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Dem Pelikan vom Sperling

 

Wohin soll der Kampf gegen soziale Ungleichheit führen? Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik, gelesen im Licht der Finanzkrise

Von Daniel Koerfer

Einst fuhr Sebastian Haffner, als seine grossartigen „Anmerkungen zu Hitler“ fertig gestellt waren, mit dem druckfrischen schmalen Band von Berlin nach Kronberg. Er wollte einen Autor  besuchen, der gleichfalls als Publizist und nicht als Historiker eine ungleich umfangreichere, aber ähnlich aufsehenerregende Studie  zum Thema „Hitler“ vorgelegt hatte  - Joachim Fest. Haffner überreichte dem überraschten, bald schon geschmeichelten Freund und Konkurrenten noch an der Tür sein Werk mit der handschriftliche Widmung: „Dem Adler vom Zeisig“. Wie würde Haffners Widmung gegenüber Hans Ulrich Wehler heute lauten? Vielleicht: „Dem Pelikan vom Sperling“? Wer sonst wäre aus der Welt der Tiere geeignet, die ungeheure Schreibleistung und Verarbeitung gewaltiger Datenschwärme, die Wehlers fünfbändiger „Monumenta“ zugrunde liegt, ebenso zu symbolisieren wie den sozialpolitischen Grundton der Brandtschen „compassion“, der das Mammutwerk als Leitmotiv durchzieht? Beides verkörpert doch der Pelikan, nicht ohne Grund seit dem 19.Jahrhundert Markenzeichen der Füllfederindustrie, wie kein zweiter, der in seinem grossen Kehlsack ungeheure Fischmassen - sprich: Datenmengen – aufzunehmen vermag und den auch von Wehler propagierten sozialpolitischen Altruismus wie kein anderes Sozialwesen vorlebt, indem er bekanntlich seine Jungen mit dem eigenen Blute nährt. Selbst sanft kritische Anmerkungen können demgegenüber nur wie das Picken des Sperlings auf der weissen Tischdecke anmuten. Ich will dennoch an sieben Punkten etwas „picken“:   

1. Die harte, gut begründete und über weite Strecken einleuchtende Verurteilung der DDR als sowjetischer „Satrapie“ hätte ich gern schon 1980-1988 gelesen. Only benefit of hindsight? Wehlers „mächtige“ Kategorie der „sozialen Ungleichheit“ ist für mich gleichfalls verblüffend, denn sie bezieht sich vor allem auf die materielle/pekuniäre Ebene und ist bei aller Material- und Textfülle doch viel zu statisch, um der gesellschaftlichen Realität gerecht zu werden. Natürlich sind materiell/pekuniär unzweifelhaft beträchtliche Unterschiede in der Vermögensverteilung zu konstatieren, besonders benachteiligt sind die von Massenarbeitslosigkeit Betroffenen. Aber die massiv gestiegene Lebenszeit, die bessere Gesundheitsversorgung, der insgesamt unzweifelhaft gegenüber 1871/1918/1945 gigantisch gesteigerte materielle Wohlstand in Deutschland - bei allerdings zunehmender Verknappung der Ressource Lebenssinn –, begleitet mindestens im westlichen Teil des Landes von Jahrzehnten ungewöhnlicher politischer und ökonomischer Stabilität, ist als erstaunliches Positivum zu werten. Freude und Stolz müssten hier im Rückblick stärker dominieren als Klagen über weiter vorhandene Ungleichheiten.

Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft ist zudem wohl doch, anders als Wehler vorträgt, eine Tatsache. Nikolaus Sombart hat früh darauf hingewiesen: Das Verschwinden der Dienstboten, der livrierten Diener stand am Anfang dieser Epoche. Manager lassen möglicherweise ihre Boni-Milllionen im Lande arbeiten, aber sie leben, wohnen in der Mehrzahl eher wie andere Bürger auch. „Low profile“ ist doch das Motto bei uns, Reichtum wird kaum noch gezeigt, wird allenfalls diskret genutzt.

