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Politische Zeitgeschichte, ohne Schalldämpfer: Nachruf auf Arnulf Baring (1932-2019)

News vom 04.03.2019

Eine persönliche Begegnung ist mir nachhaltig in Erinnerung, wohl meine erste mit Arnulf Baring. In einer Diskussionsveranstaltung fand er die Tonlage der Jüngeren in der Gesellschaftskritik zu verhalten: Wir sollten doch mal den Schalldämpfer aus der Trompete nehmen.

Zuletzt war es um ihn selber stiller geworden; seine helle Trompete wird man nun nicht mehr vernehmen: Am 2. März verstarb Arnulf Baring, emeritierter Professor der Freien Universität Berlin, politischer Zeithistoriker und engagierter Begleiter des Weges der Bundesrepublik Deutschland, im Alter von 86 Jahren in Berlin. Markant und streitlustig war er – man spürte das Selbstbewusstsein einer internationalen, britischen und deutschen, viele Jahrhunderte überdauernden Familientradition. Aber er teilte diese Eigenschaften auch mit vielen Gleichaltrigen und wandte sie auf die Gesellschaftsordnung und den Staat an, in denen er seit 1945 aufwuchs und denen diese Generation ihren Stempel aufdrückte. Am 8. Mai – wie symbolisch, im Rückblick! – in Dresden geboren, überlebte er dort den Feuersturm der Luftangriffe und setzte alles daran, dass ein neues Deutschland nach dem Nationalsozialismus so werde wie die westlichen Alliierten, die das alte Deutschland besiegt hatten. Ja, er gehörte zu den Wenigen, die sich kulturell und in ihren persönlichen Präferenzen nicht auf entweder Amerika oder England oder Frankreich festlegten, sondern alles mitnahmen. Schon das Studium führte ihn nach New York, wo er an der Columbia University einen Masterabschluss erwarb, ebenso wie nach Paris. Weitere Aufenthalte, vor allem in den USA, bei Henry Kissinger in Harvard und später in Princeton, aber auch in Oxford am St. Antony’s College, kamen hinzu. Das spiegelte sich in seinem wissenschaftlichen Werk seit den 1950er Jahren: Einen „Chronisten der Westbindung“ hat ihn ein Schüler, der Journalist Jacques Schuster, in seinem Nachruf in der „Welt“ genannt.

Trotz dieser Internationalität blieb Arnulf Baring sein ganzes Leben Berlin – nein: dem Berliner Südwesten – verbunden. Abitur in Zehlendorf, Studium an der noch ganz jungen Freien Universität. Einer wie er zog natürlich in die Welt, kehrte aber immer wieder zurück. Vom Beginn des Studiums bis zur Emeritierung im Jahr 1998 kam so fast ein halbes Jahrhundert Freie Universität zusammen. Baring war Assistent am Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungswissenschaft und promovierte hier 1958 zum Dr. jur. Heute wird mehr von Interdisziplinarität gesprochen, aber disziplinäre Übergänge in der Karriere waren damals, bis in die 1970er Jahre hinein, leichter. Er wechselte an die Deutsche Hochschule für Politik, kurz vor ihrer Überführung in das Otto-Suhr-Institut, ging wieder nach Paris und für zwei Jahre zum Kölner WDR. Den Journalismus hatte Arnulf Baring zeitlebens im Blut, und dass die mediale Bühne ihn reizte, war kein Geheimnis. Nach dem Abtreten vom Katheder waren es immer mehr die großen Fernsehtalkshows. Aber er folgte dem klassischen Muster der akademischen Karriere und habilitierte sich 1968 an der Freien Universität mit einer Pionierstudie über „Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie“.

