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"Er hat die Oikumene der römischen Herrschaft unterworfen": Bemerkungen zu den Raumvorstellungen in der Zeit des Augustus

05.06.2015

 

In Vergils Aeneis, dem römischen Nationalepos, verleiht der Göttervater Iuppiter den Römern „eine Herrschaft ohne Grenzen“, ein imperium sine fine (1, 279) sowohl in zeitlicher als auch geographischer Hinsicht (1, 278: nec metas rerum nec tempora). Ähnliche Behauptungen finden wir auch bei anderen Dichtern des augusteischen Zeitalters. Ein grenzenloses Imperium Romanum – eine Herrschaft über die gesamte Welt! Wenn wir uns eine moderne Karte vor Augen halten, erscheinen uns solche Aussagen doch stark übertrieben, ja sogar fern jeder Realität zu sein.

Vor diesem Hintergrund können wir uns eine ganze Reihe von Fragen stellen: Wie erklärt sich diese offensichtliche Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Wie konnten die Römer behaupten, die Herren der Welt zu sein, wenn ihr Reich nur unwesentlich größer war als das ihrer außenpolitischen Rivalen, der Parther? Ist das „nur“ mit einer ignoranten geopolitischen Weltsicht oder mit Propaganda zu erklären, wie man oft in einschlägigen Publikationen liest?

Meine Antwort auf diese Fragen lautet, dass der Kern dieses Problems in einer von uns heute verschiedenen Raumwahrnehmung besteht. Kurz gesagt, versuche ich nachzuweisen, dass die Römer Großräume in einer „nicht-kartographischen“ Weise erfassten und beschrieben. Sie taten dies vielmehr in Form von Texten, in denen die verschiedenen Völker, Regionen, Orte usw. nicht (karto-)graphisch, sondern narrativ oder tabellarisch geordnet waren.

Dass eine solche Erklärung schon a priori nicht unwahrscheinlich ist, ergibt sich zunächst aus der Tatsache, dass wir praktisch keine Karten aus der Antike erhalten haben. Die ganz wenigen Ausnahmen sind entweder künstlerische Repräsentationsobjekte (wie der sog. Schild von Dura-Europos, die Mosaikkarten und die sog. Forma Urbis) oder schematische Weltkarten, die von Geographen wie Eratosthenes oder Ptolemaios für wissenschaftliche Zirkel angefertigt worden. In der römischen Alltagspraxis – also in Fragen des Reisens, der Navigation oder auch der Schule – wurden keine Karten verwendet.

Um den Nachweis zu führen, dass sich auch die geostrategischen Kenntnisse, Entscheidungen und Proklamationen der römischen Eliten im Umfeld des Augustus entweder ganz oder zumindest in hohem Grad aus einer nicht-kartographischen Raumerfassung erklären lassen, stütze ich mich vor allem auf die berühmten res gestae des Augustus. Weil der Princeps den „Tatenbericht“ am Ende seines Lebens in eigener Person verfasst hat, lässt sich wohl kein Text finden, der besseren Aufschluss über den Zusammenhang von augusteischer Außenpolitik und römischer Raumauffassung gibt.

Auch wenn es sich nicht mit letzter Sicherheit beweisen lässt, dass bei den geostrategischen Planungen des Princeps und seines Umfelds Karten keine Rolle gespielt haben, wird doch aus der Art und Weise, wie in den res gestae Räume konstruiert und beschrieben werden, eines deutlich: Zumindest dann, wenn sich Augustus an die Öffentlichkeit wandte, benutzte er einen nicht-kartographischen Modus der Raumbeschreibung, nämlich das weit verbreitete hodologische Modell. Dabei nutzt er die Stärken und Schwächen dieses Systems virtuos aus. Durch geschicktes „name-dropping“ konstruiert er auf Grundlage eines damals gut bekannten Rasters, das auf den Historiker Ephoros (4. Jh. v. Chr.) zurückgeht, einen „hodologischen Raum“. Die Eckpunkte dieses Rasters werden systematisch besetzt und mittelbar oder unmittelbar mit den außenpolitischen Leistungen des Augustus in Verbindung gebracht. Weil das Modell gegenüber Größen und Distanzen relativ unempfindlich ist, kann es über die realen Ausmaße der Oikumene und ihrer Teile – einschließlich des Imperium Romanum – nur eine unzureichende Anschauung liefern. Umgekehrt ist das Modell bestens geeignet, um „innere“, binnenländische Grenzen zu minimieren, weil nur die Anfangs- und Endpunkte genannt sind. Im Grunde existiert nur die vom Weltmeer, dem Okeanos, definierte "Weltgrenze". Alles innerhalb davon, also die Oikumene bzw. der orbis terrarum, sind in einer solchen Sichtweise „grenzenlos“. Es ist, vergilisch gesprochen, ein imperium sine fine.

Die Behauptung des Augustus und der augusteischen Dichter, dass die Römer über die gesamte Oikumene herrschten, ist aus der hodologischen Perspektive weit weniger überzogen, als uns heute scheint. Es ist also vor allem unsere heutige kartographische Perspektive und Erfahrung, die uns Sätze wie den vom imperium sine fine als "reine Propaganda" erscheinen lassen.