Noch 1980 nannte der oben erwähnte Sebastian Haffner das deutsche industrielle Management die „am härtesten arbeitende, einfallsreichste, mutigste Klasse überhaupt in Deutschland“. Wer würde das heute unterschreiben? Aber trifft es nicht noch immer auf die allergrösste Mehrheit gerade an der Spitze der vielen mittelständischen Betriebe zu? Im übrigen: Was wollen wir über eine Angleichung der Startchancen, eine höhere Durchlässigkeit unseres Sozialwesens hinaus? Was will Wehler, der den gewaltigen Zuwachs an Wohlstand ja nicht wirklich leugnet? Eine noch stärkere Umverteilung? Wollen wir wirklich die materielle Gleichheit? Alle Einkommen über die ominösen, in den jüngsten Notstandsgesetzen aufscheinenden 500.000 €uro verbieten, beschlagnahmen, steuertechnisch abschöpfen? Das wird ohne finanzpolitische Guillotine nicht gehen. Es gibt kein besseres Förderprogramm für den weiteren Exodus von Vermögen, Intelligenz und Leistungsbereitschaft nicht zuletzt in Richtung meiner schweizerischen Heimat. Schon jetzt freut man sich in Zürich am Paradeplatz in den Türmen von UBS und CS trotz der eigenen Fehlleistungen über einen weiter anschwellenden Kapitalstrom, meist übrigens ganz legal transferierter Mittel. Es war Brüning, der 1931, auf dem Höhepunkt der Bankenkrise, die Kapitalflucht, den Devisentransfer per Gesetz verbot, nicht Hitler. Soll das wiederkommen? Soll das weitergehen? Viele der wirklich Reichen haben das Land ja bereits längst verlassen, sehr zum Schaden der Volkswirtschaft. 

2. Es gibt merkwürdige Schlenker bei Wehler, etwa den Hinweis, Eichmann sei in Argentinien nicht verhaftet worden, obwohl der BND und die US-Dienste schon längst seinen Aufenthalt gekannt hätten – um Adenauers Staatssekretär Globke zu schützen. Bei dieser Verschwörungstheorie übernimmt Wehler die Darstellung des amerikanischen Historikers Timothy Naftali aus dem Jahre 2006 aber auch Teile der von Alfred Norden im MfS aufwändig inszenierte Kampagne gegen Globke, lässt ihn wiederholt in seinem Band als Negativsymbolfigur auftreten. Mit der Person Globke selbst hat sich Wehler nicht näher beschäftigt, macht an keiner Stelle Entlastendes geltend. Dass Globke etwa nie der NSDAP beigetreten ist, dass er im Krieg ein wichtiger Informant des Berliner Bischofs Kardinal Graf von Preysing und ein Mitwisser der Staatsstreichvorbereitungen durch Karl Goerdeler und Generaloberst Ludwig Beck gewesen ist, erfährt man an keiner Stelle. Auch die jüngsten, entlastenden Erkenntnisse der zeitgeschichtlichen Forschung zu Kurt Georg Kiesinger sind nicht bis zu Wehler vorgedrungen – dieser Kanzler bleibt Wehler vor allem NSDAP-Mitglied.

3. Wehlers Buch bietet Zeitgeschichte aus der „Vogel-Perspektive“ ohne jede biographiegeschichtliche Pointe. Geschichte in Geschichten, wovon etwa Barings „Machtwechsel“ so glänzend lebte, ist seine Sache nicht. Das führt zu merkwürdigen Glättungen. Verdeutlichen wir das am Beispiel Adenauer: Er kommt ja durchweg gut weg – autokratischer Patriarch, immer Herr der Lage, souveräner Entscheider usw.. Dies entspricht weniger dem Stand der Forschung als dem TV-Bild von Knopp u. Co. Völlig ausgeblendet werden etwa Adenauers Panikattacken oder die sich über Jahre hinziehende Agonie seiner Kanzlerschaft, die eigentlich mit dem Wahlsieg 1957 begann. Demoskopisch ging’s schon früher bergab, schon 1956 nach der Heimführung/Befreiung/Rückkehr der Kriegsgefangenen, dem einsamen Höhepunkt der „gemessenen“ Popularität, sanken die Popularitätswerte bis zum Abschied vom Amt. Erst danach ging’s wieder steil bergauf in der öffentlichen Wahrnehmung und Wertschätzung, steigerte sich weiter nach Adenauers Tod 1967.

