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Band 49: Medien II (2016)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee

Titel
Band 49: Medien II
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee
Mitwirkende
Arne Bartzsch / Werner Pfennig, Birgit Wienand, Alexander Pfennig, Daniel Schumacher, Marvin Martin, Hoon Jung
Art
Text

Reformierung von „Meinungsfreiheit“ und Medien

 

Arne Bartzsch

in Zusammenarbeit mit Werner Pfennig, Birgit Wienand,

Alexander Pfennig, Daniel Schumacher und Marvin Martin

 

 

 

 

„Ich glaube, noch nie und auch nicht in den demokratischsten und freiheitlichsten Staaten der Welt, hat es sowas gegeben, was jetzt bei uns passiert.“

(Aus einem Leserbrief an die Ostsee-Zeitung vom 2. November 1989)

 

„Der Fall der Berliner Mauer ist das erste welthistorische Ereignis, das als Folge der vorauseilenden Verkündung durch Presse-Agenturen, Fernsehen und Hörfunk eintrat.“

(Hans-Hermann Hertle)

 

 

Meinungs- und Pressefreiheit in der DDR nach KSZE

Am 1. August 1975 unterschrieben 35 Staaten in Helsinki die KSZE-Schlussakte. Unter den Unterzeichnerstaaten befanden sich sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Deutsche Demokratische Republik. Die Schlussakte war das Ergebnis einer Folge von Konferenzen der europäischen Staaten sowie der USA, Kanadas und der Sowjetunion zur Zeit des Ost-West-Konfliktes. Sie war ein wesentlicher Meilenstein der Entspannungspolitik Anfang der 1970er Jahre.

Alle großen Zeitungen des Warschauer Pakts, einschließlich des SED-Zentralorgans "Neues Deutschland" in der DDR, veröffentlichten den gesamten Wortlaut der Schlussakte. Zum ersten Mal hatten Millionen Menschen im real existierenden Sozialismus ein Dokument in der Hand, das ihnen ihre verbrieften Rechte bescheinigte und auf das sie sich berufen konnten. Von besonderer Bedeutung war für sie die Thematisierung der Menschenrechte:

„Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließ­lich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungs­freiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten. Sie werden die wirksame Ausübung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie der anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind, fördern und ermutigen.“[1]

Zahlreiche Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und Osteuropa beriefen sich auf die Verein-barungen der Schlussakte, beispielsweise die "Solidarność" in Polen und die "Charta 77" in der Tschechoslowakei. Man forderte politische Liberalität, echte Mitbestimmung, Trans-parenz und Meinungsfreiheit. Ende der 1980er Jahre zeigte sich auch die sowjetische Führung unter ZK-Generalsekretär Gorbatschow diesen Rechten aufgeschlossen und proklamierte „Perestroika“ (Umgestaltung) und „Glasnost“ (Offenheit, Transparenz) als Schlüsselbegriffe für die Reformierung des Sozialismus. Sie standen für eine gewisse Lockerung der ideolo-gischen Kontrolle über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der Wunsch nach freier Meinungsäußerung und Information als Grundlage öffentlicher Kommunikation wurde zur elementaren Antriebsfeder des Wandels. Und Viele, wie etwa der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer, in den achtziger Jahren einer der Anführer des zivilen Widerstands in der DDR, sind überzeugt: "1989 wäre nicht passiert, wenn es 1975 nicht gegeben hätte."[2]

Die Anerkennung von Meinungs- und Pressefreiheit war in der DDR durchaus rechtlich verankert. In Artikel 27 der zuletzt gültigen Verfassung von 1968 hieß es:

"(1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. (2) Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet." (Dokument Nr. 2)

In der öffentlichen Realität der DDR allerdings war eine freie Wahrnehmung dieser Rechte nur möglich, sofern man dabei nicht von der Doktrin der regierenden Sozialistischen Einheits-partei Deutschlands (SED) abwich. Dies galt sowohl für die Äußerung von Meinungen und die Verbreitung von Informationen als auch für deren Rezeption. Von zentraler Bedeutung waren hierbei die Medien mit ihrer Funktion der kommunikativen Vermittlung.

Medien bzw. Presse (Druckmedien, Rundfunk und Fernsehen) galten als die „schärfste Waffe der Partei“. Sie wurden durch den SED-Parteiapparat gesteuert und waren geprägt von Kontrolle und Zensur. Die SED bestimmte Themenwahl und Umfang bzgl. medialer Infor-mation. Über die Allgemeine Deutsche Nachrichtenagentur (ADN) hatte sie das Monopol für die Berichterstattung aus dem Ausland. Der Verkauf und Vertrieb von Druckmedien war staatlich reglementiert. Redaktionen und Redakteure wurden überwacht, inhaltliche Verstöße gegebenenfalls durch „Papierkontrolle“[3] gemaßregelt, oder Veröffent­lichungen komplett verboten. Relevante Positionen in Rundfunk- und Fernsehanstalten wurden nur an „politisch zuverlässige“ Personen vergeben. Die Fachausbildung war streng politisch-ideologisch ausge-richtet. Die Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig bot die einzige Möglichkeit für ein universitäres Fachstudium und einen Abschluss als Diplom-Journalist. Sie unterstand der direkten Aufsicht der Abteilung „Agitation“ des ZK-Sekretärs für Agitation und Propaganda und wurde daher im Volksmund als „Rotes Kloster“ bezeichnet.

Die Medien in der DDR sollten helfen die Bürger vom Sozialismus zu überzeugen, sowie von der Richtigkeit und Legitimität der SED-Politik. Sie dienten – neben Unterhaltung, Bildung, Sport und Alltagsnachrichten – zu großen Teilen der politischen PR, bzw. „Agitprop“ („Agi-tation und Propaganda“ im sozialistischen Jargon). Die Alltagsarbeit bei der Lenkung von Medien und Inhalten wurde von der Abteilung Agitation organisiert. Von hier bekamen die Chefs der staatlichen Medien ihre Anweisungen (Veröffentlichungs­wünsche, Sprach­rege-lungen, Tabu­themen). Der Leiter des Presseamtes beim Ministerrat wiederum war für die Anleitung der Zeitungen und Zeitschriften zuständig, die nicht der SED gehörten. Selbst Details (z.B. einzelne Sätze in den Nachrichten) wurden zum Teil von den Agitations­sekre-tären bzw. SED-Generalsekretär Honecker persönlich entschieden. Alternative oder gar oppo-sitionelle Darstellungen wurden bei diesem Prozess fast gänzlich herausgefiltert. (Zur Kontrollstruktur der SED über die Massenmedien siehe die Grafik in Abbildung 1.)


 

 

Mit der Überwachung der Medien beschäftigte sich auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS/“Stasi“). Von hier wurden Überwachungsmaßnahmen von Redakteuren oder Redak-tionen organisiert. Neben der MfS-Abteilung Agitation, die für PR-Maßnahmen zuständig war, gab es die Zentrale Auswertungs- und Informations­gruppe (ZAIG). Diese lieferte der Partei- und Staatsführung aktuelle Berichte und Lageeinschätzungen sowie Informationen über besondere Vorkommnisse, wie zum Beispiel Ende November 1988 „Hinweise zu einigen bedeutsamen Aspekten der Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Mitteilung über die Streichung der Zeitschrift ‚Sputnik‘ von der Postzeitungs­vertriebsliste der DDR“ (Dokument Nr. 5). Beobachtet wurde nicht nur die Produktion und Veröffentlichung von Informationen durch die Medien, sondern auch deren Rezeption.


