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CFP: Labor, Archiv, Kommission. Carl Stumpfs Berliner Wissenspraxen und ihr erkenntnistheoretischer Hintergrund

Internationale Carl Stumpf Tagung 2016

Veranstaltet vom Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und der Carl Stumpf Gesellschaft

Berlin, 23. bis 25. September 2016

Deadline für Themenvorschläge mit abstract: 15. Mai 2016

http://www.carl-stumpf.de/start.html

News vom 04.04.2016

Vor 80 Jahren, am 25. Dezember 1936, verstarb in Berlin der bedeutende Philosoph, Psychologe, Begründer des Berliner Phonogramm-Archivs (seit 1999 im UNESCO-Register Memory of the World) und herausragende Forschungsorganisator Carl Stumpf. Anlässlich dieses Jubiläums richten das Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und die Carl Stumpf Gesellschaft eine gemeinsame Tagung aus.

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Die Wahrnehmung von Carl Stumpf ist in den einzelnen Fächern, die er zusammen- führen wollte, höchst verschieden: In der Philosophie – also der Disziplin, mit der sich der Wissenschaftler identifizierte – gilt er als ein Wissenschaftler, der phänomenologisch argumentierte, aber quer zum akzeptierten Verständnis der Phänomenologie steht und mit seiner Zuwendung zur Tonlehre ein schwer zu überschauendes Arbeitsfeld eröffnet hat. Zudem schlägt das Psychologismus-Verdikt durch, das in ungerechtfertigter Weise auf ihn angewendet wird. In der Psychologie konnte sich bereits die von Herbart über Franz Brentano führende Linie nicht behaupten, die Stumpfsche noch viel weniger, da er zu einem Zeitpunkt immanenter innerfachlicher Differenzierungen zwischen 1900 und 1930 um die Entwicklung einer integralen Position bemüht war. In der Musikwissenschaft gilt Stumpf als Referenzautor im Kontext der Begründung der vergleichenden Musikforschung und Gestaltpsychologie; selten jedoch wird nachvollzogen, welche Funktion Stumpfs Zuwendung zur akustischen Wahrnehmung innerhalb seiner Entwicklung innehatte.

Die jüngst vorgelegten Arbeiten zur wissensgeschichtlichen Ausstrahlung und zur Bedeutung von Stumpf, vor allem auch die kommentierten Biographien und Aus- gaben zentraler Texte Stumpfs, nicht zuletzt die Tagungen der Carl Stumpf Gesellschaft, konnten diese Rezeptionslage bereits korrigieren. Sie legen vor allem nahe, wie produktiv es ist, die philosophisch konsistent begründeten Konzepte Stumpfs zu erschließen und weiterzuführen. So könnten nicht-reduktionistische Positionen in aktuellen empirischen Forschungen, insbesondere in der musikalischen Kognitionsforschung, gestützt und weiter ausformuliert werden. Hier ergeben sich Verbindungen zu den Critical Neurosciences, die Stumpf jedoch nach gar nicht für ihr Projekt entdeckt haben.

Eine Arbeitshypothese der Tagung besteht darin, dass die gegenwärtige empirische Kognitionsforschung mit anspruchsvollen Konstrukten (Wahrnehmung, Empfindung, Emotion) operiert, die philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser Kategorien allerdings nicht explizit ausweist. Hier wäre zu diskutieren, inwieweit nicht von Stumpfs Phänomenologie her zu dem heute in Philosophie und Neurologie viel diskutierten Qualia-Problem neue und weiterreichende Zugänge zu gewinnen sind (vgl. dazu einen demnächst auf den Veranstalter-Seiten einsehbaren online-Beitrag von Margret Kaiser-el-Safti).

Die geplante Tagung möchte ergründen, wie sich die erkenntnistheoretischen Überzeugungen Stumpfs im Wechselspiel mit seinen verschiedenen beruflichen Szenarien und Datenpraxen herausbildeten. Das psychologische Labor ist seit der Etablierung der experimentellen Psychologie der wichtigste Ort der Hypothesenbildung und Datengewinnung. Es zeitigt eigene technische Aufschreibesysteme und Wissensprozeduren. Während des 1. Weltkriegs wurden diese um kriegsrevelante Forschungen über das Richtungshören und die U-Boot-Ortung erweitert.

Das Archiv – hier ist das von Stumpf begründete Berliner Phonogramm-Archiv gemeint – schafft die Voraussetzung für corpus-basierte systematische und völkervergleichende Untersuchungen. Stumpf setzte hier, auch im Vergleich zu zeitgleich stattfindenden internationalen Phonogrammarchiv-Gründungen, ganz eigene Akzente. Von einem musikalischen Phonogramm-Archiv versprach sich Stumpf grundsätzliche Einblicke in menschliches Urteilsverhalten, aber auch in die kulturgeschichtliche Genese der abendländischen Tonkunst.

