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Friedrich Meinecke: Neues zu seinem Leben und Werk

19.12.2014

Gisela Bock

Friedrich Meinecke: Neues zu seinem Leben und Werk

 

Der Vortrag begann mit einigen Gründen, warum man sich immer noch oder erneut für Friedrich Meinecke interessieren kann, dessen 150. Geburtstag im vorigen Jahr und dessen 60. Todestag im kommenden Jahr stattfindet. Erstens war er als Historiker und Mensch keine einfache Person; immer noch wird er erforscht (kürzlich erschienen zwei Dissertationen über ihn), eine Gesamtbiographie gibt es noch nicht, und in dem 2012 erschienenen 10. Band seiner Werke gibt es viel neues Material. Zweitens war er nicht nur bedeutend, sondern wurde auch international berühmt, nämlich seit seinem Werk Weltbürgertum und Nationalstaat (1908). Drittens war er, obwohl vierzig Jahre lang Herausgeber der Historischen Zeitschrift (HZ), keineswegs ein Repräsentant der damaligen Histori­kerprofession, sondern im Gegenteil: wissenschaftlich war er in hohem Maße ein Außenseiter (die Ideengeschichte, die er begründete, machte keineswegs Schule) und politisch ein Dissident: aufgrund seines Liberalismus, seines Engagements als Republikaner seit 1918, seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und seines erneuten Engagements nach dem Krieg, etwa als Autor von Die deutsche Katastrophe (1946), worin er als erster deutscher Historiker die Ursachen des Nationalsozialismus zu analysieren suchte, und seit 1948 als Rektor (1949 Ehrenrektor) der Freien Universität Berlin. Schließlich war er keineswegs bloß ein borussischer Historiker, sondern befasste sich mit der Geschichte eines halben Jahrtausends und vieler europäischer Länder und der USA.

 

Der zweite Teil des Vortrags ging über „Meinecke, Juden und Frauen“. Als akademischer Lehrer zog Meinecke viele Menschen jüdischer Herkunft an; seine Lehrveranstaltungen an der Berliner Universität nannte man geradezu „Judenschule“. Von diesen Menschen waren wiederum viele Republikaner und Demokraten, und auch viele nichtjüdische Mei­necke-Schüler entstammten diesem politischen Lager. Schließlich förderte Meinecke auch Frauen: ein Fünftel seiner rund hundert Doktoranden waren weiblich, was für damalige Verhältnisse und auch noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts höchst ungewöhnlich war. Einige von ihnen wurden in dem Vortrag vorgestellt (darunter die frauenbewegte Frances Magnus-Hausen sowie Elisabeth Schmitz, die 1935 als Mitglied der Bekennenden Kirche eine eindrucksvolle Denkschrift gegen die Judenverfolgung verfasste), außerdem einige von Meineckes jüdischen Schülern: Franz Rosenzweig, dessen Dissertation bei Meinecke im Jahr 2010 erneut publiziert wurde; der Philosoph Ernst Simon und der Archivar Alex Bein, die nach Palästina emigrierten. Der einstige Berliner Emigrant Adolf Leschnitzer wurde 1951 aufgrund von Meineckes Initiative aus den USA als Gastprofessor an die FU berufen, wo er – als erster Dozent für Geschichte der Juden und des Antisemitismus in der Bundesrepublik – zwanzig Jahre lang unterrichtete. Viele von Meineckes jüdischen Schülern emigrierten ab 1933, und auch unter ihnen gab es manche Frauen: etwa Johanna Philippson, Historikerin der jüdischen Geschichte, und Hanna Koby­lin­ski, die später eine Mitarbeiterin von Fritz Bauer werden sollte. Lisa Eppenstein hingegen wurde 1942 bei Lublin ermordet.

 

