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Die Geburt der Geschichtswissenschaft: Thukydides als Historiker wider Willen?

26.06.2014

Christian Wendt

Die Geburt der Geschichtswissenschaft: Thukydides als Historiker wider Willen?

 

Der Vortrag setzte sich zum Ziel, die häufig gestellte Frage nach der Einordnung des thukydideischen Werks neu zu verfolgen, um ohne zu intensiven Rückgriff auf schon klassisch zu nennende Forschungsdiskussionen den derzeitigen Stand des athenischen Autors in der internationalen Wissenschaftslandschaft zu verdeutlichen.

Ein kurzer Einblick in die vornehmlich politikwissenschaftliche, aber auch philosophische Rezeption des Thukydides als des Urahns der Forschungen zu den „Internationalen Beziehungen“ und als politischen Theoretikers sollte verdeutlichen, daß keineswegs die Altertumswissenschaften die den internationalen Diskurs um den athenischen Autor prägenden Stimmen geblieben sind, ja teils die Wahrnehmung des Thukydides häufiger anderen Strängen als ausgerechnet dem historisch-philologischen Ansatz folgt und daß dementsprechend eine primäre Einordnung als Historiker keinesfalls als communis opinio gelten kann.

Nach einer knappen Einführung in die uns nur bruchstückhaft nachzuvollziehende Biographie des Thukydides leitete der Vortrag zur Kernfrage nach der Werkintention über. 1847 stellte Barthold Georg Niebuhr fest: „Der erste eigentliche wahre Historiker nach unserem Begriff ist Thukydides in jeder Hinsicht; so wie er der vollkommenste Historiker ist unter allen, die je geschrieben haben, so ist er auch der erste, er ist der Homer der Geschichtsschreibung.“

So galt Thukydides im 19. Jahrhundert – und bereits vorher – als die Quintessenz des wissenschaftlichen Historikers, des Wahrheitssuchenden, dessen Bericht vom Peloponnesischen Krieg unbedingt Glauben zu schenken sei; die sich formierende akademische Disziplin der Geschichtswissenschaften konnte sich auf die unumschränkte Autorität des Meisters berufen und so ihre eigene Legitimation unterstreichen. Mittlerweile haben sich Stimmen gemehrt, die das Werk auch im historischen Kontext anders betrachten, etwa die vorgebliche Objektivität des Atheners hinterfragen bzw. die Korrektheit der Darstellung anzweifeln. Beispielhaft wurden Loraux (samt ihrer berühmten Aussage „Thucydide n’est pas un collègue“ aus dem Jahr 1982), Connor (der Thukydides‘ literarische Komposition stärker in den Mittelpunkt stellt), Stahl (mit dessen Beiträgen zur Annäherung des Thukydides an die Tragödie), Cornford (der sogar vom Mythistoricus, also dem Geschichtsfälscher spricht) und Badian (mit dem vernichtenden Zitat „Thucydides is not supposed to have believed the story he told“) angeführt, um zu zeigen, daß Wert des Werks und die Suche nach seiner Zielsetzung selbst innerhalb der historischen Zunft äußerst kontrovers beurteilt werden.

Hermann Strasburger fragte 1982: „Wenn wir darüber nachdenken, was Thukydides unter Geschichte verstand, dürfen wir die Vorfrage nicht übergehen, ob „Geschichte“ eigentlich sein Gegenstand sei“. Von dieser Frage ausgehend, interpretierte der Vortrag die einschlägigen Passagen Thuk. 1,1 sowie 1,22f. in ihrer Aussage für die Vorstellung, die Thukydides von Wesen und Wert der Geschichte entwickelt; dabei wurde die These aufgestellt, daß angesichts der Wortwahl (etwa anhand der Begriffe xynegrapse und xunkeitai) die Vergangenheit den Rang des zu analysierenden Materials zugewiesen bekommt, dessen Behandlung entscheidend für die vordringliche Aufgabe des Adressaten ist: den Umgang mit zukünftigen Herausforderungen. Die genaue Kenntnis des Vergangenen sowie dessen akribische Analyse findet stets unter dem Vorzeichen statt, generalisierungsfähige Erkenntnisse über das menschliche Handeln zu gewinnen, das Thukydides zufolge aufgrund der Konstanz der menschlichen Natur auch künftig – zumindest in weiten Teilen – berechenbar sein werde.

Damit gerät die Geschichte also in den Rang einer unumgänglichen Hilfswissenschaft, eines notwendigen logischen Schritts innerhalb eines größeren analytischen Modells. Denn erst die Wertung des Materials nicht um seiner selbst willen, sondern um seines Werts für den Blick in die Möglichkeiten der Zukunft, also der politischen Gestaltung der Welt, ist der Ansatz, der Ergebnisse in den Rang einer bedeutsamen Erkenntnis hebt. Insofern ist Thukydides nicht nur der Zukunft „nicht weniger als der Vergangenheit ... zugewandt“ (nochmals Strasburger, allerdings bereits 1954), er etabliert eine eindeutige Hierarchie zugunsten des Kommenden. Daß der Peloponnesische Krieg groß, in den Augen des Thukydides der größte war, rechtfertigt allein noch keine Befassung; erst die Tatsache, daß er damit als exemplum dienen kann, das die tragédie humaine zu erklären und künftig besser zu handhaben hilft, verleiht ihm seinen Wert.

In diesem Punkt scheint Thukydides sehr nahe an unserem Instituts- und natürlich Forumsnamensgeber Friedrich Meinecke, der in seinem Aufsatz von 1928 über „Kausalitäten und Werte in der Geschichte“ folgende Selbstdefinition der historischen Arbeit gab:

       „Aber nicht nur nach solchen allgemeinen Kategorien wählt der Historiker seinen Stoff aus, sondern nach dem lebendigen Interesse, das er an ihrem konkreten Inhalt nimmt. Er faßt ihn als mehr oder minder wertvoll auf, das heißt er wertet ihn.“

Was hier noch äußerst werte- und kulturbejahend klingt, ist dabei doch das Eingeständnis, daß der Stoff erst durch den Interpreten Wert und Gehalt entfaltet. Ein Historiker im thukydideischen Sinn hingegen wirkt stets wider Willen, da er das Material immer auf seine Relevanz zu überprüfen hat, anstatt ihm freudig und positivistisch einen Rang sui generis einzuräumen; damit ist die Geburt der Geschichtswissenschaft mehr als das Beharren auf einer kritischen und akkuraten Arbeitsweise, sogar mehr als die Suche nach der historischen Wahrheit, sie beruht auf der Wesensbestimmung nicht der Geschichte, wie Strasburger formulierte, sondern des Historikers, der die Bedeutung geschichtlicher Phänomene zu erkennen und zu verdeutlichen hat. Für Thukydides ist die Zeichnung der Zukunft (so in 1,138), die Prognose, das entscheidende Merkmal des großen politischen Geistes – dies auf der Basis historischer Einsichten zu erreichen ist Maxime, und somit ist jeglicher politische Denker genötigt, sich als Historiker zu betätigen oder immerhin sich des Historikers zu bedienen. Insofern muß jede Historikerin und jeder Historiker wissen, was sie oder er tut, wenn sie oder er sich auf Thukydides als den Urahn der Profession, der man sich verschrieben hat, beruft.