Im Rahmen der leitenden Tätigkeit Stumpfs in der interdisziplinär besetzten Phonographischen Kommission (1914-1920), die Sprach- und Musikaufzeichnungen in den deutschen Kriegsgefangenenlagern des 1. Weltkriegs unternahm, werden weitere Forschungsambitionen greifbar, so das Zusammenwirken unterschiedlicher medialer und dokumentarischer Aufzeichnungsmodi (Fragebogen, Tonaufnahme, Aufnahmeprotokoll, Photographie, Liedtext und Übersetzung, Kommentar, Archivierung). Sie berühren forschungsorganisatorische und forschungspolitische Aspekte, so die Staatsnähe der Wissenschaften und die damit verbundene Wissenschaftsgläubigkeit, aber auch die Vision einer lückenlosen Dokumentation der musikalisch-sprachlichen Vielfalt der Kulturen der Welt. Die Kommission gab über 2600 Sprach- und Musikaufnahmen in Auftrag.

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Folgende Kernfragen werden auf der Tagung debattiert: Wie ragen die in Form von Labor, Archiv und Kommission institutionalisierten Wissenspraxen in die Ausgestaltung des erkenntnistheoretischen Projekts von Carl Stumpf hinein? Erhält es dadurch stärkere ‚angewandte‘ Akzente? Verleihen sie den empirisch- phänomenologischen Aspekten eine größere Anschaulichkeit und Relevanz? Inwieweit beeinflusst der Medienwechsel hin zu phonographischen Quellen das Konzept von Wahrnehmung und Empfindung und die Philosophie und Psychologie insgesamt? Hat Stumpf mit diesen Ergebnissen aktiv bei der Darlegung der theoretischen Psychologie argumentiert? Oder stehen sie für Differenzierungen, die aus der Eigenlogik von Institutionen resultieren, so dass die dort erzeugten Daten nur in einem mittelbaren Verhältnis zu Stumpfs philosophischen Überlegungen stehen? Verschieben die beleuchteten Praxen das Verhältnis von diagrammatischer, datengestützter Argumentation und diskursiver philosophischer Erläuterung? Welche Impulse können für die aktuelle Theoriebildung und die Fundierung empirisch-experimenteller Forschung gewonnen werden?

Umgekehrt gefragt: Inwieweit haben erkenntnistheoretische Maximen Stumpfs die Arbeit in Labor, Archiv und Kommission beeinflusst? Die Frage nach den Berliner Wissenspraxen lenkt die Aufmerksamkeit auf eventuelle lokale Besonderheiten. Bot Berlin besondere Motivationen und Ressourcen? Von wem gingen Zentralisierungsbestrebungen der Forschung aus? Welche institutionellen und politischen Interessen ragen in die Sphären von Psychologischem Institut/Labor, Phonogramm-Archiv am Psychologischen Institut und Phonographischer Kommission hinein?

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Eingeladen sind Beiträge zu den hier skizzierten Themen und Forschungsfragen, insbesondere zum Verhältnis der epistemischen, empirischen und forschungsorganisatorischen Dimensionen. Besonders erwünscht sind Beiträge, die Stumpfs wissenshistorische Einbettung mit Fragen nach der Ausgestaltung dieser Dimensionen in den Forschungskulturen der Gegenwart verknüpfen und beispielsweise ein Verbindung zum Qualia-Problem herstellen.

Ausdrücklich ermuntert werden Präsentationen zu aktuellen wissenschaftlichen Projekten mit Tagungsbezug ebenso wie strukturierte Vorschläge zu thematischen Panels.

Bitte senden Sie Ihre Themenvorschläge mit abstract bis 15.Mai 2016 in elektronischer Form an die beiden verantwortlichen Veranstalter, s.u.

Die Veranstalter geben Ihnen bis 15. Juni 2016 Nachricht, ob Ihr Beitrag bzw. Panel angenommen wird.

Eine Publikation der Beiträge in der im Peter Lang Verlag erscheinenden Schriftenreihe der Carl Stumpf Gesellschaft bzw. eine online-Publikation ist geplant.

 

PD Dr. Martin Ebeling

1.Vorsitzender Carl Stumpf Gesellschaft

Email: mar.ebeling@arcor.de

 

Prof. Dr. Sebastian Klotz

Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft

Email: sklotz@hu-berlin.de

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DFG