Ausgeblendet bleiben bei Wehler alle Niederungen des politischen Alltags, die bitteren Kämpfe mit der Fraktion. 1959, auf dem Höhepunkt der Bundespräsidentenkrise, verbietet der Fraktionsvorsitzende Krone dem amtierenden Bundeskanzler in die eigene Fraktion zu gehen, die zu empört, zu aufgebracht über den lavierenden Kanzler ist, die tobt. Der lange, schlaksige Heinrich Krone fängt Adenauer vor dem Sitzungssaal ab, packt ihn am Arm und geleitet ihn rasch zu der schon vorsorglich bestellten Kanzler-Limousine, die den ziemlich Verdutzten zurückfährt ins Palais Schaumburg. Ein unglaublicher, bis heute einmaliger Vorgang. Adenauer lässt das mit sich machen.

Der bei Wehler durchweg souveräne Held der frühen Republik, der Katholik Konrad Adenauer fragt schon 1958, mit der absoluten Mehrheit im Rücken,  auf dem Weg  zu einer Parlamentssitzung den völlig verblüfften Bundestagspräsidenten und evangelischen Konsistorialrat: „Herr Gerstenmaier, wissen Se, wat für mich dat Fejefeuer is?“ Auf dessen staunende Verneinung: „Dat Fejefeuer is für mich, wenn ich in die Fraktion muss.“ Das meinte der Kanzler völlig ernst. Gerade in der Fraktion hat Adenauer bittere Niederlagen erlebt, nicht zuletzt bei der Nominierung des verachteten Nachfolgers Erhard, dessen Namen er tatsächlich – wie die meisten Deutschen auch – gelegentlich mit „dt“ schrieb, einfach, weil er sich innerlich so sehr gegen ihn sträubte; ein Fehler, den die Ministerialbürokratie natürlich in allen Kanzlerbriefen vor Absendung wieder zu tilgen wusste. 

4. Gerd Bucerius hat mir einmal gesagt: „Wissen Sie, der Adenauer war gar kein Marktwirtschaftler. Das gilt auch für die Mehrheit der Union. Der Adenauer hat den Gedanken des Wettbewerbs immer für gefährlich gehalten, hat ganz im Sinne der katholischen Soziallehre sich stets Sorgen um denjenigen gemacht, der im Wettbewerb scheitert. Dass das Scheitern zum Markt dazu gehört, hat ihm nie einleuchten wollen. Erhard war ihm auch deshalb völlig fremd. Er hat ihn nur machen lassen, weil er in ihm eine gefährliche Waffe gegen die SPD erblickte. Das war 1947/48 mutig, denn damals war alle Welt, waren auch Briten und Franzosen, partiell sogar die Amerikaner mit ihrer gewaltigen dirigistischen Kriegs- und Rüstungswirtschaft sozialistisch infiziert, für einen die Wirtschaft lenkenden Staat, waren für Bewirtschaftung und Kontrolle. 1950, am Beginn der Korea-Krise, als sogar die Amerikaner wieder die Bewirtschaftung in Deutschland einführen wollten, hätte Adenauer Erhard am liebsten gefeuert. Den hat damals nur gerettet, dass die Sozialdemokraten ihn so brutal angegriffen haben. Da musste sich der Kanzler mit dem umstrittenen Minister solidarisieren.“ Von alledem kommt bei Wehler wenig vor. Erhard ist ihm als Schlüsselfigur nicht wirklich in den Blick geraten, auch wenn er ihn etwa im Vorfeld der Rentenreform als wichtigen Bedenkenträger nennt, dessen Einwände sich im Lauf der Jahre übrigens alle als nur zu berechtigt erwiesen haben.