 

Die Rolle der West-Medien

Die Monopolisierung der medialen Information in der DDR wurde – zumindest was Hörfunk und Fernsehen betrifft – durch die weitgehende Verfügbarkeit von Sendungen aus der BRD stark relativiert. Westliche Hörfunksender waren so gut wie überall im Land zu empfangen. West-Fernsehen konnten ab Mitte der 1960er Jahre ca. 85 Prozent der DDR-Bürger sehen. Nur im so genannten "Tal der Ahnungslosen" (Bezirk Dresden), im Bezirk Neubrandenburg sowie in der Osthälfte des Bezirks Rostock war es bis in die 1980er Jahre nicht zu empfangen (siehe hierzu Abbildung 2).

Obgleich es für DDR-Bürger nie ein gesetzliches Verbot für das Empfangen und Schauen bzw. Hören von West-Sendern gab, wurde dies vielfach überwacht und sanktioniert. Man konnte hiernach die politisch-ideologische Staatstreue von Bürgern beurteilen, was Einfluss etwa auf die Möglichkeiten zu Bildung und Karriere haben konnte. Die Toleranz diesbe-züglich war regional, örtlich und zeitlich durchaus unterschiedlich, wobei ab den 1970er Jahren ein Trend allmählicher Entspannung festzustellen ist. Die Einrichtung von Antennen­gemeinschaften bzw. ab Mitte der 1980er Jahre sogar von Kabelempfangsstationen, die West-Empfang ermöglichten, bestätigt dies (siehe hierzu Dokument Nr. 4).

Bis zu 80% der DDR-Bevölkerung hörten und sahen regelmäßig westliche Rundfunkmedien. Der Führung der DDR war dies bewusst, und sie hatte sich darauf eingestellt: Politisch wichtige Mitteilungen wurden von ihr nie zur Hauptnachrichtenzeit von „Westsendern“ verkündet. In der Regel wurde besonders bei solchen Mitteilungen eine äußerst steife, von ideologischer Rhetorik durchdrungene Sprache verwendet, die zunehmend weniger Sympathie erweckte. In jedem Fall trug die Verfügbarkeit von Rundfunkmedien aus dem Westen stark dazu bei, dass die Bevölkerung die über die DDR-Medien verbreiteten Informa-tionen durchaus skeptisch beurteilten – bzw. dass sie überhaupt bestimmte Informationen erhielten. Vor allem aber wurde durch die mediale Darstellung des westlichen Alltagslebens die wachsende Kluft der Lebensverhältnisse den DDR-Bürgern bildlich vor Augen geführt.

Dies wurde von westlicher Seite durchaus aktiv betrieben, besonders in den 1960er Jahren. Zunächst stand dabei eine gewisse propagandistische Absicht im Vordergrund. So zielte die Ausstrahlung bestimmter Sendungen im Vormittags­programm des Fernsehens bewusst auf das Publikum in der DDR (Vormittags­sendungen wurden zu jener Zeit im Westen noch kaum geschaut). Nachdem der „Wettkampf der Systeme“ entschieden schien, ließ man die Bilder der boomenden Wirtschaft und der freien Gesellschaft des Westens mehr und mehr für sich sprechen. Das ostdeutsche Publikum wurde nur noch selten aktiv bzw. implizit „besendet“. Die Berichterstattung der West-Medien über DDR-relevante Themen, wie etwa Ausbür-gerungen und „Republikflucht“ oder grenzüberschreitende Umweltprobleme, informierte natürlich immer auch die DDR-Bevölkerung mit. Ähnliches gilt für die internationalen Konflikte des Kalten Krieges.

 

 

Im Zuge der Reformbewegung in Mittel- und Osteuropa in den 1980er Jahren, zunächst in Polen und etwas später in der Sowjetunion, wuchs bei den West-Medien das Gewahrsein über mögliche Rezipienten in der DDR wieder. Dieser Fokus verstärkte sich 1989 schlagartig, als Fluchtbewegung und Demonstrationen Thema wurden. Auf der einen Seite solidarisierte man sich wie selbstverständlich mit der demonstrierenden Bevölkerung und versuchte die „Freiheits-Bewegung“ durch Beiträge und Berichte zu unterstützen. Auf der anderen Seite boten West-Journalisten mit ihren Berichterstattungen den demonstrierenden DDR-Bürgern eine gewisse Sicherheit, indem ihre Medien­öffentlichkeit die Willkür von Maßnahmen der DDR-Exekutive manchmal etwas dämpfte. (Von der DDR-Berichterstattung waren ent­sprechende Bilder oder Berichte nicht zu erwarten.) Das Thema „Wieder­vereinigung“ stand jetzt im Mediengeschehen ganz oben. Es entspricht der hohen Aufmerksamkeit, dass die westlichen Journalisten sofort mit Meldungen und Interpretationen vorpreschten, als Schabowski am 9. November 1989 die Reisefreiheit für DDR-Bürger verkündete (s.u.).

Was die Druckmedien betrifft, so war hier die Abgrenzung gegenüber Produkten aus West­deutschland oder dem anderen Ausland effektiver durchsetzbar. Druckerzeugnisse aus dem Westen konnten in der DDR nicht erworben werden, außer sie wurden unter Lizenz von DDR-Verlagen herausgegeben.[4] Die Zeitungen und Zeitschriften in der DDR wurden in der überragenden Mehrheit von SED-Verlagen herausgegeben bzw. unterstanden einer ander-weitigen indirekten Kontrolle der Partei.

 

Die Umbruchphase und Aufnahme von Reformen

De facto wurde von der Meinungs­freiheit, wie sie in der KSZE-Schlussakte und in der Verfassung proklamiert wurde, in der Realität der DDR nur wenig umgesetzt. Ein Nachlassen des Einflusses der SED auf die Medien in der DDR ist vor allem ab September 1989 zu konstatieren. Hinsichtlich dieser Entwicklung sind zwei Medienereignisse markant: Zum einen das Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ Ende September 1988; und zum an­deren die Pressekonferenz des SED-Politbüro-Mitglieds Schabowski am 9. November 1989.

Die Zeitschrift „Sputnik“ wurde von einer sowjetischen Nachrichtenagentur für das sozia-listische und westliche Ausland herausgegeben. Sie war bei der DDR-Bevölkerung recht beliebt, umso mehr Ende der 1980er Jahre, als hier die Reformen von „Glasnost“ und „Perestroika“ thematisiert wurden. Die Oktober-Ausgabe 1988 berichtete unter der Über­schrift „Stalin und der Krieg“ u.a. erstmals über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939, dessen Existenz kürzlich in der UdSSR zugegeben worden war. Die offizielle Sicht des DDR-Regimes allerdings verharrte diesbezüglich bei Verleugnung und Nicht-Thematisierung und drohte durch die Sputnik-Veröffentlichung in Verlegenheit zu geraten. Das Presseamt des Ministerrats verbot daher am 30. September 1988 die Auslieferung dieser Ausgabe. Die Mitteilung hierüber, so die Beobachtung des MfS, löste „in breiten, weit über den Abonnenten- bzw. Leserkreis der Zeitschrift hinausgehenden Schichten der Bevölkerung massive, sehr kritisch gehaltene Meinungsäußerungen aus“. Selbst viele SED-Funktionäre äußerten sich „erneut kritisch zur Informationspolitik insgesamt“ (Dokumente Nr. 3 und 5). Deutlich wird bei diesem Ereignis vor allem die zunehmende innere und äußere Isoliertheit der DDR-Führung in ihrer Unfähigkeit kritische Informationen zu akzeptieren und Reformen wie etwa bzgl. der Meinungs- und Pressefreiheit zu realisieren.

