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Gewalt und/oder Utopie. Kulturen des Musikhörens in Literatur und Musikphilosophie von 1850-1930

Das Projekt führt meine bisherigen Arbeiten zur Geschichte des Musikhörens fort, indem es zum einen den Untersuchungszeitraum bis ins erste Drittel des 20. Jahrhundert erweitert, zum anderen neben die Untersuchung gewaltförmiger Hörerfahrungen ein Fokus auf utopische Dimensionen von (Musik)hören tritt. Ausgangspunkt bleiben musikphilosophische und -kritische, insbesondere aber literarische Texte, die entsprechende Hörerfahrungen dokumentieren, reflektieren oder allererst etablieren. Konkret sollen zunächst Nietzsches und Wagners Musikphilosophien in ihrem zeitgenössischen Kontext, dann literarische und philosophische Texte der 1910er-30er-Jahre auf ihre Konstruktionen gewaltförmiger und utopischer Hörerfahrungen untersucht werden. Zugleich sollen die akustischen Dimensionen der Texte selbst in den Blick genommen werden. Es wird zu fragen sein, wie sich die Texte als akustische Artefakte zu ihren eigenen Behauptungen und zu einer rhetorischen Tradition verhalten, die seit der Antike über die Wirkungen der klanglichen Qualitäten geformter Sprache auf ihre Hörer reflektiert.

Durch den literaturwissenschaftlichen Fokus wird die grundsätzlich mediale, d.h. in diesem Fall textuelle Verfasstheit historischer Daten über das Hören und damit seine paradoxe Bindung an die Sprache sichtbar. Denn, ob Gewalterfahrung oder Utopie, in den Texten, die diese Dimensionen ausloten, wird die Wirkung von Klängen oft an ihrer scheinbaren Unmittelbarkeit, an einer direkten Verschaltung von Klang, Körper und Emotion festgemacht, die nicht den Umweg über die Kognition nehmen muss. Genau diesen Umweg stellen die Texte jedoch selbst dar und weisen die behauptete Dimension somit als sprachliches Konstrukt einer vorsprachlichen Kommunikation aus. Insofern stellen die literarischen Texte nicht nur wertvolle Quellen im Sinne einer literarischen Anthropologie dar sondern bieten sich zugleich als privilegierter Reflexionsraum der fiktionalen Dimensionen einer Geschichte des Hörens an. Damit soll jedoch nicht die Wirkmächtigkeit vieler dieser Konstruktionen bestritten sein; vielmehr ist diese im Projekt ebenfalls zu verfolgen – prominent ist etwa der Einfluss, den Nietzsches frühe Theorien über die Wirkungen von Wagners Musik auf das Hörverhalten der Wagner-Anhänger hatte.

DFG