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Sirenische Gesänge und ihre Medien. Wissensgeschichtliche und mediale Aspekte der Transformationen eines Mythos

Der antike Sirenenmythos besteht aus zwei Traditionslinien, die diametral entgegengesetzte Probleme des Hörens reflektieren. Die eine erzählt von der überwältigenden Macht des Sirenengesangs auf Emotionen und Willen des Hörenden und von den unterschiedlichen technischen Hilfsmitteln (Wachs, Ketten, Leier), die den Helden Odysseus und Orpheus eine Vorbeifahrt an der Sireneninsel ermöglichen. Zentrale antike Quellentexte sind die Odyssee und die Argonautika. Die Platonisch-Pythagoreische Traditionslinie hingegen erzählt vom göttlichen Vermögen des Pythagoras, dem als einzigem die Fähigkeit zugesprochen wird, die Sirenen der Sphärenharmonie zu vernehmen. In dem einen Fall dringt der Sirenengesang mit Macht in den Hörenden ein und bedroht seine Autonomie, der zweite Fall handelt gerade umgekehrt von der Kunst des Zuhörens an der Grenze des Hörbaren als Voraussetzung neuen Wissens. Die Fähigkeit, den Sirenengesang zu vernehmen, wird demnach einmal negativ als Gefährdung des Subjekts gewertet, im anderen Fall positiv als Bereicherung dargestellt. Nimmt man beide Traditionsstränge zusammen, so erzählt bereits der antike Sirenenmythos sowohl von der Bedeutung des Hörens für die Erkenntnis als auch von den mit diesem Sinn verbundenen Gefahren.

In der Literaturwissenschaft sind im Anschluss an die Interpretationen der homerischen Sirenen durch Adorno/Horkheimer und Maurice Blanchot in den letzten Jahren wichtige Arbeiten zur Funktion und Bedeutung dieser Sirenen in der Literatur entstanden; weniger beachtet wurde die Version in der Argonautika, nur vereinzelt wird auf die Sirenen der Sphärenharmonie Bezug genommen. Sirenen spielen zudem nicht nur in der Literatur, sondern auch in den modernen Wissenschaften, insbesondere in Hermann von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen (1863) eine entscheidende Rolle. Die der pythagoreischen Traditionslinie entstammende Sirene bezeichnet hier ein technisches Objekt, das der künstlichen Erzeugung von Tönen dient. Mit seiner Doppelsirene wollte Helmholtz die „alte Rätselfrage, die schon Pythagoras der Menschheit aufgegeben hat“, nach dem „Grunde der Consonanz“ auf der Basis einer Theorie des Hörens lösen. Dabei spielt die Kunst des Hörens an der Grenze des Hörbaren eine zentrale Rolle.

In meinem Projekt werde ich den Wechselbeziehungen zwischen literarischem, ästhetischem und naturwissenschaftlichem Wissen über das Hören unter Berücksichtigung der doppelten Traditionslinie des Sirenenmythos nachgehen. Der Sirenenmythos erfährt in der europäischen Literatur der Moderne, so die Ausgangsthese, sowohl eine wissensgeschichtliche als auch eine mediengeschichtliche Reaktualisierung: Einmal wissensgeschichtlich durch die Auseinandersetzung der Literatur mit dem neuen experimentalwissenschaftlichen Wissen zur Psychologie und Physiologie des Hörens – in diesem Zusammenhang ist die Sirenenepisode im Ulysses von James Joyce aufschlussreich. Zweitens und darauf aufbauend werden die Sirenen in literarischen Texten im Kontext der medialen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Reflexionsfiguren für Möglichkeiten und Gefahren unterschiedlicher Medien (Stimme/Schrift/Telefon). Hier spielt die Körperlichkeit der Stimme und ihre Wirkung auf die kognitiven Funktionen und Emotionen des Hörers (homerische Traditionslinie) ebenso eine Rolle wie die Frage nach den Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen Geräuschen und Klängen (pythagoreische Traditionslinie).

DFG