Tatsächlich war Erhard gerade in den Anfangsjahren ein überaus mutiger Mann, durchaus Thatcher und Reagan vergleichbar – aber wesentlich einsamer, isolierter in seiner Partei, deren Mitglied er formal tatsächlich erst 1963, kurz vor der Übernahme der Kanzlerschaft, wurde; die anders lautenden Unterlagen in den Parteiarchiven sind gefälscht. Getragen wurde Erhard vor allem von einer wachsenden Zahl von Wählern, die ihn trotz seiner bisweilen reichlich verschwurbelten Reden verehrten – und die Union seinetwegen wählten. Ohne ihn wäre Adenauer keinesfalls 14 Jahre Kanzler geblieben.

Erhards, im Zuge der brutalen Währungsreform 1948 mit Zustimmung der Amerikaner - und nicht gegen sie, das ist eine Propagandalegende aus dem Hause Erhard, der auch Wehler aufgesessen ist – verordnete, damals zunächst bittere Medizin des partiell freigegeben Wettbewerbs funktionierte bekanntlich nicht gleich. Die Preise und die Arbeitslosenzahlen stiegen, die Löhne hinkten hinterher. Im November 1948 riefen die Gewerkschaften in den Westzonen mit Unterstützung der SPD zum ersten und einzigen Mal bis heute zum Generalstreik auf – gegen den „neoliberalen“ Erhard und dessen Soziale Marktwirtschaft. Auf einigen Transparenten stand damals tatsächlich „Erhard an den Galgen“. Bei Wehler wird diese Dramatik nicht sichtbar.

1955 war das zweite deutsche Wirtschaftswunder – das erste schaffte Hitler in der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre durch seine auf Pump finanzierte gewaltige Aufrüstungswirtschaft – in vollem Gange. Die erbitterten Gegner des Erhardschen Modells auf Seiten der SPD usurpierten zwar nun nicht seine Politik, aber sie raubten das Etikett, nahmen der Union geschickt das Alleinstellungsmerkmal, machten bei allen grossen sozialpolitischen Entscheidungen von der Mitbestimmung bis zur Rentenreform trotz sonstiger Fundamentalopposition gemeinsame Sache mit der Adenauer-CDU. Nichts hat daher Erhard, so heftig ergrimmt, wie das ihm Ende der fünfziger Jahre aus demoskopischen Umfragen übermittelte Faktum, über 75 Prozent in der deutschen Bevölkerung seien der Auffassung, die „Soziale Marktwirtschaft“ sei ursprünglich eine Erfindung und Grundidee der SPD. Die Überzeugung, dass man auf Seiten der Sozialdemokraten - unterstützt von den Herz-Jesu-Sozialpolitikern in der Union - seine Konzeption durch immer weitere Überfrachtung der sozialen Komponente aushöhlen und am Ende zerstören werde, hat ihn nie verlassen. Deshalb hat er sich, selbst als es um seinen politischen Kopf und Kragen ging und ihm eine Grosse Koalition mit Wehners SPD eventuell das Kanzleramt erhalten hätte, erbittert – soweit er dazu überhaupt fähig war – gegen eine solche Kooperation gewehrt und ist auch darüber untergegangen.

