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Lehrer! - Schüler? Friedrich Meinecke und Eberhardt Kessel

06.11.2015

 

 

Ludwig Biewer

Lehrer! – Schüler? Friedrich Meinecke und Eberhard Kessel.

Vortrag, gehalten im „Meinecke-Forum“ am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin am 6. November 2015

 

Eberhard Kessel, geboren in Hannover am 1. April 1907 und gestorben in Mainz am 17. Januar 1986, wurde 1962 als Ordinarius für Mittlere, Neuere und Neueste Geschichte von der Philipps-Universität zu Marburg an der Lahn an das Historische Seminar der Johannes Gutenberg-Universität zu Mainz berufen, wo er fortan hauptsächlich die Neueste Geschichte vertrat. Weit über seine Emeritierung hinaus lehrte er noch bis 1985. In der Lehre war er sehr breit aufgestellt. Der Schwerpunkt seiner eigenen Forschung lag in der preußischen Geschichte, was bei seiner Lehrtätigkeit nicht so ausgeprägt war. Unter den Studentinnen und Studenten war er, der immer viel verlangte und leider ein schlechter Redner war – ihm kam es in der Wissenschaft immer auf den Inhalt, nicht auf die Form eines gefälligen Vortrags an! –, wenig beliebt und wurde eher gemieden. Eine Schule hat er nicht gebildet und wollte dies auch nicht. – Kessel, glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder, hatte viele Ecken und Kanten, die er auch spüren ließ, war aber gleichwohl im Grunde ein hilfsbereiter, humorvoller und bisweilen sogar liebenswürdiger Mensch. Das Diktum vom weichen Kern in einer harten Schale traf auf ihn voll und ganz zu. Sein Leben richtete er an den drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, an den vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung sowie an preußischen Tugenden wie Pflichterfüllung. Bescheidenheit, Toleranz, Selbstdisziplin und Unbestechlichkeit aus.

Nach dem Abitur studierte Kessel in Leipzig und Berlin seit 1925 Geschichte, Klassische Philologie und Philosophie und wurde an der Berliner Universität 1930 von dem Mediävisten Albert Brackmann zum Dr. phil. promoviert. Zu ihm scheint er kein engeres Verhältnis aufgebaut zu haben, wohl aber zu einem anderen seiner akademischen Lehrer, nämlich zu Friedrich Meinecke (1862-1954), dem Begründer der politischen Ideengeschichte und wichtigsten Vertreter der Geistesgeschichte sowie des Historismus. Meinecke, der über Geschichtsordinariate in Straßburg und Freiburg im Breisgau 1914 nach Berlin gekommen war, war Kessels wichtigster akademischer Lehrer. Der hoch angesehene und einflussreiche Geheimrat lud den jungen Mann, der im Wintersemester 1927/28 erstmals mit ihm in Kontakt kam, alsbald zu sich nach Hause zum Tee ein. Fortan fühlte sich Kessel immer in Übereinstimmung mit dem großen Lehrer, auch wenn es zu intensiven Gesprächen unter vier Augen erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam. Im Gefolge Meineckes wurde Kessel zeitlebens ein bedingungsloser Befürworter des Historismus. Für Lehrer und Schüler war die Bewertung einer jeden historischen Epoche ‚hin zu Gott‘ (Ranke) eine Selbstverständlichkeit. Historismus war für Kessel nicht nur eine Methode oder Sehweise der Geschichtswissenschaft, sondern eine Lebensform. In diesem Sinne beeinflusste der Schüler sogar den Lehrer, auch wenn der das aus der ihm eigenen Bescheidenheit nicht so werten wollte. Wichtig ist auch, dass Kessel wie sein Lehrer aus Vernunftgründen ein Anhänger der demokratischen Weimarer Verfassung war. Meinecke zog auch mit seiner fruchtbaren und tiefgehenden Beschäftigung mit der Geschichte Preußens Kessel in seinen Bann. Folgerichtig war es, dass in den 1950er Jahren Kessel einer der Herausgeber von Meineckes Werken wurde.

Nach 1928 war Kessel zunächst wissenschaftlicher Assistent und dann Stipendiat der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ (heute: Deutsche Forschungsgemeinschaft). 1926 wurde er von Walter Elze mit einer Studie zur Schlacht bei Torgau von 1760 zur Habilitation geführt, durfte aber unter dem Nationalsozialismus nicht lehren. Im Kriege fand er dann ein bescheidenes Auskommen bei der Kriegswissenschaftlichen Abteilung des Generalstabes in Potsdam. Das war nur folgerichtig, da Kessel viel zu militär- und kriegsgeschichtlichen Fragen arbeitete, ohne je „nur“ Militärhistoriker zu sein. – Nach dem Ende von Krieg und Schreckensherrschaft 1945 und amerikanischer Kriegsgefangenschaft fand Kessel 1946 zunächst als Privatdozent und 1954 endlich als außerplanmäßiger Professor Anstellung an der Philipps-Universität zu Marburg an der Lahn, wo er eher einen schweren Stand hatte. Erst acht Jahre später folgte die Berufung auf einen Lehrstuhl.

Von Kessel zahlreichen Veröffentlichungen sind sein umfassendes Buch „Zeiten der Wandlung“ (1953) hervorzuheben sowie seine großen Biographien über den älteren Moltke (1957) und Wilhelm von Humboldt (1967). Erst viele Jahre nach dem Tod des Gelehrten erschien sein wohl beeindruckendstes Werk „Das Ende des Siebenjährigen Krieges 1760 bis 1763“, 2 Teile 2007. Es ist der Schlussband des schon in den 1830er Jahren begonnenen Generalstabswerkes über die Kriege Friedrichs des Großen. Die Druckvorlage hatte Kessel 1945 in zwei Exemplaren abgeschlossen, musste aber annehmen, dass sie wenige Tage vor Kriegsende noch Opfer der Bomben geworden waren, was er mit stoischer Gelassenheit hinnahm. Nach 1990 tauchte gänzlich überraschend das dem einst dem Heeresarchiv zum Druck vorgelegte Exemplar aus dessen Beständen wieder auf und konnte vom damaligen Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA) erfolgreich zum Druck gebracht werden. Für den immer zurückhaltenden und bescheidenen Gelehrten, einen Stillen, aber doch Großen der Zunft, der viele Zurücksetzungen, gerade zur Zeit des Nationalsozialismus, hatte verkraften müssen, wäre das eine große Genugtuung gewesen.