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Frühmittelalterliche Staatlichkeit im Lichte der Governance-Forschung

14.11.2014

Was im Folgenden vorgestellt wird, ist im Kontext von Forschungen entstanden, die seit 2010 im Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ durchgeführt werden. Dort fragen Politologen, Historiker, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler, die vereint sind in ihrem Zweifel an der Letztgültigkeit des Modells des „modernen Staates“, danach, wie in Gegenwart und Vergangenheit unter variierenden Bedingungen von „Staatlichkeit“ staatliche Leistungen, z.B. in den Bereichen Sicherheit, Recht und Wohlfahrt, erbracht werden. Der Zugriff ist also ein funktionaler, d. h. es wird danach gefragt, wie staatliche Leistungen erbracht werden, und zwar, und das ist entscheidend, keineswegs nur durch staatliche Funktionäre, sondern durch Non-Governance-Organizations (NGOs), durch Public-Privat-Partnerships (PPPs) usw. Dieser Fragenkomplex wird bevorzugt untersucht für sog. Räume begrenzter Staatlichkeit, d. h. für Regionen, in denen die Reichsweite staatlicher Institutionen vor vornherein begrenzt ist oder diese infolge von Veränderungen ihre Durchsetzungsfähigkeit eingebüßt haben (sog. „failed states“). Entsprechend stehen eher „weichere“ Formen der Steuerung im Mittelpunkt, die bei der Erbringung staatlicher Leistungen unter solchen Bedingungen an Boden gewinnen.

Mit der Aufgabe der Letztgültigkeit des „demokratischen Rechts- und Interventionsstaates“ (kurz: DRIS) als dem finalen Fluchtpunkt aller staatlichen Entwicklung ergeben sich nun auch gänzliche neue Blicke auf die älteren Epochen, namentlich das Mittelalter. Die Zeit des Übergangs von der Antike zum Mittelalter scheint geradezu wie dafür geschaffen, die genannten Fragestellungen zu untersuchen: Was geschieht, wenn eine ausgeprägte staatliche Ordnung – nämlich diejenige des spätrömischen Imperium – zerfällt und auseinanderbricht, und sich auf den Trümmern der römischen Reststaatlichkeit neue, kleinräumigere und offenkundig anders funktionierende Formen von Staatlichkeit herausbilden? Dies ist insofern eine neue Fragestellung, als man die Eigenart frühmittelalterlicher Staatlichkeit lange Zeit als Import aus dem Norden, d. h. als Einführung vermeintlich germanischer Vorstellungen von Staatlichkeit erklärt hatte. Von dieser ethnisch, vor dem Hintergrund des modernen Nationalstaates begründeten Betrachtungsweise kann man sich in erfrischender Weise emanzipieren, wenn man danach fragt, wie bestimmte staatliche Leistungen im Zeichen eines womöglich sogar gezielten Prozesses des Rückbaus antiker Staatlichkeit im Frühmittelalter erbracht wurden.

Drei Untersuchungsgebiete wurden und werden dabei beackert. Einen ersten Schwerpunkt bildet die planmäßige Zerlegung antiker Staatlichkeit im Frühmittelalter durch Prozesse der Delegation. Untersucht wird hier, wie z. B. das antike Steuerwesen und z. T. auch die Gerichtsbarkeit gleichsam teilprivatisiert wurden, indem bestimmten nicht-staatlichen Funktionsträgern, z. B. einzelnen Klöstern, aber eben auch loyalen Gefolgsleuten gleichsam als Aufwandsentschädigung für ihre treue Dienste staatliche Aufgaben delegiert wurden, so dass diese Funktionen in der Gerichtsbarkeit und Erhebung von Abgaben erhielten. Man kann damit z. B. gut erklären, warum in den grundherrschaftlichen Registern der Karolingerzeit „privatrechtliche“ Abgaben (z. B. Zinse) und „öffentliche Leistungspflichten“ (z. B. bestimmte Transportdienste, Militärdienste usw.) nebeneinander begegnen. Die lästige Frage, was hieran „öffentlich“ und was „privat“ ist, erklärt sich historisch viel einfacher, wenn man die schrittweise Delegation hoheitlicher Aufgaben an nicht-staatliche Funktionsträger verfolgt, was diese – wie im Falle der Kirchen und Klöster – in gewisser Weise zu quasistaatlichen Unternehmern machte. Auch in der modernen Staatlichkeit gibt es so etwas in Gestalt der sog. Beleihung, d. h. der Übertragung gewisser öffentlicher Aufgaben in der Form eines Vertrages an „Unternehmer“: Der Staat übernimmt hier nicht selbst die Erfüllung der Aufgabe, aber aufgrund der Übertragung von Hoheitsbefugnissen verbleibt ihm ein erhebliches Steuerungspotential gegenüber dem eingeschalteten nicht-staatlichen Akteur. Schon der Begriff der „Leihe“ ist dem Mediävisten natürlich bestens vertraut, findet er seine Epoche ja nicht allzu selten als „Lehens-„ oder man könnte auch sagen „Leihezeitalter“ beschrieben. Und wenn man im Frühmittelalter Prozesse untersucht, in deren Verlauf immer mehr Dinge – also auch genuine Hoheitsaufgaben wie die Rechtsprechung – an lokalen Potentaten verliehen wurden, was diese zu „Rechtsstaatlichkeits-Unternehmern“ werden ließ, so lässt sich auch viel plausibler erklären, welche Folge das für die betroffene Bevölkerung hatte, die sich nicht selten gerade dadurch erheblichen Bedrängungen ausgesetzt sah.