Die Pressekonferenz am 9. November 1989, also ein gutes Jahr später, fand bereits in einem etwas weiter entwickelten Klima von Reformwilligkeit statt. Die SED-Führung um General­sekretär Honecker war zum Teil ausgetauscht worden, nachdem u.a. der Wunsch nach Meinungs- und Reisefreiheit per massenhaften Demonstrationen bzw. Flucht der DDR-Bevölkerung anhaltend artikuliert worden war.[5] Notgedrungen beschloss der Ministerrat schließlich eine „Regelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR“, womit man zumindest eine gewisse Kontrolle zu behalten versuchte. Die Proklamation dieses Beschlusses durch Schabowski verlief (aus SED-Sicht) etwas unglücklich: Auf Nachfragen von Journalisten nennt er als Termin für die Inkraftsetzung der Regelung „ab sofort“ – eigent-lich sollte die Maßnahme ab dem 10. November gelten, mit entsprechenden Vorsichts- und Sicherheits­maßnahmen. Entscheidender aber war wohl, dass die Neuigkeit unmittelbar durch die West-Medien wiedergegeben und kommentiert wurde, wie beispielsweise in den „Tages-themen“ der ARD:

„Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“[6]

Dieses Medienecho forcierte am selben Abend den Sturm der DDR-Bevölkerung zur Mauer – und jenseits dieser. „Der Fall der Berliner Mauer ist das erste welthistorische Ereignis, das als Folge der vorauseilenden Verkündung durch Presse-Agenturen, Fernsehen und Hörfunk eintrat.“, analysiert Hans-Hermann Hertle (Dokument Nr. 7). Vor allem aber wird deutlich, dass die mediale Kontrolle des SED-Regimes nicht nur durch die innere Revolution der DDR ausgehöhlt worden war, sondern ebenso in großem Maße, wenn auch auf andere Weise, durch die bundesdeutschen Medien.

Zu Beginn der Umbruchphase, besonders nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989, herrschte eine große Unentschlossenheit seitens der DDR-Regierung. Während der ältere Teil der Führung sich weiterhin weigerte, wirklich greifende Reformen zu beschließen, mussten die jüngeren, progressiveren Mitglieder immer deutlicher feststellen, dass diese unabdingbar waren, wollte man nicht den Kontakt mit der Bevölkerung und damit letztendlich die eigene Legitimation verlieren. Besonders im Medienbereich waren Reformen allerdings kaum aufzu-halten, da durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze die informative Abschottung quasi obsolet geworden war.

 

Bereits im Oktober 1989 hatte der Journalistenverband der DDR gefordert, dass überholte Denk- und Arbeitsweisen schnell überwunden werden müssten, um das Werk der sozialis­tischen Erneuerung und Verteidigung des gemeinsamen Hauses DDR voranzubringen. Die Arbeit aller solle ein Wettstreit sein, um:

• Aktualität,

• hohen Informationswert,

• ehrliche Informationen,

• Verständlichkeit,

• nachgeprüften Wahrheitsgehalt,

• sprachliches Vermögen

• und stilistische Mannigfaltigkeit.

 

In dieser Phase ging es um Reformen und um Appelle an die Gemeinsamkeit („Arbeit aller“, „Gemeinsames Haus DDR“) – allerdings zumeist um solche Reformen, die innerhalb des vorge­gebenen Systemrahmens lagen.

Am 30. November 1989 beschloss der Ministerrat die Etablierung eines Regierungs­sprechers und die Umstrukturierung des Presseamtes, sowie eine Neuregelung über die Tätigkeit auslän-discher Journalisten in der DDR (Dokumente Nr. 9 und 10). Die eigene Politik sollte so den Medien besser – und unter gewisser Kontrolle – vermittelt werden.

Im Dezember 1989 beauftragte die DDR-Regierung, dass eine Kommission gebildet werden solle, um ein neues Mediengesetz auszuarbeiten. Das Thema Medienreform und Erneuerung bzw. Schaffung der entsprechenden Gesetzeslage war inzwischen vielfach diskutiert worden. Am 21. Dezember 1989 konstituierte sich eine „Mediengesetz­gebungs­kommission“ (der so genannte „Runde Medien­tisch“), die aus 50 Vertretern der Gruppen des Runden Tisches und der Exekutive sowie Experten bestand. Der DDR-Staat sollte ab sofort dazu verpflichtet sein, alles zu tun, damit die Medien ihre öffentliche Aufgabe erfüllen können. Dafür wurden Richt-linien ausgearbeitet, die zum einen den Medien Orientierung geben sollten und zum anderen Kriterien für die Medienfreiheit definierten. Inhaltlich waren drei Grundprobleme zu lösen:

1.      Beseitigung des SED-Diktats über die Medien

2.      Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit

3.      Rechtliche Sicherung – Ausarbeitung eines Mediengesetzes

Ein erster Gesetzentwurf der Medienkommission wurde am 9. Januar 1990 vorgestellt und am 5. Februar 1990 zunächst übergangsmäßig als „Beschluß der Volkskammer über die Gewähr­leistung der Meinungs-, Informations- und Medien­freiheit“ (sog. „Medien­beschluss“) verab­schiedet.[7] (Die geplante Ausarbeitung des Gesetzes wurde schließlich durch die deutsche Einheit obsolet.) Zur Gewährleistung des Medienbeschlusses wird kurz darauf durch den Runden Tisch ein Medienkontrollrat gebildet, der eine Stabilisierung, eine Reorganisation und zum Schluss einen Übergang zum dualen Rundfunksystem einerseits und eine Überwachung der Eigenständigkeit der DDR-Medien andererseits leisten sollte. Der Medienkontrollrat setzte sich, ähnlich wie die Mediengesetzgebungskommission, aus Vertretern von Partei- und Massen­organisationen und aus Delegierten demokratischer Gruppen zusammen. Am 21. Dezember 1989 beschloss der Ministerrat außerdem die Bildung von Medienbeiräten (Staat-lichen Komitees) für Fernsehen und Rundfunk (Dokument Nr. 11). Hiermit sollte die direkte Aufsicht durch SED-Organe beendet werden.

Ebenso wurde im Dezember 1989 angeregt, eine unabhängige wissenschaftliche Gesellschaft für Kommunikationsforschung und Medienwissenschaft zu bilden.[8] Ende desselben Monats erfolgte dann in einem gemeinsamen Vorschlag von Berufsverbänden eine Präzisierung des Begriffs „Freiheit“:

·         Übereinstimmung mit Grundrechten, die in der Verfassung festzuschreiben sind – dazu müssen gehören: Recht auf Information, freie Meinungsäußerung, Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Freiheit der Medien.

·         Die Freiheit der Medien ist durch Gesetz zu garantieren. Staatliche Eingriffe sind unzulässig.

·         Die Medien müssen wahr informieren.

 

Dieser Vorschlag ähnelte einer Passage im „Leipziger Programm“ des Demokratischen Aufbruchs, ebenfalls vom Dezember 1989. Dort nahm man bezüglich Medien u.a. Stellung für Öffentlichkeit, gegen Zensur, für freien Zugang zu Informationen. Der „Runde Tisch“ verhinderte die Beibehaltung der SED-Kontrolle über die staatliche Nachrichtenagentur ADN. Dennoch dominierten trotz grundsätzlich freierer Berichterstattung vielfach nach wie vor linientreue Journalisten die Medien, was eine Zeit lang ein Vorteil für die SED war. Im Januar 1990 forderten daher 46 Pfarrer und Pastoren des Kirchenbezirks Dresden-Mitte in einem Offenen Brief die Zurückdrängung der SED/PDS-Mitglieder aus den Massenmedien. Ihnen wurde vorgeworfen, die Medien für einen einseitigen Wahlkampf zu nutzen. Westmedien waren deshalb für die Bürgerbewegungen sehr wichtig.