5. Doppelleben weiten gelegentlich den Erfahrungshorizont. Ich bin zwar „ein Historiker aus Zehlendorf“, aber zugleich auch seit bald 25 Jahren tätig in einer 1929 in Köln gegründeten Verwaltungsgesellschaft mit derzeit 30 Mitarbeitern und noch mehr Familiengesellschaftern. Ein klassischer mittelständischer Betrieb also. Die Personalkontinuität ist hoch. Einer unserer Geschäftsführer hat 1953 (!) als Lehrling in der Buchhaltung angefangen und ist immer noch bei uns. Wer will, kann bis 70 mitarbeiten; Frühverrentungen sind selten. Ich erlebe in dieser Position von angeblich neoliberaler Deregulierung kaum etwas, dagegen unglaubliche Geschichten aus dem ökonomischen, dem unternehmerischen Alltag, die bei Wehler überhaupt nicht aufscheinen, staatliche Absurditäten, Regulierungen en masse, immer neue bürokratische Hürden. Und noch etwas: Wenn „wir“ als Mittelständler bauen, halten wir unsere geplanten Baukosten in aller Regel nahezu exakt ein. Wenn die öffentliche Hand, wenn „der Staat“ baut, sind Überschreitungen von 200, 300 ja 400 Prozent keine Seltenheit, jetzt gerade etwa wieder beim Ehrenmal für die Gefallenen auf dem Areal des BM für Verteidigung zu beobachten. Was ist los in einem Land, wo so etwas nahezu die Regel ist?

6. Auch Wehlers Text ist vom Virus der modischen Kritik am „Neoliberalismus“ infiziert, der sich nun allenthalben rasch auszubreiten scheint. Was dieses „Feindbild“ anlangt, bewegen wir uns allerdings zügig wieder in die Zwanziger Jahre und die Zeit der damaligen Wirtschaftskrise zurück. Im „unveränderlichen“ 25-Punkte Programm der NSDAP von 1920 ist der jüdische Spekulant eine Ausgeburt der wirtschaftlichen Hölle, gefordert wird die „Gewinnbeteiligung an Grossbetrieben“, die „Brechung der Zinsknechtschaft“, die „Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens“ durch Kapitalerträge. Schutz vor dem „raffenden, raffgierigem Kapital“ ist in der Frühphase der NS-Bewegung eine wichtige Forderung ebenso wie der Ruf nach dem Staat, der „in erster Linie verpflichtet ist, für die Erwerbs.- und Lebensmöglichkeiten der Staatsbürger zu sorgen“. Würde das heute nicht fast jeder im Lande unterschreiben? Erst mit Blick auf breite bürgerliche Wählerschichten dämpft Hitler in den dreissiger Jahren diese antikapitalistischen Ressentiments etwas. Allerdings wird der Berliner NS-Gauwirtschaftsberater Heinrich Hunke im Frühjahr 1933 dennoch öffentlich dazu aufrufen, „den Widerstand gegen den verhängnisvollen jüdisch-liberalen Geist in der Wirtschaft weiter zu wecken und zu organisieren“. Hitlers Vizekanzler Franz von Papen wird in seiner partiell regimekritischen Rede (der Verfasser Edgar Jung wurde wegen ihres regimekritischen Kerns von Hitlers SS-Schergen ermordet, Papen selbst wird die Rede in Nürnberg 1946 den Kopf retten) im Frühjahr 1934 gegen den „gottlosen Liberalismus“ wettern, der Deutschland ins nationale Unglück geführt habe.

Heute sind bei uns die Finanziers wieder des Teufels, werden „die“ Banker, „die“ Reichen zu neuen Verfemten. Auch ohne rasseantisemitisches Epitheton halte ich diese Entwicklung für fatal. Nicht nur Hexen-, auch Hexerjagden sind gefährlich. Natürlich ist vielfach Gier im Spiel. Aber ist die neu? Sollte daher nicht weiterhin der mittelalterliche Grundsatz Augustins gelten: „Wo alle loben, muss man prüfen. Wo alle anklagen, muss man prüfen“? Hat nicht der von der politischen Kaste, von Kanzlerin und Finanzminister scharf attackierte Herr Ackermann in jener Nacht, als die HRE vor dem Zusammenbruch stand, einen Anruf bekommen von eben jenem Herrn Steinbrück, der ihn öffentlich an den Pranger gestellt hatte? Die Bank möge, solle, müsse doch bitte 12 Mrd. Valuta am nächsten Tage auf das Konto der HRE transferieren! Dem Finanzminister sei es angesichts der Gremienwege nicht möglich, so schnell solche Summen zu bewegen. Die Bank mit Herrn Ackermann an der Spitze half, als - nomen est omen - „Deutsche Bank“. Öffentlich wurde es nicht.