Von Harvard kam er 1969 nach Dahlem zurück und übernahm, als Nachfolger Ernst Fraenkels, dessen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl für Theorie und vergleichende Geschichte der politischen Herrschaftssysteme. Dass er sich an diesem Platz nicht ganz wohlfühlte, hatte wohl zwei ganz unterschiedliche Gründe. Mit seinem Vorgänger teilte Baring, der seit 1952 der SPD angehörte, die tiefe Skepsis gegenüber dem revolutionären Radikalmarxismus und der marxistischen Ausrichtung der Sozialwissenschaften an der Freien Universität. Anders als Fraenkel aber war Baring, trotz seines Jurastudiums, im Grunde kein systematisch-theoretischer Kopf; und seine Bücher wollte er schon gar nicht so schreiben, sondern eher aus den Quellen, mit historischer Tiefe und narrativem Spannungsbogen. So ließ er sich 1976 an den damaligen Fachbereich Geschichtswissenschaften und an das Friedrich-Meinecke-Institut versetzen, wo die Denomination seiner Professur „Zeitgeschichte und Internationale Beziehungen“ lautete. Wie der 2017 verstorbene Hans-Peter Schwarz, der jedoch disziplinär in der Politikwissenschaft blieb, gehörte Baring zu den prägenden Gestalten einer politischen Zeitgeschichte der Bundesrepublik, die sich trauten, das junge und seinem Selbstverständnis nach noch provisorische Staatswesen zu historisieren, während für andere die „Geschichte“ noch immer spätestens am Vorabend des 30. Januar 1933 endete.

Deshalb war für ihn ein ungewöhnliches Angebot äußerst verlockend, das er kurz nach seinem Wechsel ans Friedrich-Meinecke-Institut erhielt: Der damalige Bundespräsident Walter Scheel lud ihn ein, ein Buch über die jüngsten politischen Umwälzungen der Republik zu schreiben: drei Jahre volle Beurlaubung, Zugang zu allen Unterlagen des Bundespräsidialamtes. 1982 erschien „Machtwechsel: Die Ära Brandt-Scheel“, eine ebenso umfangreiche und fulminante wie spannend geschriebene Darstellung der Bonner Politik in den vibrierenden Reformjahren zwischen 1969 und 1974. Das Buch wurde ein Bestseller und vermag bis heute in den Bann zu schlagen. Sozial- und Strukturgeschichte oder theorielastige Einleitungen waren Barings Sache nicht. Aber seinen analytischen Verstand spürt man noch heute. Er wusste schon damals genau, dass Willy Brandt nicht nur über den DDR-Spion Guillaume gestolpert war und dass das Jahr 1974 einen tieferen Einschnitt als den eines bloßen Kanzlerwechsels markierte. Die Gründungszeiten des Optimismus, des Booms und der Machbarkeitsphantasien waren vorbei.

Die Einmischung in die aktuellen politischen Verhältnisse verlockte ihn seitdem immer mehr, erst recht nach der Wiedervereinigung. In seinen für ein breites Publikum geschriebenen Büchern reflektierte er vor historischem Hintergrund die Rolle Deutschlands in der Welt und die inneren Orientierungsprobleme der entstehenden Berliner Republik. Öfter mischten sich düstere, warnende Töne darunter. Manche sahen in ihm einen neuen Konservativen. Von der SPD hatte er sich tatsächlich entfremdet, wie so manche Intellektuelle seiner Generation; auf sein Engagement für Hans-Dietrich Genschers zu Kohl gewendete FDP in der Bundestagswahl von 1983 folgte der Parteiausschluss. Aber hinter der konservativen Kassandra und der Lust an der Provokation blieb er im Grunde fröhlich gestimmt und auf dem Kurs eines liberalen Atlantikers – eine Rolle allerdings, die unzeitgemäßer war als in den Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung.

Das Friedrich-Meinecke-Institut hatte in Arnulf Baring einen engagierten akademischen Lehrer, dessen Vorlesungen und Seminare nach vielfacher Beschreibung immer zum klaren Denken inspirierten – auch und von ihm aus sehr gerne im Widerspruch zum Professor. Die Freie Universität verliert mit Arnulf Baring einen manchmal unbequemen Wissenschaftler, der ihre Geschichte doch über Jahrzehnte mitgeprägt hat. Gerade in seiner Kantigkeit hat er die ebenso freie wie engagierte Grundhaltung dieser Universität in besonderer Weise vorgelebt.

 

Ein Nachruf von Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

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