Die damalige Situation, die durch sich verstärkende Forderungen nach Reformen und teils offene, teils verdeckte Bemühungen um Machterhalt geprägt war, hat Günter Schabowski in einem Interview anschaulich beschrieben:

„Generell blieben nach unserem Abgang die Modrow-Leute auf ihren Posten und versuchten, bis zu den Wahlen im März Weichen für die Zukunft zu stellen. Eine Koalitionsregierung sollte aus Personen aufgebaut werden, die mehr oder weniger mit der Stasi verbunden gewesen waren […]. Medienpolitisch versuchten die retar­dierenden Kräfte, nachdem der Führungsanspruch der Partei aufgegeben worden war, diesen Verlust durch die geschickte Placierung loyaler Personen zu ersetzen. In einer formal pluralistischen DDR sollte ein System der latenten Bindung bestehend aus Einflussagenten etabliert werden. Doch dieses Vorhaben scheiterte durch die Ergeb-nisse der März-Wahlen. Ein Teil des gedachten Netzes dürfte auch danach noch existiert haben.“[9]

Am 12. Januar 1990 konstituierte sich ein „Runder Tisch“ mit ca. 20 Personen (Vertreter von verschiedenen Organisationen) zum Thema Chancengleichheit in den einzelnen Rundfunk­programmen. Ende Januar 1990 (25./26.) tagte ein Außerordentlicher Kongress des Journa-listenverbandes der DDR, dessen Delegierte rund 9.100 Mitglieder vertraten. In einer Erklärung des Kongresses ist u.a. zu lesen:

„Wir sind nur der Öffentlichkeit, der Wahrhaftigkeit und unserem Gewissen auf der Grundlage geltenden Rechts und humanistischer Ideale verpflichtet. Wir wollen mit unserer Arbeit die Kultur des politischen Streits entwickeln und zur demokratischen Meinungs- und Willensbildung in der Gesellschaft beitragen. Wir distanzieren uns von jeder Bevormundung, dem Entstellen und Verschweigen von Tatsachen, wie sie bis zum Herbst 1989 alle Medien unseres Landes beherrschten.“[10]

Dieses Zitat ist aus mehreren Gründen typisch für die damalige Stimmung in der DDR:

·         Der Kontroll- und Unterdrückungsapparat hatte stark an Wirkung eingebüßt.

·         Bei Diskussionen wurde nun oft die Grenze zwischen systemimmanenten Reform-vorschlägen und systemverändernden Konzepten überschritten.

·         Es wurde nicht mehr wie meist bisher versucht, die Grenzen des Verbotenen herauszu-finden und zu testen; vielmehr wurden nicht nur Grenzen des Notwendigen und Machbaren, sondern des Vorstellbaren diskutiert.

·         Eine starke Betonung lag auf Eigeninitiative und Eigenverantwortung.

 

Eine solche politische Stimmung kann verschiedene wichtige und weitreichende Konse-quenzen haben:

·         Sie beflügelt zu Initiativen und Experimenten.

·         Sie vermittelt das Gefühl der Selbstbefreiung und Selbstbestätigung.

·         Sie sensibilisiert für Bevormundung.

 

In o.g. Zitat findet sich das Wort „Bevormundung“. Die kritisierte und durch Selbstbefreiung überwundene Bevormundung durch die SED ist anderen Charakters als die sich bald ab­zeich-nende und dann tatsächlich einstellende Dominanz westlicher Medienkonzerne. Der psycho-logische Effekt allerdings ist ähnlich: Dem mutigen Akt der Selbstbefreiung folgte in vielen Fällen ökonomische Fremdbestimmung, von der andere den Nutzen haben.

Nach den ersten freien Wahlen der DDR am 18. März 1990 wurde unter der Regierung von Lothar de Maizière ein Ministerium für Medienpolitik (MfM) geschaffen, per Koalitions­beschluss vom 13. April 1990. Minister wurde der Thüringer Theologe Gottfried Müller, der im Bereich der kirchlichen Presse und Verlage mitgewirkt hatte. Bemerkenswert ist, dass es in der BRD kein derartiges Ministerium gab (und auch heute nicht gibt), da die Kultur- und Medienpolitik vorrangig Sache der Länder ist. Das MfM ging aus dem Presse- und Informa-tions­dienst der Regierung der DDR (PIDR) hervor, dessen Räume übernommen wurden. Die Aufgaben waren begrenzt und lagen vorrangig in der Erarbeitung einer Medien­gesetzgebung, die in Einklang mit dem föderativen und demokratischen Mediensystem der Bundesrepublik gebracht werden sollte. Später wirkte man an den Regeln zur Medien­überleitung im Eini-gungsvertrag mit. Zunächst arbeitete man an der Erneuerung des Mandats für den Medien-kontrollrat und die Neuregelung der Gebühren für Rundfunk und Fernsehen (siehe hierzu Dokumente Nr. 1 und 26).

 

Reformentwicklung von Presselandschaft und Rundfunk

Die Reformierung der Medien in der DDR stand spätestens seit Ende 1989 – wie viele andere Bereiche auch – unter großem Zeitdruck. Dies betraf zum einen die beschriebene Loslösung von der Kontrolle der SED und die Etablierung von Strukturen, welche die neue Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit gewährleistete. Zum anderen stellten sich die praktischen Fragen zur Reform der Medienbetriebe. Während für sie zentralistische Organisation und staatliche Subventionen wegfielen, kamen die großen Herausforderungen eines freien, öffentlichen Medienmarktes auf sie zu. Für die Printmedien und den Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) waren diese Herausforderungen und die entsprechenden Entwicklungen unter­schiedlich.

 

 

– Printmedien

Im Bereich der Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften und Verlage) war die Öffnung der Marktabschottung für die Leser besonders abrupt. Nach Grenzöffnung gab es für die meisten DDR-Bürger erstmalig die Gelegenheit einer freien Auswahl von Westprodukten. Dies wurde besonders im Grenzgebiet rege genutzt. Die Redaktionen der Zeitungs- und Zeitschriften­presse in der DDR mussten hierauf reagieren. Einige vermochten die neue Pressefreiheit, die durch Gesetze, aber auch durch den (zeitweiligen) Wegfall autoritär hierarchischer Entschei­dungsstrukturen entstanden war, kreativ zu nutzen und die Leserschaft für ihre Produkte zu halten. Außerdem brachten neue Freiheiten und neuer journalistischer Enthusiasmus einen großen Boom von Neugründungen mit sich. Bis Mitte 1991 stieg die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern stark an. Viele der neuen Publi­kationen überlebten den Preiskampf auf dem Pressemarkt allerdings nicht lange, sodass die Zahlen rasch wieder abnahmen. Die Nachfrage der Tagesblätter sank teilweise dramatisch ab. (Eine Tabelle mit den Strukturdaten der Tagespresse 1989 bis 1993 im Vergleich früheres Bundesgebiet – neue Bundesländer findet sich in Dokument Nr. 53.)

Mit der Wiedervereinigung weitete sich auch das Engagement der West-Verlage in der DDR rasant aus. Ein erweitertes Publikum von etwa 16 Mio. „Verbrauchern“ und eine nur wenig konkurrenzfähige vorhandene Presselandschaft versprachen große Wachstumschancen – plötz­lich bot sich ein riesiges neues potentielles Absatzgebiet. Das Presseangebot des Westens wurde sofort nach der Wiedervereinigung durch private Grenzgänger genutzt. Auch gab es einige geschäftstüchtige Zeitschriftenhändler aus der BRD, die mit ihren Verkaufswagen in die DDR fuhren. Dort fanden ihre Zeitungen und Zeitschriften in der Regel reißenden Absatz. Frühzeitig war auch der Geschäftssinn der großen Pressevertriebe geweckt worden. Das Gebiet der DDR bzw. der neuen Bundesländer wurde sehr schnell zum umkämpften Markt.

