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Band 42: Juristisches Personal in den neuen Bundesländern (2015)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee

Titel
Band 42: Juristisches Personal in den neuen Bundesländern
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee
Mitwirkende
Alexander Pfennig / Arne Bartzsch, Jean Yhee, Daniel Schumacher, Dung Vu Tien, Hanan El-Asmer, Katharina Müller, Hoon Jung
Art
Text

Juristisches Personal in den neuen Bundesländern[1]

 

 

Alexander Pfennig

in Zusammenarbeit mit Arne Bartzsch, Jean Yhee, Daniel Schumacher,

Dung Vu Tien, Hanan El-Asmer und Katharina Müller

 

 

 

„Unsere Juristen müssen begreifen, dass der Staat und das von ihm geschaffene Recht dazu dienen, die Politik von Partei und Regierung durchzusetzen.“

Walter Ulbricht, Generalsekretär/Erster Sekretär (1950–1971) des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, während der Babelsberger Konferenz im April 1958[2]

 

„War es Recht, dass Wessis über den Streit von Ossis mit Wessis, über Renten, Arbeits-verhältnisse, Immobilien und über das Volkseigentum sprachen?“

Friedrich Wolff, ehemaliger Vorsitzender des Ost-Berliner Anwaltskollegiums[3]

 

Ende 1990 waren etwa 1.600 Richter in Ostdeutschland tätig, dazu 1.000 Staatsanwälte, 1.000 Rechtsanwälte und etwa 5.000 Justitiare (beamtete oder angestellte Rechtsberater). Zur Angleichung an die westdeutsche Personalausstattung wurde damals von einer Verfünf­fachung der Richterplanstellen ausgegangen; für Rechtsanwälte wurde mit etwa 15.000 neuen Arbeitsplätzen gerechnet. 3.000 Rechtspfleger (Beamte des gehobenen Dienstes bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften) wurden benötigt. (Als Beispiel für die Lage im Rechts­pflegebereich auf Landesebene siehe Dokumente Nr. 1 und 12.)

 

Die Bundesregierung führte am 10.09.1990 aus: „Im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik stehen Richter oder Personen, die für eine Tätigkeit als Richter in Betracht kommen, nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung; Rechtspfleger fehlen völlig. Bei sofortiger Voll-übernahme des Rechtspflegerechts der Bundesrepublik müßte für eine ausreichende Justiz-gewährung der Gesamtbestand an Richtern und Personen, die als Rechtspfleger eingesetzt werden können, alsbald vervielfacht werden; das ist nicht erreichbar. Beim sonstigen Justiz-personal sind ähnliche Lücken vorhanden. Richter, Staatsanwälte und Personen, die Rechts-pflegeraufgaben übernehmen können, müssen in dem neu geltenden [Recht] ausgebildet werden; sie müssen zugleich die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gewährleisten. (…) auch das Richterrecht der Bundesrepublik Deutschland [kann] nicht mit der Wirkung einge-führt werden, daß die in ihm vorausgesetzte Dominanz der auf Lebenszeit angestellten Richter alsbald erreicht wird. Hier sind übergangsweise einschneidende Sonderregelungen unver-meidlich.“[4]

 

Inga Markovits[5] berichtete über ein Treffen zwischen Jutta Limbach, der West-Berliner Senatorin für Justiz (1989-1994), und Richtern und Staatsanwälten aus Ost-Berlin am 06.09.1990, im Osten Berlins: „Ärger, Erregung und ungläubiges Erschrecken unter den Zuhörern. Zu viele entrüstete Zurufe, um irgendetwas verstehen zu können. Doch, einen der Senatsvertreter. ‚Sie müssen das einsehen‘, schreit er, ‚Sie kommen aus einem Unrechtsstaat in einen Rechtsstaat! Da können wir nicht jeden nehmen!‘ Bei dem Wort ‚Unrechtsstaat‘ läuft eine Welle der Empörung durch den Raum. Neue Zwischenrufe.“[6]

 

Nicht zu verhindern war nach der friedlichen Revolution in der DDR, dass auch ehemalige Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR dank ihrer Ausbildung als Juristen ihre Zulassung als Rechtsanwalt erwirken konnten, soweit sie strafrechtlich nicht hatten zur Verantwortung gezogen werden können. Ihre politisch-moralische Schuld war strafrechtlich nicht fassbar.[7]

 

 

Studium der Rechtswissenschaft in der DDR

 

Bis in die 1950er Jahre gab es die zweistufige Ausbildung als Student und Referendar zum Volljuristen mit zwei Staatsexamina, danach folgte die Umstellung zum Diplomjuristen. Der Zugang zum Studium war nur im Rahmen einer Delegierung des Ministeriums für Justiz oder des Generalstaatsanwaltes möglich. Vor Beginn des Studiums war als Zulassungsvoraus-setzung ein Antrag zu stellen, dem beizufügen war:

 

1.    Eine Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit durch die Schule, den Betrieb oder die Dienst-stelle der bewaffneten Organe in Abstimmung mit der FDJ-Leitung,

2.    Ein Lebenslauf mit Angaben auch über die Eltern (deren beruflicher Werdegang, beruf-liche und gesellschaftliche und politische Tätigkeiten, Einkommen, Partei- und Konfes-sionszugehörigkeit),

3.    Eine Stellungnahme des Bewerbers zur führenden Rolle der Partei,

4.    Eine Erklärung über „Westkontakte“.

Ab 1974 erhöhte sich der Anteil der politischen Ausbildung auf 43 Prozent der Studieninhalte. Nach dem geltenden Studienplan waren Ausbildungsziele vor allem:

 

·       die Vermittlung eines festen Klassenstandpunktes,

·       die Treue zum sozialistischen Vaterland,

·       der proletarische Internationalismus,

·       die Freundschaft mit der Sowjetunion und die Ablehnung des Kapitalismus,

·       die Auseinandersetzung mit bürgerlichen und revisionistischen Ideologien sowie der Politik des Imperialismus,

·       die Entwicklung der Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit.[8]

 

Die Staaten des Ostblocks bildeten wesentlich weniger Juristen als ihre westeuropäischen Nachbarn aus. 1984/1985 waren pro 10.000 Einwohner zehn Studenten im Fach Rechtswis-senschaft in Jugoslawien eingeschrieben. In Ungarn und Polen waren es jeweils sechs, in der Sowjetunion waren es vier. Die DDR war mit zwei Jurastudenten pro 10.000 Einwohnern das Schlusslicht unter den sozialistischen Bruderländern. Zur gleichen Zeit bildeten westdeutsche Hochschulen 15 und französische/italienische Hochschulen 22 Juristen pro 10.000 Einwohner aus.[9]

 

 

Richter in der DDR

 

In der DDR konnte nach den Worten der Verfassung nur derjenige Richter sein, der „dem Volk und seinem sozialistischen Staat treu ergeben ist“ (Artikel 94). Dies setzt „ihr beruf-liches sowie außerberufliches Handeln für die Politik der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ voraus.[10]

 

Zwar hielt die DDR am Prinzip des „gesetzlichen Richters“ fest (Artikel 101). Dieses Justiz-grundrecht legt fest, dass für Rechtsstreitigkeiten bereits im Voraus bestimmt sein muss, welches Gericht und welcher Richter zuständig ist. Staatsanwaltschaft und Gerichtsdirektor konnten jedoch jeden Rechtsstreit wegen seiner „Bedeutung, Folgen oder Zusammen-hänge“ (§ 30 Gerichtsverfassungsgesetz) vom Kreis- vor das Bezirksgericht bringen. Auch konnte in jedem Verfahren der Direktor bzw. Präsident des Gerichts den Vorsitz übernehmen. Seit 1950 galt, dass der Richter am Ermittlungsergebnis nicht zu zweifeln hat.

 

 

DDR-Richter in der Übergangszeit

 

Seitens des DDR-Justizministeriums wurde bis zur Volkskammerwahl am 18.03.1990 davon aus gegangen, dass nach dem Ausscheiden einzelner exponierter Persönlichkeiten zum Jahreswechsel 1989/1990 alle noch im Amt verbliebenen Richter ohne Überprüfung zu Richtern auf Lebenszeit und neu hinzukommende auf Probe ernannt werden sollten. Während der Justizminister der DDR, Kurt Wünsche (1967–1972 und 11.01.1990–16.08.1990), in seinen öffentlichen Stellungnahmen ein Problembewusstsein erkennen ließ und Entlassungen aufgrund konkreter Tätigkeit oder ausgeübter Funktion nicht ausschloss, vertrat sein Ministerium bei den Gesetzesvorbereitungen den Ansatz möglichst weitgehender personeller Kontinuität. Wünsche vertrat die Ansicht, dass die Gruppe belasteter Juristen relativ klein und übersichtlich sei, denn die große Mehrheit aller Verfahren aus dem Zivil-, Arbeits- und Familienrecht sowie der allgemeinen Kriminalität habe rechtsstaatlichen Anforderungen genügt. Offensichtlich bestand im Justizministerium die Vorstellung, die „wenigen“ Betroffenen könnten durch einen Appell an ihr Gewissen und ihr politisches Verantwortungsgefühl zu einem Rückzug bewegt werden. Es stellt sich die Frage, ob die öffentlichen Äußerungen des Justizministers nur Lippenbekenntnisse und rhetorische Zuge-ständnisse an die neuen politischen Gruppierungen in der DDR waren, während gleich-zeitig das Ziel einer möglichst vollständigen Integration des alten Justizpersonals verfolgt wurde.

