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Fragment: Ps 9,15–18,6: Ms. or. fol. 707

Entstehungsort: Aschkenas, assyrische Quadratschrift, deutsche Hand

Entstehungszeit: 13. Jahrhundert

Beschreibstoff: Pergament

Umfang: 1 Blatt

Format: h38,5xb27,5 cm

Zustand: durch Wurmfraß, Risse und Leimspuren stark beschädigt; ein Riss durch gesamtes Blatt mit weißem Faden genäht (Naht beinahe vollständig aufgelöst); Ränder beschnitten; Schrift teilweise abgerieben und durch Leim in Auflösung begriffen; das Blatt ist in der Mitte gefaltet

Seiteneinrichtung: drei Kolumnen mit je 37 Zeilen

Inhalt: Ps 9,15–13,6 und 13,6–18,6, unvokalisiert und ohne masoretischen Kommentar

Entstehung und Provenienz der Handschrift: Accessionsnummer 10981 oben mit Tinte auf Blatt notiert; Zettel (3,5x3,5 cm) mit der Aufschrift: „Erfurter Handschr. X“ oben rechts auf Blatt geklebt

Johann Christian Wilhelm Diederichs widmete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei Jahre den Erfurter Bibelhandschriften und legte nach zweijährigem Studium der Manuskripte seine Ergebnisse 1775 in der Abhandlung Specimen variantium lectionum codicum Hebraicorum MSS. Erfurtensium in psalmis vor. Die Dissertationsschrift behandelt in erster Linie die Lesarten von 83 Psalmen, wobei ihm das Erfurter Psalmen-Fragment als Quelle von Varianten zum Bibeltext diente. Johann David Michaelis, der Großneffe des Johann Heinrich Michaelis, berichtet im Jahre 1772, dass Diederichs nach Erfurt ging, „um daselbst die Codices zu conferiren“. Dabei kam es zu Unannehmlichkeiten für Diederichs’, die Michealis nur andeutet: „Das Evangelische Ministerium erzeigte ihm, blos mit Ausnahme des Herrn Frorieps, alle mögliche Willfertigkeit: doch den Streit mag er selbst einmal erzählen, denn ich würde nur nachsagen können, was ich aus seinen Briefen weiß; und unangenehmes sage ich ungern nach.“ (Michaelis, Orientalische und exegetische Bibliothek, Frankfurt am Main 1772, Teil 3, S. 209) Diese Schwierigkeiten hingen möglicherweise noch mit der Weigerung des Evangelischen Ministeriums zusammen, die Handschriften nach Göttingen zu überführen und dem Studium Michaelis’ zu überlassen. Der Erfurter Professor für Theologie und Morgenländische Sprachen Just Friedrich Froriep riet wohl nicht ganz uneigennützig von der Verleihung der Handschriften nach Göttingen ab, da er sich selbst mit den Textvarianten der Hebräischen Bibel beschäftigte und kaum Interesse verspürte, ohne weiteres so wichtiges Quellenmaterial seinem Konkurrenten Michaelis zu überlassen.

Paul de Lagarde berichtet von diesem Fragment mit einer ausführlichen Inhaltsangabe und der Bemerkung, dass er „im Codex A“, womit wahrscheinlich die große Bibelhandschrift Ms. or. fol. 1210/1211 gemeint ist, einen „halbe[n] bogen“ mit Notizen Diederichs vorgefunden habe. Diese auf den 20. Oktober 1773 datierte Aufzeichnung enthielt die von Diederich bemerkten Textvarianten.

Lagarde nimmt an, dass das Fragment aufgrund seiner großen Anzahl von Varianten, die er als Schreibfehler interpretiert, vom Schreiber ausgemustert wurde, noch bevor der Punktator seine Arbeit aufnehmen konnte. Das Blatt sei, „weil es mehr schreibfehler enthielt, als gesetzlich in einem bibelcodex auf Einer seite radiert werden durften“, verworfen worden und aus einer Geniza stammend „vielleicht erst durch Deutsche als Vorsatz auf einem buchdeckel“ gelandet. nach Bellermann klebte es auf dem Einband des Machzor (Bellermann, De bibliothecis et museis Erfordensibus, Teil VIII, S. 5f). Doch Michaelis zitiert in seiner Darstellung von Diederichs zusammengetragenen Varianten der Psalmen Diederich selbst, der keinen Zweifel über die Herkunft des Fragments offenlässt. Diederich berichtete seinem Lehrer aus Erfurt:


„Ausser den vier berümten Handschriften der hebräischen Bibel auf der Bibliothek des evangelischen Ministerii in Erfurt, befinden sich daselbst auch noch verschiedene andere alte Hebräische und Rabbinische Manuscripte, unter welchen vorzüglich der Commentarius des Raschi, in zwey großen Folianten, merkwürdig ist. […] Dieser erste Codex nun ist hinten mit einem großen Pergament Blatte angeleimet, welches ich auf Erlaubnis des Herrn Seniors Besler von der dicken Holzschaale abtrennen durfte, und worauf ich das nun zu beschreibende Hebräische Pergament entdeckte. Es ist aus den Psalmen, fängt Psalm IX,5 an, und gehet bis Ps. XVIII,6 wo es mit dem Worte שאול aufhöret.“ (Michaelis, „Von nunmehr zu Ende gebrachter Vergleichung der Erfurtischen Codicum durch Herrn Diederichs“, 239f)


Es kann sich hier nur um den Einband des Raschi-Kommentars Ms. or. fol. 1221 handeln, da das Fragment für den zweiten Raschi-Kommentar Ms. or. fol. 1222 mit einer Blattgröße von 30x24,5 cm zu groß ist. Der jetzige Einband der Handschrift ist 1871 mit vier weiteren Einbänden in Erfurt erneuert worden. Ob das Fragment von jüdischer oder christlicher Hand auf den vorherigen Einband gelangte, lässt sich heute nicht mehr sagen.

Das Blatt ist derzeit – wie Andreas Lehnardt im Zuge seiner Einbandforschung entdeckt hat – in einer Sammlung von Fragmenten aufbewahrt, die von Einbänden in Darmstadt gelöst und 1874 in die Königliche Bibliothek zu Berlin gelangten. In dem Katalog hebräischer Handschriften von Steinschneider aus dem Jahre 1878 ist das Fragment aus Erfurt nicht als Teil dieser Fragmente-Sammlung erwähnt. (Steinschneider, Verzeichnis der hebräischen Handschriften, Bd. II, 34, S. 13) Wahrscheinlich kam es mit den Erfurter Handschriften 1880 nach Berlin und wurde erst dann Ms. or. fol. 707 hinzugefügt – ohne es in den Katalog aufzunehmen.

Bibliographie: Johann Christian Wilhelm Diederichs, Specimen variantium lectionum codicum Hebraicorum MSS. Erfurtensium in psalmis, Göttingen 1775; Johann David Michaelis, „Von nunmehr zu Ende gebrachter Vergleichung der Erfurtischen Codicum durch Herrn Diederichs, und Nachricht von einigem, was er noch sonst von Handschriften gefunden hat“, in: Orientalische und exegetische Bibliothek,Göttingen 1781–1785, Bd. VI, S. 238–247; Johannis B. De Rossi, Variae Lectiones Veteris Testamenti ex immensa Mss. Editorumq. Codicum Congerie Haustae, Parma 1784–1787, Bd I, Nr. 95, cxxxiv; Johan J. Bellermann, De bibliothecis et museis Erfordensibus, praecipue de Rev[erendi] Ministerii Aug[ustanae] Conf[essionis] Bibliotheca, Erfurt 1800–1803, Teil 8, S. 5; Adolph Jaraczewsky, Die Geschichte der Juden in Erfurt, Erfurt 1868, S. 116; Paul de Lagarde, „Hebräische Handschriften in Erfurt“, in: Symmicta, Göttingen 1877, Nr. 2, S. 161–162; Andreas Lehnardt, „Chartulae Hebraicae“: Mittelalterliche jüdische Handschriftenfragmente in Erfurter Bibliotheken“, in: Erfurter Schriften zur jüdischen Geschichte (Band 3: Zu Bild und Text im jüdisch-christlichen Kontext im Mittelalter), Erfurt 2014, S. 142–165.


Zitierempfehlung: Annett Martini, "Handschriftenbeschreibung", in: Die hebräischen Handschriften der Erfurter Sammlung (2018), URL: www.geschkult.fu-berlin.de/e/erfurter_sammlung/dokumentation/handschriftenbeschreibung/fragment.index.html