Das Engagement der Westverlage in Ostdeutschland war für die dortigen Verlage ambivalent. Auf der einen Seite sah man sich durch diese Konkurrenz unter Druck gesetzt und musste kämpfen, um die neu gewonnenen Freiheiten zu bewahren und möglichst unabhängig zu bleiben. Außerdem hatten einige Redakteure und Verlage den Anspruch, dem Osten beim Aufbau eines „dritten Weges“ publizistisch mithelfen zu können, bzw. hinsichtlich der Verlagsorganisation nicht in die „kapitalistische Falle“ zu geraten, etwa was die Mitbe­stimmung oder die innere Pressefreiheit betrifft[11] (siehe hierzu Dokumente Nr. 44 und 48). Auf der anderen Seite benötigte man jedoch Knowhow bezüglich des Presse­marktes, Zugang zu Informationen durch (westliche) Nachrichten­agenturen und vor allem Wirtschaftskapital. Viele trafen daher Kooperations- oder Lizenz­vereinbarungen mit bundesdeutschen Verlagen, oft kleinere und mittlere aus dem grenznahen Gebiet. Man wollte sich durch regionale grenzüberschreitende Joint-Ventures gegenseitig stärken und publizistische Alternativen zur im öffentlichen Ansehen diskreditierten DDR-Presse liefern. Je lukrativer allerdings der anvi-sierte Markt war, desto umkämpfter wurde dieser. Vor allem weckten die großen über­regio-nalen SED-Tageszeitungen (Bezirksblätter) das Interesse westdeutscher Groß­verlage. Diese Blätter hatten in der Regel einen großen Auflagenvorsprung vor ihrer Konkurrenz (teilweise Monopolstellung), und die SED-Verlage waren technisch-infrastrukturell ver­gleichsweise gut ausgerüstet. Die für die Privatisierung der DDR-Betriebe zuständige Treuhandanstalt (THA) verkaufte bis zum 15. Mai 1991 alle 15 ehemaligen SED-Zeitungen ausschließlich an größere Presseverlage aus den alten Bundesländern. Kleinere westdeutsche Verlage kamen bei der Vergabe ebenso wenig zum Zug wie ausländische Bewerber oder vereinzelt mitbietende Privatpersonen (ehemalige DDR-Bürger). Dabei war politischer Ein­fluss anscheinend nicht unerheblich. Laut Bericht der Monopolkommission der Bundes­regierung vom 13. Juli 1992 waren die sich herausbildenden Strukturen des Pressemarktes in den NBL weniger das Ergebnis von marktwirtschaftlichen Prozessen, sondern wurden wesentlich durch die THA bestimmt (Dokumente 35, 41, 42, 53 und 55).

Mit welch rasanter Geschwindig­keit dieser Prozess der Aneignung des DDR-Gebiets als Presse-Absatz­markt vonstattenging, zeigt zudem die Entwicklung im Pressevertrieb. Exem-plarisch hierfür ist die Übereinkunft zwischen vier westdeutschen Groß­verlagen und der DDR-Regierung am 23. Januar 1990. Sie basierte auf dem Treffen von Hans Modrow und Helmut Kohl in Dresden im Dezember 1989, wo u.a. der Austausch von Presseerzeugnissen zwischen beiden deutschen Staaten besprochen worden war. Die Übereinkunft formuliert ein Joint-Venture zwischen den westdeutschen Großverlagen und dem DDR-Ministerium für Post- und Fernmelde­wesen bzw. der Deutschen Post, welche bislang die Monopolrechte für den Pressevertrieb in der DDR innehatte. Hierbei wurde das DDR-Gebiet in vier Absatz­gebiete für die vier Großverlage eingeteilt. Außerdem wurde den Verlagen die Option an ent­sprechenden Rechten für die vorgesehene Rundfunkwerbung eingeräumt (Dokument Nr. 12). Nach Protesten des Runden Tisches, wo zu dieser Zeit der o.g. Medienbeschluss verhandelt wurde, und von mittel­ständischen Verlagen, die sich übervorteilt sahen, wurden allerdings sowohl das Vertriebsmonopol der Deutschen Post wie auch die vereinbarten Joint-Ventures formal beendet.[12]

Derlei Angelegenheiten wurden auf höchster Regierungsebene behandelt. Vertreter beider Regierungen trafen sich Anfang Februar 1990 zu einem „deutsch-deutschen Mediengespräch“ in Bonn. Im Mittelpunkt standen „die Verbesserung des Zeitungs- und Zeitschriftenvertriebs in beiden deutschen Staaten, insbesondere der Aufbau eines staatsunabhängigen Presse­ver-triebs­systems in der DDR; der offene Zugang der Presseerzeugnisse aus der BRD; sowie rechtliche und organisatorische Fragen einer flächendeckenden Verbreitung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen in beiden Teilen Deutschlands“ (Dokument Nr. 13). Etwa eine Woche danach lud die bundesdeutsche Regierung alle Interessengruppen ebenfalls nach Bonn ein, um über diese Themen zu sprechen. Um ein unabhängiges DDR-Pressevertriebs­system zu gewährleisten, modifizierte der Ministerrat der DDR am 9. März 1990 die vorherige Über-einkunft und ermächtigte die Deutsche Post zum Vertrieb von westdeutschen und auslän-dischen Presseerzeugnissen und zu entsprechenden Liefervereinbarungen durch westdeutsche Verlage. Dies solle „unter Berücksichtigung ihrer materiell-technischen und personellen Möglichkeiten“ geschehen. Da diese Kapazitäten der Deutschen-Post und auch der unabhän-gigen DDR-Großhändler jedoch für eine flächendeckende Versorgung nicht ausreichend waren (in der Übereinkunft mit den Großverlagen hatte man z.B. 100 Transportfahrzeuge von den westdeutschen Partnern verlangt), und da man auf die bevor­stehenden Volkskammer-wahlen Rücksicht nahm (es waren Parteien-Werbung und Mangel­beseitigung gefragt), wurde der Einstieg von westdeutschen Großhändlern toleriert – er war in weiten Teilen ohnehin informell realisiert worden.

Sowohl hinsichtlich der Zeitungen und Zeitschriften wie auch des Pressevertriebs wurde in den neuen Bundesländern ein Verdrängungs- und Konzentrationsprozess in Gang gesetzt, bei dem die zunächst gestiegene Anzahl der Publikationen, Redaktionen, Verlage und Presse­vertriebe besonders ab Mitte 1991 stark abnahm (Dokumente 35, 42, 43 und 53). Die Gutachter für die Enquete-Kommission in Brandenburg statierten 2014:

„Schließlich blieb der Brandenburger Zeitungsmarkt – so wie es auch in den anderen neuen Bundesländern der Fall ist – von den ehemaligen SED-Bezirkszeitungen dominiert. […] 90 Prozent der Brandenburger Abonnement­zeitungen werden von drei Verlagen herausgegeben. Fast drei Viertel der Brandenburger (74,5 Prozent [Bundes-durchschnitt=42,4%]) lebten 2008 in Ein-Zeitungs-Kreisen; in 13 von 18 Landkreisen und kreisfreien Städten besteht ein Zeitungsmonopol.“ (Dokument Nr. 55)

Das ursprüngliche medienpolitische Ziel im Zuge der deutschen Einheit, durch die Umstruk­turierungen in Ostdeutschland eine Vielfalt auf dem Pressemarkt herzustellen, wurde demnach vielerorts kaum verwirklicht. Dies mag zum Teil allerdings auch dem generellen Wandel des Pressemarktes geschuldet sein.