 

Der Prozess der Erneuerung des Justizpersonals in der DDR gestaltete sich zunächst schleppend. Im letzten Quartal 1989 schieden nur 17 von 1.238 Staatsanwälten aus, davon elf wegen Erreichens der Altersgrenze oder aus gesundheitlichen Gründen und vier wegen geplanter beruflicher Veränderungen. Nur bei zwei leitenden Berliner Staatsanwälten waren offenbar die politischen Ereignisse Grund des Ausscheidens. Erst im Januar 1990 traten eine Reihe hochrangiger Justizfunktionäre zurück. Seit Dezember 1989 traten außerdem viele Richter und Staatsanwälte aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands aus.[11]

 

Eine grundlegende Änderung brachte das Richtergesetz der DDR vom 05.07.1990; es diente der Herstellung rechtsstaatlicher Zustände in der DDR. Das Gesetz betonte die richterliche Unabhängigkeit (§ 1, Absatz 2) und schloss jegliche Beeinflussung ihrer Entscheidungs-tätigkeit aus (§ 3). Die Dienstaufsicht durfte nicht mehr dazu benutzt werden, die richterliche Entscheidungsfähigkeit zu beeinflussen (§ 7).

 

Das Gesetz unterschied Berufsrichter und ehrenamtliche Richter (§ 1, Absatz 1). (Zur späteren Überprüfung ehrenamtlicher Richter auf Landesebene siehe Dokumente Nr. 27 und 28.) Der Berufsrichter musste von seiner Persönlichkeit her die Gewähr dafür bieten, dass er sein Amt entsprechend den Grundsätzen der Verfassung ausübt (§ 9). Die Berufung der Berufsrichter sollte durch den Minister der Justiz der DDR erfolgen, und zwar nach Zustimmung von Richterwahlausschüssen. Die Berufung auf Lebenszeit blieb einer späteren Regelung vorbehalten (§ 11, Absatz 2). Berufsrichter, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Richtergesetzes der DDR als Richter tätig waren, sollten, wenn sie nach ihrer Persön-lichkeit die Gewähr für eine verfassungsgemäße Amtsausübung im Sinne des § 9, Absatz 1, boten, mit ihrer Zustimmung zum Richter auf Zeit oder Probe berufen werden (§ 45, Absatz 45). Diese Berufung sollte innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten des Richter-gesetzes der DDR erfolgen (§ 45, Absatz 2). (Als Beispiel für diesbezügliche Gesetzgebung auf Landesebene siehe Dokumente Nr. 2, 4 und 13.)

 

Gerade die rechtliche Regelung der Richterbestellung war in der DDR umstritten. Das Richtergesetz der DDR sollte die bisherige Wahl der Richter durch die jeweilige Volksver-tretung ablösen. Außerdem sollte die erstmalige Berufung der bisher amtierenden Richter und der Neubewerber um das Richteramt übergangsweise rechtlich geregelt werden, bis die Berufung durch die künftigen Minister der Justiz in den neuen ostdeutschen Ländern erfolgen konnte. Eine sofortige Berufung auf Lebenszeit verbot sich schon deshalb, weil die DDR kein Beamtenrecht kannte, aber auch weil die Übernahme der bisher amtierenden Richter auf Lebenszeit (auch nach einer Prüfung ihrer Eignung im Sinne des § 9, Absatz 1, Richtergesetz der DDR) bedenklich erschien. In der DDR wurde die starke Verknüpfung des Richterwahl-ausschusses mit dem Parlament von Seiten der Richterschaft kritisiert. Andererseits verband sich mit dem Richtergesetz der DDR die Hoffnung, einen Mittelweg gefunden zu haben zwischen einerseits einer unbesehenen Übernahme auch politisch belasteter Richter und ande-rerseits einem „Kahlschlag“ in der Richterschaft der DDR.

 

Übernahme von DDR-Richtern im vereinten Deutschland

 

Die im neuen Bundesgebiet am 03.10.1990 amtierenden bisherigen DDR-Richter blieben vorläufig im Amt. Ihr Richterverhältnis bestand nach dem Einigungsvertrag bis zum 15.04.1991 fort und richtete sich nach dem DDR-Richtergesetz vom 05.07.1990. Bis zum 15.04.1991 entschieden Richterwahlausschüsse über den Fortbestand des Richterverhältnisses (Einigungsvertrag, Anlage I, Kapitel III A, Abschnitt III, Nr. 8, Maßgabe o, Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 929). Die Richterwahlausschüsse sind aufgrund einer ebenfalls im Juli 1990 von der Volkskammer der DDR beschlossenen Ordnung zu bilden. Sie bleiben auch nach Bildung der ostdeutschen Bundesländer bestehen. Die ostdeutschen Landtage üben die Rechte hinsichtlich der Richterwahlausschüsse aus. Nach Landesrecht können die in den Aus-schüssen amtierenden Abgeordneten der Volkskammer durch Landtagsabgeordnete der ost-deutschen Länder ersetzt werden.