Ein zweiter Schwerpunkt gilt der „Funktionalität und Dysfunktionalität frühmittelalterlicher Geldstrafen“. Der strafrechtshistorischen Forschung gilt die Epoche des Übergangs von der Antike zum Mittelalter als Zeitalter des Wandels vom peinlichen Strafrecht des spätantiken Staates zum gelockerten Strafrecht des frühen Mittelalters, für das eher Geldstrafen charakteristisch waren, die beispielsweise für Tötungsdelikte üblich waren. Auch diese Entwicklung ist mit nachlassenden staatlichen Garantien und sinkenden Durchsetzungsmöglichkeiten staatlichen Handelns gegenüber familiären und anderen Verbänden erklärt worden – also die Wiederkehr von Fehde und Selbsthilfe. Der Governance-Ansatz ermöglicht es dagegen, die Logik des Geldes zu ergründen: Welche Konflikte lassen sich mit Geldstrafen vielleicht sogar besser lösen als mit peinlichen Strafen? Untersuchungsgegenstand ist hier vor allem das frühmittelalterliche Wergeld, also die Buße, die für die Tötung eines Menschen an dessen verwandte zu entrichten war. Es konnte dabei gezeigt werden, dass ein Teil des Geldes an diejenigen Akteure ging, die eine Konfliktlösung auf monetärem Wege vermittelten. Die „Monetarisierung“ von Bußen und Strafen erscheint daher als eine anreizstimulierende Strategie, in Zeiten begrenzter staatlicher Interventionsmöglichkeiten gleichsam auf monetärem Wege die Beilegung von Konflikten zu gewährleisten und die Verbindlichkeit rechtlicher Vereinbarungen zu erhöhen. Die Höhe der für die Tötung, Verletzung und Beleidigung einer Person zu entrichtenden Geldbußen wurde dabei nach ethnischer Herkunft (Franken, Burgunder, Römer, Alemannen etc.), Geschlecht und Familienstand sowie ständischer Position (Sklaven – Freie – Funktionsträger – königliches Gefolge, Kleriker – Laien) differenziert. Ebenso wurden in Privatverträgen dieser Zeit sehr häufig Konventionalstrafen zugunsten des Fiskus ausgesetzt, um ggf. offizielle Funktionsträger zur Intervention zu bewegen. Auf diese Weise konnte mit einem auf Geldstrafen basierenden Sanktionssystem eine höhere Form von Rechtsverbindlichkeit geschaffen werden als dies mit peinlichen Strafen der Fall gewesen wäre – diese hätten nämlich die solche Strafen verhängenden Autoritäten leicht selbst zum Opfer von Fehdehandlungen machen können.

Und schließlich geht es um die Änderung der Mechanismen zur Herstellung von Legitimität in Zeiten des Umbruchs – und zwar am Beispiel der Rolle und Funktion des promissorischen Eides im Übergang von der antiken zur mittelalterlichen Staatlichkeit. Man kann beobachten, dass im Frühmittelalter viel mehr rechtliche Normen durch Eide, d.h. durch Mechanismen der Selbstbindung begründet wurden. Weil die Institutionen, welche die Geltung bestimmter Normen in antiker Zeit garantierten, an Bedeutung verloren hatten oder sogar ganz verschwunden waren, mussten sich die Leute persönlich auf die Einhaltung bestimmter Normen verpflichten, und sie taten dies, indem sie bei zahlreichen Gelegenheiten Eide schworen – z. B. dem König oder Herrn einen Treueid, aber auch Schwureinungen sind hierzu zu rechnen, die im Frühmittelalter entstanden, Friedensschwüre, die Bekräftigung aller möglichen Rechtshandlungen durch Eide usf. Diese „Kultur des Eides“ setzte einerseits einen gemeinsamen religiösen Kosmos der Begründung von Werten und Verbindlichkeit voraus, ist also in engstem Zusammenhang mit dem religiösen Charakter der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu denken. Andererseits ist in der Möglichkeit, über den Eid die persönliche Selbstverpflichtung als Legitimationsressource zu nutzen, auch das Potential enthalten, die politischen und sozialen Beziehungen in stärkerem Maße als „kontraktuell“ bestimmt aufzufassen, aber wir befinden uns hier natürlich erst am Beginn der Epoche, an deren Ende man dann Vorstellungen wie „Herrschafts-„ und „Gesellschaftsvertrag“ begegnet. Gleichwohl wird das erst durch die frühmittelalterlichen Entwicklungen verständlich.

Die Fragestellungen und Erklärungsansätze der Governance-Forschung ermöglichen, Eigenheiten der politischen Kultur des Mittelalters aus der historischen Entwicklung und nicht aus dem nicht zu beweisenden Walten zeitloser germanischer Verfassungsprinzipien zu erklären. Zugleich wurden auch die Veränderungen gegenüber der antiken Staatlichkeit konkret beschrieben und in ihren langfristigen Folgen thematisiert. Und in dieser Richtung geht es nun weiter, wenn für den Zeitraum des 9. bis 11. Jahrhunderts versucht wird, die Kirche als „Ko-Produzent“ von Staatlichkeit zu untersuchen. Dabei geht es mittlerweile um die Frage, welche Normen im 9. Jahrhundert sowohl von kirchlichen als auch von weltlichen Instanzen sanktioniert wurden (also das Nebeneinander von Geldbußen und der Exkommunikation – „Acht und Bann“ nannte man das früher), und welche Rolle das Element der religiös begründeten Selbstbindung in den frühen Gottesfrieden spielte, als um das Jahr 1000 erneut die staatlichen Garantien nachließen und man auf lokaler Ebene über die eidliche Selbstverpflichtung zum Frieden eine Art kommunale Ordnung zu begründen begann.

 

Stefan Esders