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Der Zug der Hasardeure

Wie "bürgerlich" ist diese Koalition? Anmerkungen zur neuen Regierung

Von Daniel Koerfer und Udo Marin

Das Etikett war schnell geklebt. CDU/CSU und FDP bilden eine "bürgerliche" Regierung. Betrachtet man die soziologische Struktur und das Selbstverständnis der beiden Parteien, ist das nicht völlig falsch, auch wenn die Union in einer gewagten Operation ihre Koordinaten weit nach links verschoben und die Position der SPD als Volkspartei der linken Mitte übernommen hat. Noch vor fünf Jahren hätte sie die Politik, die sie jetzt verfolgt, als sozialdemokratisch und antibürgerlich verdammt. Der Erfolg gibt ihr Recht. Erstmals haben mehr Arbeiter Union als SPD gewählt. 900 000 zusätzliche Stimmen aus dem "linken Lager" ließen sie die 1,3 Millionen, die zur FDP abgewandert sind, verschmerzen. Eine sozialliberale Koalition erblickte am 27. September 2009 als "bürgerliche" Regierung das Licht der Welt.

Das Etikett bürgerlich ist umso wichtiger, als die Politik den Terminus nicht mehr verdient. Von einer Politik, die eher auf die Freiheit und Verantwortung des Individuums statt auf die Allmacht des Staates als großen Daseinsversorger setzt, sind im Koalitionsvertrag allenfalls noch Spurenelemente übriggeblieben. Was soll der geneigte, bürgerliche Wähler von einer solchen Koalition erwarten? Eine Rehabilitation der einst von Lafontaine so wirkungsmächtig diffamierten bürgerlichen Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Solidarität, Toleranz, Geduld, Fleiß, Disziplin, Ehrlichkeit, Ausdauer, Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein sowie womöglich sogar noch Höflichkeit als gesellschaftliche Leitbilder? Eine Regierung der "geistig-moralischen Wende" also, wie sie Helmut Kohl seinen westdeutschen Wählern vor über 25 Jahren versprochen hat? Das war damals schon eine Schimäre und würde es auch diesmal bleiben.

Aber auf eine bürgerlich-hausväterliche Haushaltspolitik wird man doch hoffen dürfen, die danach strebt, nicht mehr auszugeben als einzunehmen. Auf eine Steuerpolitik, die Leistungsanreize setzt und dem Tüchtigen wenigstens 50 Prozent seines Einkommens belässt. Auf eine Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die sich nicht in Sonntagsreden erschöpft, sondern die Dahrendorf'sche Formel von der "Bildung als wichtigstem Bürgerrecht" aufgreift, ein durchdachtes Kooperationsangebot an die Länder vorlegt, die Angleichung der Chancen zum Staatsziel erklärt, in die Köpfe des Landes als wichtigste Ressource investiert.

Entspricht die Koalitionsvereinbarung dieser Erwartung? Die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen. Eine solide Haushaltspolitik hat es in Deutschland seit dem Ende der Ära Adenauer nicht mehr gegeben, in der der knorrige CSU-Finanzminister Fritz Schäffer noch einen Staatsschatz von sieben Milliarden D-Mark anhäufen konnte. "68" ist auch hier eine Chiffre von Belang. Mit dem Keynesianismus der ersten Großen Koalition und dann in der sozialliberalen Ära Brandt/Schmidt wurde das Tor in den Schuldenstaat weit aufgestoßen, nahm der Zug der finanzpolitischen Hasardeure Fahrt auf. Seither wurde nie getilgt, lediglich umgeschuldet und draufgesattelt, von "bürgerlichen" wie sozialdemokratisch geführten Regierungen gleichermaßen, auch wenn es in der zweiten Kanzlerschaft Kohl unter Finanzminister Stoltenberg noch letzte Sparbemühungen gegeben hat und der Haushaltsausgleich zum Greifen nahe war. Doch dann kam der Mauerfall und die letzten Reste haushaltspolitischer Seriosität wurden auf dem Altar der Einheit geopfert.

Im März 2005 hielt der von einer "bürgerlichen" Mehrheit in der Bundesversammlung etablierte Bundespräsident Horst Köhler eine Rede zur Lage der Republik. Damals sagte er: "Der aktuelle Schuldenstand (1,4 Billionen) und die Anwartschaften in den Sozialversicherungen und Pensionen (5,7 Billionen) belaufen sich in der Bundesrepublik auf insgesamt 7,1 Billionen Euro. Machen wir uns wirklich klar, welche Erblast das für unsere Kinder und Enkel bedeutet?" Mittlerweile ist die Staatsschuld ohne die Sozialversicherungen, Pensionen und Zinseszinseffekte über alle Gebietskörperschaften hinweg auf 1,7 Billionen Euro angewachsen. Der designierte Bundesfinanzminister verweist - noch vor seiner Vereidigung - einen ausgeglichenen Haushalt in dieser Legislaturperiode ins Reich der Utopie. Die neue Regierung startet mit einem Rekorddefizit von über 90 Milliarden ins neue bürgerliche Zeitalter. Das ist die tickende Zeitbombe, vor der der Bundespräsident am Mittwoch während des Empfangs der neuen Regierung warnte. Wenn sie explodiert, zerfetzt sie die europäische Währungsunion und die Stabilitätsordnung der Nachkriegsgeschichte.