Und die ominösen Salär-Zahlen? Werden sie nicht versteuert? Sind deshalb nicht bei allen genannten Zahlen rund 50 Prozent abzuziehen? Wer das nicht tut, betreibt Kampagnen und ist ein Heuchler obendrein. Ja, die Haftungsfrage ist gänzlich aus dem Blick geraten, Boni für grottenschlechte Resultate sind ein Skandal. Aber welcher Politiker haftet denn? Hat nicht die „classe politique“ von Steinbrück bis Lafontaine samt und sonders in den Aufsichtsgremien der Landesbanken katastrophal versagt, dort Milliarden an Steuermitteln vernichtet - ohne Reue, Entschuldigung, persönliche Konsequenzen? 

7. Das leitet über zu meinem letzten Punkt – der Lage der Staatsfinanzen, die Wehler breit behandelt und zu Recht als überaus besorgniserregend darstellt. Bezeichnend, dass der kluge Hans-Jochen Vogel hier den Strauss mimte, den Kopf in den Sand steckte, die entsprechende Passage partout nicht verstehen mochte, war er doch an dieser Fehlentwicklung in führenden Partei- und Regierungsämtern durchaus beteiligt. Tatsächlich hat die erste Grosse Koalition, besonders aber dann die Regierung Brandt das Tor zum Schuldenstaat weit aufgestossen. Brandts Nachfolger, der ökonomischen Gesichtspunkten ja durchaus zugängliche Helmut Schmidt hat mit Rücksicht auf die eigene SPD-Fraktion hier nicht entschieden genug gegengesteuert – das tat, wie Wehler ganz richtig unterstreicht, dann erst Helmut Kohl ansatzweise, bevor im Zuge der Wiedervereinigung alle finanzpolitischen Dämme brachen.

Grundsätzlich gilt für diese Republik in weiter wachsendem Umfang: Sie erkauft sich sozialen Frieden durch Transferleistungen, die zu nicht unwesentlichen Teilen auf Pump finanziert, also noch überhaupt nicht erwirtschaftet worden sind. Unsere gesamte politische Kaste - vielleicht mit Ausnahme von Teilen der FDP - tut dies, weil es der leichtere Weg ist, Ungeborene keine Lobby haben und alle Verantwortlichen harten Verteilungskämpfen aus dem Weg gehen wollen, die mit einer unmittelbaren, noch massiveren Abschöpfung aus dem Erwirtschafteten verbunden wären – und natürlich auch, weil die Leistungsträger ansonsten in Scharen das Land verlassen würden.

Bundespräsident Köhler hat im März 2005 eine Rede zur Lage der Republik gehalten, deren Zahlenwerk nahezu vollständig tabuisiert worden ist, weil es so unvorstellbar düster ausfiel. Er sagte damals: „Der aktuelle Schuldenstand (1,4 Billionen €uro) und die Anwartschaften in den Sozialversicherungen (5,7 Billionen €uro) belaufen sich in der Bundesrepublik auf insgesamt 7,1 Billionen Euro. Das entspricht 330 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Machen wir uns wirklich klar, welche Erblast das für unsere Kinder und Enkel bedeutet?“ Die Regierung der Grossen Koalition hat in ihren finanzpolitischen  Entscheidungen nicht den Eindruck vermittelt, um diese dramatischen Zahlen zu wissen, obwohl Frau Merkel bei der Rede Köhlers in der ersten Reihe sass. Im Land kennen sie nur die wenigsten.