Ebenfalls nicht überlebt hat Hedwig Hintze, die 1942 im niederländischen Exil starb. Sie war zwar von Geburt an Protestantin, hatte aber jüdische Eltern, und ihr eigentlicher Lehrer war nicht Meinecke, sondern Otto Hintze, der seit 1912 ihr Ehemann war. Meinecke war 1926 bei ihrer Berliner Promotion Erstgutachter, und 1928 habilitierte sie sich, gegen teils scharfe Einwände von Berliner Kollegen (darunter der Mediävist Albert Brackmann), die sich gegen ihre politische Überzeugung als engagierte Sozialistin richteten. Bald vertraute Meinecke ihr die Berichterstattung in der HZ über die Literatur zur Französischen Revolution an (das Thema ihrer beiden Qualifikationsschriften). Im Mai 1933 teilten nun Meinecke und der HZ-Mitherausgeber Brackmann (dieser stand inzwischen auf seiten des NS-Regimes) Hedwig Hintze brieflich mit, dass ihr „als politisch besonders belastete Persönlichkeit“ jene Aufgabe entzogen werden müsse. Der Hintergrund: Frau Hintze hatte bei einem Arztbesuch bestritten, dass die Kommunisten am Reichstagsbrand schuld seien; prompt folgte eine Hausdurchsuchung beim Ehepaar Hintze und man beschlagnahmte ihre Skizzen über „Revolutionen in der Weltgeschichte“. Zu Unrecht wird Meinecke heutzutage vorgeworfen, dass er Hedwig Hintze „entlassen“ (oder gar von der Universität ausgeschlossen) habe, weil sie Jüdin gewesen sei; aber weder war sie das (jedenfalls nicht in Meineckes Augen), noch war ihre jüdische Abstammung der Grund für das Geschehen, noch hatte sie eine Stelle bei der HZ innegehabt. Wohl aber stand Meinecke unter dem Druck der bevorstehenden Gleich­schal­tung der HZ (auch durch Brackmann) und suchte deshalb, einen politisch neutralen Charakter der HZ zu behaupten. Dass schließlich vier Monate später das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (vom April) mit seinem „Arierparagraph“ auf alle Privatdozenten jüdischer Herkunft, darunter viele Meinecke-Schüler, angewandt wurde, sie also ihre Rechte verloren, obwohl sie keine Beamten waren, hatte mit Mei­neckes Haltung und Handeln im Mai 1933 nichts zu tun.

 

Der dritte Abschnitt des Vortrags behandelte unter dem Titel „Schuld und Schande“ das Jahrzehnt von 1936, als Meinecke auf seiner Reise in die USA die Ehrendoktorwürde der Harvard-Universität erhielt und sich für ein gegen den Nationalsozialismus gerichtetes Plädoyer des Präsidenten Roosevelt für „freedom of thought“ und gegen das „modern witchburning“ begeisterte, bis 1945, als er eben dieses Plädoyer in sein Buch Die deutsche Katastrophe aufnahm. Nachdem er das Manuskript im Herbst abgeschlos­sen hatte (zur selben Zeit begann der Nürnberger Prozess), entwarf er ein Geleitwort für die HZ, deren Erscheinen 1944 abgebrochen worden war (erstmals publiziert ist es in dem erwähnten 10. Band seiner Werke). Angesichts des berechtigten Vorwurfs, dass „wir“ eine „große Schuld an dem über uns gekommenen Verhäng­nis“ zu tragen haben, gelte es, „strenge Kritik an uns“ zu üben, insbesondere seitens der „deutschen Geschichtswissenschaft“: Sie stehe vor „der schwersten Aufgabe, die ihr je gestellt worden ist, unsere Vergangenheit und zumal unsere jüngste Vergangenheit zu durchforschen nach den Ursachen des Verhängnisses.“ Doch als die HZ 1949 wieder erschien (ohne Meinecke), enthielt das neue Geleitwort nichts mehr von „Schuld“.

 

Ebenso eindeutig benennt Meinecke auch im Katastrophen-Buch die deutsche Schuld. Abwegig und unseriös ist die Behauptung, mit „Katastrophe“ habe er die Niederlage des Nationalsozialismus gemeint und beklagt. In beiden Texten werden Antisemitismus und „Judenhass“ verurteilt; das „Rassen­dog­ma“ wird als Kern des Nationalsozialismus und als eine Art „Welterlösungs“-Religion analysiert. Meinecke artikuliert seinen Abscheu allerdings mit Begriffen, die spätere Historiker hierfür kaum mehr verwenden würden. Und doch behandelt das Katastrophen-Buch nicht die antijüdischen Maßnahmen und jüdischen Opfer des Nationalsozialismus (auch das wird Mei­necke heute oft vorgeworfen). Zu bedenken ist hierbei jedoch zweierlei. Zum einen konnten die ersten seriösen Bücher zu diesem Thema (von jüdischen Historikern wie Hannah Arendt, Gerald Reitlinger und Joseph Wulf) erst nach vieljährigen Recherchen und in den 50er Jahren erscheinen. Zweitens ist Meineckes Buch eines über die Deutschen als Täter, zum Teil auch über die Deutschen als Opfer, nämlich als schuldige Opfer ihrer eigenen Taten: Das macht den Doppelcharakter des Buches aus, der immer wieder das Verständnis verwirrt. Respekt aber erfordert es, dass Meinecke – anders als viele deutsche Historiker nach ihm – den Deutschen nicht nur ihre Schuld, sondern auch ihre Schande vorhielt, als er über Konzentrationslager und Massenmord schrieb: „Das Dritte Reich war nicht nur das größte Unglück, das dem deutschen Volke in seiner Geschichte widerfuhr, sondern auch seine größte Schande.“