2008 erzielte Deutschland das höchste Steueraufkommen seiner Geschichte. Die öffentlich behauptete Armut des Staates ist eine bizarre Täuschung. Niemals zuvor hat der Staat seinen Bürgern mehr abverlangt, um seine angeblich unabweisbaren Ausgaben zu finanzieren. Zugleich zahlen die vielen Facharbeiter mit 50 000 Euro Jahreseinkommen - wie die wenigen Multimillionäre - den Höchststeuersatz, rund 47 Prozent, ohne Kirchensteuer, ohne Berücksichtigung der Sozialabgaben und der eigenfinanzierten Zusatzversorgung, die ihnen von jeder der letzten Bundesregierungen so dringend ans Herz gelegt wurde. Nein, so viel Ausbeutung in der Mitte der Gesellschaft war nie. Und so viel stille Wut darüber auch nicht. Trotzdem haben Bund und Länder seit Jahrzehnten eigentlich durchgängig verfassungswidrige Haushalte aufgelegt. Was früher die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts war, das ist heute die Finanzkrise: die Generalabsolution, um jeden Verstoß gegen die finanzpolitische Vernunft zu legitimieren. Das ohrenbetäubende Schweigen der Koalition zu allen Möglichkeiten der Haushaltskonsolidierung lässt nur einen Schluss zu - hier hat eine Regierung noch vor Ablegen des Amtseides vor einer Schlüsselfrage resigniert und kapituliert.

Wachstum ist der neue Fetisch dieser Regierung. Mit seiner Hilfe lassen sich - angeblich - alle Probleme lösen: Mehr Netto vom Brutto, weniger Steuern, ausfinanzierte soziale Sicherungssysteme, bezahlbare und für jedermann zugängliche Hochleistungsmedizin, Infrastruktur, Forschung, Bildung und natürlich Schuldenabbau. Das wird sich als große Illusion erweisen. Schon das Wachstum der vergangenen Jahrzehnte war weitgehend schuldenfinanziert. Nun wächst diese Gesellschaft nicht mehr, sondern sie schrumpft - auf 1 000 Erwachsene kommen acht Kinder bei uns, so wenige wie nirgends sonst in Europa - und wird gleichzeitig immer älter. Immer weniger Menschen sollen immer mehr produzieren. Das ist unmöglich. Eine schrumpfende Gesellschaft kann sich kein System staatlicher Ausgaben und sozialer Sicherung leisten, das nur unter der Prämisse stetigen und ununterbrochenen Wachstums funktioniert. Doch unsere Gesellschaft drückt sich noch immer um die fundamentale Wahrheit herum: Sie lebt deutlich über ihre Verhältnisse und sie tut das auf Kosten künftiger Generationen. Eltern üben Verzicht zu Gunsten ihrer Kinder - individualethisch ist dies immer noch eine selbstverständliche und weitgehend akzeptierte Norm. Kollektiv hat sie keine Gültigkeit. Diese Staatswirtschaft betrügt ihre Gläubiger und treibt ihre Jugend aus dem Land. Dieser Schuldenstaat frisst zwar nicht seine Kinder, aber seine Enkel.

Bürgerliche Regierung, bürgerliche Gesellschaft? Beides gibt es seit mindestens 50 Jahren nicht mehr wirklich. Der mit dem bürgerlichen Ideal der Selbstverantwortung unvereinbare Wohlfahrtsstaat hat sich etabliert. Sein Bewegungsgesetz ist der Wille zur Ausdehnung. Immense Summen werden unter immer größeren Effizienzverlusten an wachsende Bevölkerungsteile umverteilt. Den Preis zahlen nicht die Reichen, sondern die Mittelschicht. Deren Belastungsgrenze ist erreicht, der Hunger des Wohlfahrtsstaates unersättlich. Schlimmer noch: Viele Menschen verlernen, für sich selbst und ihre Kinder Verantwortung zu übernehmen. Aus dem Citoyen wird wieder der Untertan.

Tragen FDP und CDU, das sogenannte bürgerliche Lager, Schuld an diesen gesellschaftlichen Zuständen? Ja und Nein. Ja, weil die Politik eine gesellschaftliche Führungsaufgabe hat und sie nicht wahrnimmt. Nein, weil die Parteien ein Spiegelbild der Gesellschaft sind. Wir haben exakt die Politiker, die wir verdienen. Nicht diese sind verantwortungslos und wirklichkeitsverweigernd - wir sind es. Wer den Staatshaushalt sanieren, den überdehnten Wohlfahrtsstaat zurückschneiden will, dem droht medial multiplizierter Massenprotest und der rasante Entzug des Wählermandats. Angela Merkel hat diese Lektion gelernt. Zu tief hat sie am Wahlabend 2005 in den Abgrund des Machtverlusts geblickt.

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die angebotenen politischen Alternativen nicht besser, sondern schlimmer sind. Dieser Regierung fehlt möglicherweise die Kraft zur Kurskorrektur. Die Linksparteien wollen jedoch den gescheiterten Kurs der Entmündigung und Staatspatronage ungebremst fortsetzen, sogar weiter ausweiten. Ihr Glaube an die segensreiche Wirkung staatlicher Lenkung und Planung ist ungebrochen. Dem widerspricht jede historische Erfahrung. Der Staat wird immer mehr zur Beute der gesellschaftlichen Gruppen, die sich seiner bemächtigen und wendet sich gegen die Gesellschaft, der zu dienen er vorgibt. Eine humane bürgerliche Gesellschaft kann jedoch nur eine staatsskeptische Gesellschaft sein.

(Berliner Zeitung vom 31. Oktober 2009)

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