Auch die ostdeutschen Buch-Verlage erlitten einen drastischen Rückgang ihres Absatzes. Durch die Öffnung des Marktes entstanden zunächst neue Bedürfnisse der im Osten lebenden Konsumenten. Eine riesige Menge neuer Buchtitel wurde nun für alle über die westlichen Verlage zugänglich, darunter auch die Titel von zuvor ausgegrenzten bzw. verbotenen Autoren. Viele Buchhandlungen in der DDR räumten ihre Regale für die neuen Titel frei und sandten den DDR-Verlagen massenhaft unverkaufte Bücher zurück. Deren kompletter Lagerbestand verlor massiv an Wert. Außerdem verfielen mit der WWSU viele Lizenz-verträge der ostdeutschen Verlage, die sie für Buchtitel westdeutscher Verlage zum Vertrieb in der DDR abgeschlossen hatten. Diese Bücher durften nun (nach einer kurzen Übergangs-frist) auf dem gesamtdeutschen Markt nicht mehr angeboten werden.[13]

Im Juni begann die Treuhandanstalt mit der Privatisierung und Reorganisation der Betriebe im Verlagswesen. Im Zuge dessen sollten ca. 12.500 volkseigene Betriebe wettbewerblich strukturiert und privatisiert werden. Innerhalb von nur wenigen Monaten wurden 1991 fast alle DDR-Verlage veräußert. Die Hauptform der Privatisierung war ein Verkauf an westliche Unternehmen.

Tabelle 1:
SED-Bezirkszeitungen, die von westdeutschen Verlagen übernommen wurden

 

Ort

Name der Zeitung

Auflage

Verlag

Chemnitz

Freie Presse

607.000

Medien Union Ludwigshafen

Cottbus

Lausitzer Rundschau

215.000

Saarbrücker Zeitung

Dresden

Sächsische Zeitung

527.000

Rheinische Post/

Westdeutsche Zeitung

Erfurt

Thüringische Allgemeine

370.000

Westdeutsche Allgemeine

Zeitung

Frankfurt/Oder

Märkische Oderzeitung

185.000

Südwest Presse Ulm

Gera

Ostthüringische Nachrichten

207.000

Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Halle

Mitteldeutsche Zeitung

530.000

DuMont

Magdeburg

Volksstimme

440.000

Bauer Verlag

Neubrandenburg

Nordkurier

185.000

Kieler Nachrichten/Augsburger Allgemeine/Schwäbische Zeitung

Potsdam

Märkische Allgemeine

280.000

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Rostock

Ostsee Zeitung

284.000

Lübecker Nachrichten

Schwerin

Volkszeitung

190.000

Burda GmbH

Suhl

Freies Wort

160.000

Coburger Neue Presse

 

Tabelle 1:
Zeitungen, Mitteilungsblätter, Zeitschriften in der DDR (Stand 1988)

 

Presseerzeugnisse insgesamt

1.812

Tageszeitungen

39

Betriebszeitungen der SED

667

Zeitschriften

508

Zentrale Mitteilungsblätter

176

Regionale Mitteilungsblätter

354

Kreiszeitungen

4

Wochenzeitungen und Zeitschriften

34


 

Tabelle 3:
Auflagenhöhe und Abbestellungen von DDR-Printmedien (August/September 1990)

 

Name

Postauflage

Abbestellungen

Berliner Zeitung

333.500

 

Junge Welt

283.700

- 85%

Neues Deutschland

234.600

- 80%

Sportecho

83.500

- 68%

Landblatt

52.600

- 66%

Morgen

51.800

- 23%

 

 

– Rundfunk

Die deutsche Wiedervereinigung bewirkte die Vereinigung zweier Rundfunksysteme, die sich zuvor über Jahrzehnte in unterschiedliche Richtungen entwickelt hatten. Während in der BRD der Rundfunk föderal und öffentlich-rechtlich organisiert war, und überdies in einem dualen System (d.h. öffentlich-rechtliche wie auch private Anbieter), war das Rundfunksystem der DDR staatlich und zentralistisch organisiert. Durch den Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik sollte am 3. Oktober 1990 auch das bundesdeutsche Medienrecht wirksam werden. Der Rundfunk der DDR musste entsprechend umstrukturiert werden. Dies erfolgte nicht von heute auf morgen, sondern es war ein Prozess mit zahlreichen medienpolitischen Verhandlungen, die von vielen einzelnen Interessen der unterschiedlichen Akteure begleitet wurden.

Der erste Reformschritt, die Entstaatlichung, war bereits durch den „Medienbeschluss“ der Volkskammer vom 5. Februar 1990 vollzogen worden. Artikel 11 besagt:

„Rundfunk, Fernsehen und ADN sind unabhängige öffentliche Einrichtungen, die nicht der Regierung unterstehen. Sie sind Volkseigentum. Bis zur ihrer Umgestaltung in öffentliche rechtliche Anstalten garantiert der Staat ihre Finanzierung. […] Zur Sicherung der Eigenständigkeit der Medien unseres Landes bedarf jede Eigentums­beteiligung an Medien der DDR durch Ausländer der Genehmigung des Medien­kontrollrates.“[14]

Beachtenswert ist u.a. die Befürchtung vor ausländischer (und wohl kapitalistischer) Verein­nahmung der Medien, die hier zum Ausdruck kommt. Der Ministerrat bestätigte am 15. März 1990 ein entsprechendes Statut des Rundfunks der DDR. Dieser soll einen „freien Informa-tions­austausch“ mit den „Zielen und Grundsätzen des Völkerrechts“ sowie den „Meinungs­pluralismus“ fördern (es wird u.a. auf die KSZE-Schlussakte verwiesen). Vor allem bekam der Rundfunk nun „das Recht […] kommerziell tätig zu sein“. Alle Einnahmen dienen der Deckung des Gesamtaufwandes, wobei man „von allen Abgaben an den Staat befreit“ ist (wohl ein impliziter Hinweis an die bisherige Wirtschaftsweise des Rundfunks) (Dokument Nr. 18). Eine Aufnahme dieses Statuts war für das geplante Mediengesetz der DDR vorge-sehen, welches jedoch nicht mehr verabschiedet wurde.

Die umfassende Strukturänderung des Rundfunks der DDR sollte durch ein Rundfunk­überleitungsgesetz geregelt werden. Die Bestrebungen zur Formulierung eines neuen recht-lichen Rahmens waren nach der Bildung des MfM intensiviert worden. Bezüglich der zustän-digen Mediengesetz­gebungs­kommission und wesentlicher Strukturfragen kam es dabei zum Kompetenzstreit mit dem Medienkontrollrat, in dem einige Vertreter des DDR-Rundfunks vertreten waren. Zudem konstituierte sich ein Volkskammer­ausschuss Presse und Medien. Das Presse- und Informationsamt der Bundes­regierung (Bundes­presseamt/BPA), das dem Bundes­kanzleramt unterstellt war, trat außerdem als wichtiger Akteur hinzu.