Die jüngsten finanziellen Notstandsgesetze waren ohne Alternative. Wir können aber nur hoffen, dass diese Billionen-Bürgschaften niemals abgerufen werden. Denn sonst müsste man noch stärker um die  Staatsfinanzen und das Allegmeinwohl fürchten. Irgendwann wird ohnehin der Zeitpunkt kommen, an dem zweifelsfrei klar wird, dass man Feuer auf Dauer doch nicht mit Benzin löschen kann, bzw. grosse ökonomische Krisen fortwährend „à la Greenspan“ mit neuem, frischem Geld, für das die Steuerzahler und ihre Kinder und Kindeskinder einst werden aufkommen müssen. Langfristig wird der exorbitante Schuldenstand der Industriestaaten weiter ansteigen bis zum point of no return – Hyperinflation oder Staatsbankrott. „Das wird schon nicht passieren!“, ist derzeit allgemeine Auffassung, bis weit in den Haushaltsausschuss des Bundestags hinein. Doch einmal mehr erweist sich das menschliche Gedächtnis als kurz. Gab es nicht im vergangenen 20.Jahrhundert allein in Deutschland die entsprechende Inflationierung, gab es nicht drei Staatsbankerotte - 1923, 1945/1948 und 1989 in der DDR (die Inflation dort war zwar „preisgestoppt“, aber vorhanden) - sowie nahezu 100 Staatsbankerotte in der Welt? 

Ich bin daher überzeugt, der Jubel über den „Sieg des Staates“ und den Untergang einer sozial-liberalen Wirtschaftsordnung kommt zu früh. Der Staat tritt doch heute nur als letzter Garant für die Finanzsysteme auf, weil er über gesetzliche Zugriffsmöglichkeiten auf alle Steuerzahler verfügt, nicht etwa, weil er von Finanzgeschäften so viel versteht und gut mit Geld wirtschaftet. Unsere Politiker machen sich dabei in der Stunde des siegessicher vorgetragenen Triumphes und begleitet von wohlwollenden Fanfarenstössen der Publizistik nicht klar, dass unsere Systeme vom finanzpolitischen „overstretch“ mittlerweile genauso existenzbedrohend gefährdet werden wie einst die Sowjetunion durch ihre geo- und  machtpolitische Überdehnung. Es gehört dabei zu den Pointen der

Zeitgeschichte, dass auch untergegangene Imperien wie die UdSSR und ihre „Satrapie“, die DDR, noch zurückschlagen können, weil die von ihnen geprägten Mentalitäten fortwirken und heute ökonomisch-marktwirtschaftliche Grundkenntnisse in weiten Teilen der Bevölkerung und den Massenmedien  allenfalls in Spurenelementen vorhanden sind. Unterfüttert von der aktuellen Krise erhält der Ruf nach mehr Staat bei uns über die Linke hinaus bis weit in die politische Mitte hinein erstaunliche Schubkraft. Doch das erinnert an 1945 und die unmittelbaren Nachkriegsjahre. Damals schlug aber auch die Stunde Ludwig Erhards. Wer wird diesmal in seine Fusstapfen treten und den Weg hinaus aus dem Schuldenstaat und in eine weiterhin sozial unterfütterte, aber freiheitliche Marktwirtschaft weisen?

Der Autor lehrt Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. 1987 erschien von ihm die Studie "Kampf ums Kanzleramt - Erhard und Adenauer". Im Sommer 2009 erschien von ihm das Buch "Hertha unter dem Hakenkreuz - Ein Berliner Fussballclub im Dritten Reich".

Nachdruck in: Patrick Bahners / Alexander Cammann (Hg.): Bundesrepublik und DDR - Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte",  Beck`sche Reihe Bd.1915, München 2009, S.351-361

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.11.2009, Seite 34

 

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