsminister fast fallen gelassen und gegen den Berliner Bankier Friedrich Ernst ausgetauscht hätte, war für Erhard menschlich enttäuschend.

Aber es geht hier nicht um das persönliche Sentiment. Erhard musste erleben, dass selbst in der Union und im Kanzleramt seiner Konzeption nicht vertraut, sondern zunehmend dem Staatsinterventionismus das Wort geredet wurde. Dabei war ihm selbst klar, dass seine „reine Lehre“ in der Bundesrepublik von Anfang an von einem gerüttelt Maß an Staatsausgaben, an staatlicher Intervention und Regulierung sowie staatlichem Industriebesitz von Eisenbahn, Post, Telekommunikation, Luftlinien bis hin zu Volkswagen begleitet gewesen ist. Das nahm er als unvermeidliche Sündenfälle hin wie auch die Einführung der paritätischen Mitbestimmung im Montanbereich, mit der sich Adenauer die Zustimmung der Gewerkschaften zur Wiederbewaffnung „erkaufte“.

Als eine seiner bittersten Niederlagen hat Erhard allerdings 1957 die Verabschiedung eines am Ende bis zur Unkenntlichkeit verwässerten Kartellgesetzes empfunden. Was für ihn das „Grundgesetz“ seiner Sozialen Marktwirtschaft hatte werden sollen, durfte am Ende Adenauers „Vorabbefriedigung der organisierten Interessengruppen und Lobbyisten“ (Theodor Eschenburg) nicht wirklich im Wege stehen. Eine zweite schwere Schlappe war für ihn die fast zeitgleich erfolgte Verabschiedung der Rentenreform, das heißt die Einführung einer an den Lohnfortschritt gekoppelten „dynamisierten“ Rente in Verbindung mit einem Umlageverfahren, unter Verzicht auf jegliche Kapitaldeckung.

Zusammen mit Finanzminister Fritz Schäffer hatte er sich lange und mit guten Argumenten dagegen gestemmt, weil für ihn mit dieser Änderung der Weg in den Wohlfahrts- und Schuldenstaat eingeschlagen worden war und gewarnt: „Die Blindheit und intellektuelle Fahrlässigkeit, mit der wir auf den Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat zusteuern, kann nur zu unserem Unheil ausschlagen. Dieser Drang und Hang ist mehr als alles andere geeignet, die echten menschlichen Tugenden wie Verantwortungsfreudigkeit, Nächstenliebe, das Verlangen nach Bewährung und die Bereitschaft zur Selbstversorge allmählich, aber sicher absterben zu lassen. Am Ende steht vielleicht nicht die klassenlose, wohl aber die seelenlos mechanisierte Gesellschaft … man will offenbar nicht erkennen, dass wirtschaftlicher Fortschritt und leistungsmäßig fundierter Wohlstand mit einem System umfassender kollektiver Sicherheit unvereinbar sind“. Dass er durch Umfragen in den fünfziger Jahren erfahren musste, dass eine wachsende Mehrheit der Deutschen der festen Überzeugung war, die Soziale Marktwirtschaft sei im Kern eine sozialdemokratische Erfindung und Umverteilung das zentrale Prinzip, hat ihn maßlos geärgert. Mit eigenen Werbekampagnen, mit Comicstrips, kleinen Cartoons und Anzeigen hat er dagegen anzugehen versucht – mit geringem Erfolg.

Gewiss, auch Erhard verstieß später als erschöpfter, von den Nachfolgekabalen zermürbter Kanzler ohne Machtwillen, Mut und Charisma gegen seine eigenen Grundsätze: Mit Wahlgeschenken an Rentner, Landwirte, Kriegsopfer und Hinterbliebene versuchte er, Wähler zu gewinnen. Aber immerhin wusste er um diese „Fehler“, wie er im Rückblick eingestand. Bis an sein Lebensende trieb ihn die Sorge um, dass die von ihm mit konzipierte Wirtschaftsordnung missverstanden, missbraucht und am Ende zerstört werde. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1977 sagte er: „Ich habe als Bundesminister 80 Prozent meiner Kraft dazu verwenden müssen, gegen ökonomischen Unfug anzukämpfen“. In dieser letzten Phase seines Lebens hat er sich mit Karl Schiller – dem neben ihm einzigen weiteren fundierten Ökonom in der deutschen Politik, Helmut Schmidt war vor allem ein geschickter Propagandist seines eigenen Images – verbündet und gegen den wachsenden „Opportunismus“ des Verteilerstaates angekämpft, bei dem das erwirtschaftete Sozialprodukt von Parteien, Parlamenten, Bürokratien in erster Linie unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, wie es am besten verteilt werden kann, um damit Gruppeninteressen von den Rentnern bis zu den Landwirten (auf seine  Seite zu bringen) zu befriedigen oder mächtige Lobbyisten zufriedenzustellen.

Erhards zentrale Frage, wie Werte und Wohlstand überhaupt geschaffen werden und wie derjenige belohnt und nicht bestraft werden muss, der sie schafft, war in dieser Phase der Republikgeschichte schon weitgehend aus dem Blick geraten. Lautete in den siebziger Jahren seit Willy Brandt nicht das Motto der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik eigentlich „Wir wollen mehr Versorgungsstaat wagen“? 1970/71 schwadronierte man in den Sozialministerien geradezu wahnhaft von Überschüssen in den Rentenkassen in Höhe von 150 bis 200 Mrd. DM bis zum Jahr 1985; die Personalausgaben der öffentlichen Hand wurden durch Neueinstellungen allein 1971 um 15 Prozent gesteigert. Gleichzeitig stieß man die Tür in den Verschuldungsstaat weit auf: Die Berufung auf die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Ausnahmereglung des Art. 115 GG) wurde in den Haushaltsdebatten Routine und mit milliardenschweren, aber letztlich nutzlosen Konjunkturprogrammen sollte die heraufziehende neue Massenarbeitslosigkeit bekämpft werden. Erhard hat all das noch mit großer Sorge registriert und immer wieder warnend seine Stimme erhoben. Doch mittlerweile wirkte er wie ein Fossil aus einer versunkenen Epoche. Wie berechtigt seine Warnungen gewesen sind, mussten und müssen wir erst allmählich lernen. Es kann noch eine bittere und schmerzliche Lektion werden. Ein neuer Ludwig Erhard ist nicht in Sicht. Die Ordnungspolitiker der deutschen Politik waren offenbar vom Stamme der Mohikaner – sie sind mittlerweile ausgestorben.

Daniel Koerfer lehrt als Honorarprofessor Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und ist Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens in Köln. Von ihm erschien u.a. Erhard und Adenauer – Der Kampf ums Kanzleramt (1987ff.)

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