In Beratung mit der Regierung De Maizière erstellte das BPA Ende Mai 1990 ein internes Konzept zur Medienneuordnung im vereinigten Deutschland, worin man u.a. bemerkt, dass für ein umfassendes Mediengesetz keine Notwendigkeit bestehe.[15] Die grundlegenden Punkte bezüglich der Rundfunküberleitung finden sich in einem Beschluss des Bundesfachaus-schusses Medienpolitik der CDU (West) vom 30. Mai 1995 wieder:

·         Umstrukturierung des Rundfunks unter Hoheit der neuen Länder und Bildung von Landesrundfunkanstalten;

·         Etablierung der staatsfernen, öffentlich-rechtlichen Rundfunk­­struktur;

·         Etablierung des dualen Systems (öffentlich-rechtlicher Rundfunk neben privatem)

Hinsichtlich der Rundfunkanstalten müsse man eine Mitte zwischen Zusammen­schlüssen (aus wirtschaftlichen Gründen) und Aufteilung (aus politisch-strukturellen Gründen) finden:

„Die jetzt in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland bestehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und Programme können [aus Finanzierungsgründen] nicht addiert fortbestehen. Die Länder eines vereinigten Deutschlands schließen entsprechende Staatsverträge [für Kooperationen …]. Abgelehnt wird, das jetzige DDR-Fernsehen als drittes nationales Fernseh­programm einzuführen (keine dritte Säule!). […] Abzulehnen ist die Gründung nur einer einzigen ostdeutschen Rundfunk-anstalt, die die gesamte DDR umfaßt. Das würde den Zielsetzungen des Föderalismus nicht entsprechen und bestehende Strukturen konservieren.“ (Dokument Nr. 21)

Es gab allerdings auch andere Positionen, die einen möglichst weitgehenden Erhalt der Rund-funkstruktur der DDR im Rahmen der Föderalisierung favorisierten, sowie eine einzige Rund-funkanstalt für alle neuen Bundesländer, die quasi den Rundfunk der DDR fortführte (etwa als DFF/Deutscher Fernsehfunk, ODR/Ostdeutscher Rundfunk oder OHFF/Ost­deutscher Hör- und Fernsehfunk). Teilweise wurde sogar ein „3. Fernsehen Ost“ gefordert, dessen Sendepro-gramm gleichrangig neben ARD und ZDF bestehen sollte, statt in diese integriert zu werden. Auch der Zulassung privaten Rundfunks, also des dualen Systems, wurde vielfach mit Ablehnung begegnet. Entsprechende Erklärungen bzw. Statutsentwürfe kamen etwa von den Medien­gewerkschaften der DDR (Dokument Nr. 22) oder dem Medienkontrollrat (Dokument Nr. 24), aber auch von der SPD-Fraktion (Dokument Nr. 20). In der Aktuellen Stunde der Volkskammer zur Zukunft der Medien in der DDR am 5. Juli 1990 standen diese Positionen gegeneinander (Dokument Nr. 25).

Das geplante Rundfunküberleitungsgesetz wurde in der Folge mehr und mehr im Zusammen-hang mit den Regelungen für die Medien im Einigungsvertrag erarbeitet bzw. verhandelt. In Artikel 36 des Einigungsvertrags, der am 31. August 1990 unterzeichnet wurde, wurden folgende zentrale Punkte festgelegt[16]:

·         Rundfunk und Fernsehen der DDR werden als eine gemeinschaftliche, staatsunab-hängige Anstalt von den neuen Ländern bis spätestens zum 31. Dezember 1991 weitergeführt.

·         Die Anstalt wird von einem Rundfunkbeauftragten und einem Rundfunkbeirat geleitet.

·         Der Rundfunkbeauftragte wird auf Vorschlag des Ministerpräsidenten von der Volks-kammer gewählt.

·         Der Rundfunkbeirat besteht aus 18 Personen des öffentlichen Lebens, die von den Landtagen gewählt werden.

·         Die Einrichtung finanziert sich aus Rundfunkbeiträgen.

·         Bis spätestens zum 31. Dezember 1991 wird die Anstalt aufgelöst und in föderale Strukturen überführt.

Nachdem die grundlegenden Strukturfragen durch den Einigungsvertrag geregelt worden waren, wurden in das „Gesetz zur Überleitung des Rundfunks (Fernsehen, Hörfunk) in die künftige Gesetzgebungszuständigkeit der Länder – Rundfunk­überleitungsgesetz (RÜG)“ im Wesentlichen dessen Regelungen übernommen. Darüber hinaus handelte es ich hauptsächlich um eine Ausformulierung der Regelungen zur föderalen Rundfunkstruktur in den neuen Ländern, welche sich weitgehend am westdeutschen Rundfunkvertrag orientierte (Dokumente Nr. 27, 30 und 31).

Die sogenannte „Einrichtung“ (gebräuchliche Kurzform von „Einrichtung nach Art. 36 Eini-gungsvertrag“) ersetzte als Organisation den vorherigen Staatsrundfunk der DDR und war Vorgänger der Landesrundfunkanstalten in den fünf neuen Ländern und Ost-Berlin. Der Rundfunkbeauftragte Rudolf Mühlfenzl, der am 15. Oktober 1990 von den Sprechern der neuen Länder gewählt worden war, besaß umfassende Rechte. Diese Organisations- und Kompetenzstruktur war vielfach kritisiert worden, vor allem wegen mangelnder öffentlicher demokratischer Entscheidung und Kontrolle und wegen des überproportionalen Einflusses des Bundes.[17]Die Einrichtung musste gleichzeitig die Rundfunk- und Fernsehversorgung aufrechterhalten, um den öffentlichen Versorgungsauftrag zu erfüllen, wie auch die Bestand-teile des DDR-Rundfunks abwickeln oder umwandeln. Da die Einrichtung Rechts­nach­fol-gerin des DDR-Rundfunks geworden war, wickelte sie sich quasi selbst ab. Dies ging mit großem Personalabbau und einigen Organisations­problemen einher. Auch die Sende- und Programm­struktur änderte sich grundlegend (Dokumente Nr. 1, 32 und 34).

Gleichzeitig mussten die Regierungen der neuen Bundesländer dafür sorgen, dass sie die öffentliche Rundfunk­versorgung ihres Gebietes ab dem 1. Januar 1992 übernehmen konnten. Dafür mussten sie funktionierende Landesrundfunkanstalten aufbauen, entweder allein oder in Zusammenschlüssen. Die alternativen Optionen wurden zum Teil sehr kontrovers diskutiert, wobei die Finanzierbarkeit, die redaktionelle Unabhängigkeit sowie der Sitz von Produktions­stätten die Hauptthemen waren. Schließlich wurden zwei neue Landesrund­funkanstalten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gegründet: der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), der am 30. Mai 1991 durch die Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen eingerichtet wurde (Dokument Nr. 37), und der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB), als Anstalt Bran­den­­­burgs, die sich 2003 mit dem Berliner Sender Freies Berlin (SFB) als Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) zusammen­schloss (Dokument Nr. 55). Mecklenburg-Vorpommern hin­gegen schloss sich dem Verbund der westdeutschen Bundesländer Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein im Norddeutschen Rundfunk (NDR) an (Dokument Nr. 40).


 

Die Produktions- und Sendeeinrichtungen sowie das Inventar des ehemaligen Rundfunks der DDR bzw. des DFF waren an die „Einrichtung“ übergegangen und wurden nun den neuen Ländern bzw. deren Rundfunkanstalten zugesprochen. Dies geschah nach Ortslage bzw. nach einem Verteilerschlüssel, der sich aus der Bevölkerungszahl des jeweiligen Abdeckungs­bereiches errechnete (MDR 63,5 %, ORB 16,5 %, NDR (Ostteil) 11,5 %, SFB 8,5 %). Die technische Ausrüstung (Kameras, Studiotechnik u.dgl.) entsprach zumeist nicht dem Standard des modernen westlichen Rundfunks. Und der Verkauf der Immobilien, die nicht in die neuen Landesrund­funkanstalten integriert wurden, gestaltete sich oftmals schwierig. Wegen mangelnder Kompetenz der Verantwortlichen oder wegen Korruption wurden viele Objekte weit unter Wert veräußert, so dass den Länderhaushalten recht große Summen entgingen.[18] Ent­sprechende Rechtsstreitigkeiten sind zum Teil heute noch nicht endgültig geklärt.

Der „Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland“ schuf am 31. August 1991 den rechtlichen Rahmen für ein einheitliches, gesamtdeutsches Rundfunksystem. Es enthielt grundlegende Regelungen für den öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Rundfunk, u.a. bzgl. der Aufteilung von Sendern und Sendefrequenzen. Dieser Staatsvertrag besiegelte die rundfunkrechtliche Integration der neuen Bundesländer; er trat zum 1. Februar 1992, also kurz nach Ende des Mandats der „Einrichtung“, in Kraft (Dokument Nr. 39). Die technische Ausrüstung für die Rundfunksendung wurde entsprechend ausgebaut. Anfang 1994 ist die Versorgung der Bürger in den neuen Bundesländern mit den Fernsehprogrammen der ARD und des ZDF über terrestrische Sendernetze wie folgt: ARD-Erstes Programm 96%, ARD-Regionalprogramme 90%, ZDF 91% (Dokument Nr. 53).

Eine weitere Aufgabe der Rundfunküberleitung war die Neuorganisation des nationalen Rundfunks. Dies war nötig, da der nationale Rundfunkauftrag sich durch die Deutsche Einheit geändert hatte. Es handelte sich um eine Vereinigung des ehemals westdeutschen Deutsch­land­funks (DLF) mit dem RIAS (Radio im Amerikanischen Sektor, ehem. Alliierten-Sender in West-Berlin). Das aus dieser Fusion entstandene Deutschlandradio wurde durch eine Körperschaft von Bund und Bundesländern getragen. Der Deutschlandsender Kultur (DSKultur), der in der Übergangszeit das ehemalige nationale DDR-Radio quasi als „DDR-kulturellen“ Sender fortgeführt hatte, wurde hierbei ursprünglich nicht mit integriert, da eine Weiterführung durch den Einigungsvertrag nicht vorgesehen war. Erst durch die Hilfe eines Notkuratoriums ging auch er mit im neuen Deutschlandradio auf. Das Deutschlandradio sollte eigentlich zum 1. Januar 1992 auf Sendung gehen, allerdings zogen sich die Verhandlungen deutlich in die Länge. Der Hörfunk-Überleitungsstaatsvertrag, der diese Fusion regelte, trat schließlich zum 1. Januar 1994 in Kraft (Dokumente Nr. 45, 49 und 50).

Die Öffnung der ostdeutschen Rundfunklandschaft für den privaten Rundfunk – also die zweite Säule des „dualen Systems“ – gestaltete sich schleppend. Im Einigungs­vertrag hatte der private Rundfunk keine Erwähnung gefunden, da entsprechende Regelungen erst unter der Hoheit der zuständigen Länder zu erarbeiten seien. Die Länder verabschiedeten dann erst ab Mitte 1991 Gesetze über den privaten Rundfunk (Sachsen-Anhalt am 22.05.1991, Sachsen am 27.06.1991, Mecklenburg-Vorpommern am 09.07.1991, Thüringen am 31.07.1991; siehe Dokumente Nr. 36 und 42). Die späte Einrichtung von Landes­medien­anstalten in den neuen Bundesländern, die für die Aufsicht des Privatrundfunks zuständig sein sollten, brachte zusätzliche Verzögerung und den Privatrund­funk­veranstaltern einige Nachteile, wie etwa bei der Zuteilung von terrestrischen Frequenzen.[19]

Insgesamt wird als Kritik hinsichtlich der Umstrukturierung der ostdeutschen Rundfunk­land-schaft vielfach moniert, dass die Chance, eine innovative Reform des öffentlichen Rundfunk-systems für Gesamtdeutschland zu schaffen, verpasst wurde. Stattdessen habe haupt­sächlich eine Übertragung der westdeutschen Strukturen auf die neuen Bundesländer stattgefunden. Bei diesem Prozess hätten Bundesländer, Parteien und Rundfunksender weitgehend opportu-nistisch agiert, um ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen (Dokument Nr. 55). Andere verweisen auf den großen Zeitdruck, der bestanden habe, und sehen die Adaption einer Rund-funkordnung, die bereits in den alten Bundesländern gut funktioniert habe, als durchaus plausible Lösung. Der ehem. DDR-Staatssekretär und Regierungssprecher und jetzige stell-vertretende Direktor des MDR-Landesfunkhauses Thüringen, Matthias Gehler, verweist unterdessen (2016) auf die allgemeine Entwicklung und gegenwärtige Problemlagen. Mittler-weise seien in Ost- wie in Westdeutschland ganz andere Aspekte zu verzeichnen als während der deutschen Wiedervereinigung, da sich die Medienlandschaft inzwischen stark verändert habe: „Man sollte dabei nicht nur in die Kultur, sondern auch in die neue Zeit blicken.“ (Dokument Nr. 1).


[1] Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Schlussakte. Helsinki 1975, Abschnitt I a) VII.

[2] Spiegel Spezial Geschichte 3/2008

[3] Papier als Rohstoff war in der DDR knapp und wurde rationalisiert. Verlage mussten dementsprechend Kontin-gente für ihre Papierversorgung beantragen. Die Bewilligung durch Regierungsstellen war oft willkürlich und abhängig vom Inhalt der Druckerzeugnisse.

[4] Originale West-Zeitschriften und -Bücher waren in der DDR sehr begehrt und wurden vielfach „schwarz“ gehandelt, zumeist über DDR-Bürger mit West-Kontakten.

[5] Zur Fluchtbewegung siehe Dokumentenband Nr. 46

[6] Beispielhaft ist der Kommentar in den „Tagesthemen“ der ARD vom 09.11.1989

[7] Siehe Band 7, Dokumente Nr. 1 und 2

[8] Siehe Band 7, Dokument 19, S. 131f

[9] Holzweißig, Gunter, (2008): Wandel der DDR-Medien durch die „Wende.“ In: Casper-Hehne, Hiltraud/ Schweiger, Irmy, Hrsg.: Deutschland und die „Wende“ in Literatur, Sprache und Medien. Interkulturelle und kulturkontrastive Perspektiven. Göttingen: Universitätsverlag, S. 151f.

[10] Siehe Band 7, Dokument Nr. 19, S. 149

[11] Bemerkenswerterweise war es Brandenburg, das als erstes Bundesland überhaupt die sog. innere Pressefreiheit (d.h. inhaltliche Unabhängigkeit der Redakteure gegenüber ihrem Verlag) im Pressegesetz verankerte. Die Befürchtung vor „kapitalistischen“ Verlagsstrukturen war zudem durch die Entwicklung des Pressemarktes in der BRD begründet.

[12] Der Runde Tisch verhandelte die Problematik des Pressevertriebs am 05.02.1990

[13] Vgl.: Links, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen, Berlin 2009, S. 35.

[14] Band 7, Dokument Nr. 1

[15] Vgl. Bundesstiftung Aufarbeitung: http://deutsche-einheit-1990.de/ministerien/mfm/rueg/

[16] Siehe Band 7, Dokument Nr. 3; spezifiziert werden die Bestimmungen in einer Denkschrift zum Einigungs-vertrag (Dokument Nr. 29).

[17] Gewählt wurde der Rundfunkbeauftragte Rudolf Mühlfenzl in einer Sitzung im Bundeskanzleramt durch die Sprecher der neuen Länder, die jedoch kaum durch demokratische Wahlen legitimiert waren. Die neugewählten Ministerpräsidenten waren noch nicht im Amt. Außerdem wurde ein zu großer Einfluss des Bundeskanzlers moniert, zumal Medienangelegenheiten hauptsächlich Ländersache waren. Auch war die Person Mühlfenzl nicht unumstritten.

[18] Vgl. Dohlus, Ernst. In der Grauzone – Wie der Staatsrundfunk der DDR aufgelöst wurde. Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung. 2014 http://www.bpb.de

[19] Vgl. Trautloff, Heike; Brühler, Melanie. Medienrecht und Medienaufsicht; sowie Friedrich/Hommel. Organi-sation und Arbeit der ostdeutschen Landesmedienanstalten. beides in: Machill, Beiler, Gerstner (Hrsg.). Medien-freiheit nach der Wende. Entwicklung von Medienlandschaft, Medienpolitik und Journalismus in Ostdeutsch-land. Konstanz 2010.

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