 

Die Übernahme bzw. Weiterbeschäftigung bisheriger DDR-Richter ist eines der schwierigsten und meistdiskutierten Themen der Rechtspflege im neuen Bundesgebiet. Klammert man die unmittelbaren Akteure der politischen Justiz der DDR aus, die nicht übernommen werden konnten, so gibt es widerstreitende Argumente. Einerseits war auch der mit „neutralen“ Rechtssachen betraute Richter ein ideologisch geschulter und nach politischer Zuverlässigkeit ausgelesener Jurist, der die politische Instrumentalisierung der Justiz mitge-tragen hat. Ein weiteres Bedenken ergibt sich daraus, dass der DDR-Richter nach Ausbildung und Berufspraxis den Anforderungen nicht ohne Weiteres gewachsen ist, die sich nicht nur aus der mangelnden Kenntnis des Bundesrechts ergibt, sondern auch aus dem weitaus höheren Stand der ausdifferenzierten Rechtstechnik und Normfülle als Korrelat einer komplexen freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Andererseits darf die Bereitschaft und Motivation zur Fortbildung nicht verneint werden. Ferner kann die bloße Anpassung an das unentrinnbare System der Vergangenheit nicht per se zum Vorwurf gereichen. Schließlich ist die Mitwirkung von DDR-Richtern, welche die örtlichen Verhältnisse und Menschen kennen, auch für die Rechtsprechung von Vorteil.

 

Der Einigungsvertrag geht daher im Grundsatz den Weg der vorsichtigen Integration. In ein Richterverhältnis kann deshalb auch berufen werden, wer die Befähigung zum Berufsrichter nach dem Recht der DDR erworben hat (Einigungsvertrag, Anlage I, Kapitel III A, Abschnitt III, Nr. 8, Maßgabe a). Die Regelung knüpft ferner an das im Sommer 1990 geschaffene Richtergesetz der DDR an (Gesetz vom 05.07.1990, Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1990, Nr. 42, S. 637). Wer nach diesem Gesetz und den Regelungen über die Richterwahlausschüsse in ein Richterverhältnis auf Zeit oder Probe berufen worden ist, darf dieselben Aufgaben wahr-nehmen wie Richter auf Lebenszeit (Maßgabe d).

 

Die Regelung will die Berufung in das Richteramt auf Lebenszeit zwar ermöglichen, aber eine gewisse Erprobungs- und Überprüfungszeit dazwischenschalten (Dokumente Nr. 22–24). Wer nach dem Recht der DDR die Befähigung zum Berufsrichter erworben hatte, kann zum Richter auf Lebenszeit ernannt werden, aber erst wenn der mindestens drei Jahre nach dem 03.10.1990 im richterlichen Dienst tätig war (Maßgabe b). Ein Richter, der nach dem Richtergesetz vom Juli 1990 Richter auf Probe geworden ist, ist spätestens fünf Jahre nach der Ernennung zum Richter auf Lebenszeit zu ernennen (Maßgabe e). Die Regelung rechnet mit der Möglichkeit, dass für eine gewisse Zeit an einem Spruchkörper nur Richter auf Zeit und auf Probe tätig sind, und lässt dies ebenso wie den Vorsitz eines solchen Richters in einem Spruchkörper zu (Maßgabe m). Die Ernennung eines nach dem Richtergesetz der DDR 1990 berufenen Richters auf Probe oder auf Zeit ist zurückzunehmen, wenn nachträglich Tatsachen bekannt geworden sind, die seine Berufung nicht gerechtfertigt hätten (Maßgabe h). Die ostdeutschen Bundesländer regeln Zuständigkeit und Verfahren für eine Rücknahme (Maßgabe p).

 

Zur fachlichen Qualifikation trifft die Übergangsregelung ebenfalls besondere Bestimmungen. Wer am 03.10.1990 die Befähigung zum Berufsrichter erworben hat oder demnächst erwirbt, behält dieses Befähigung (Maßgabe y aa). Wer aufgrund dieser Qualifikation in ein Richterverhältnis auf Lebenszeit berufen wird, kann auch in einem Richteramt im übrigen Bundesgebiet tätig werden (Maßgabe y bb). Diplomjuristen der DDR mit einer mindestens dreijährigen Berufserfahrung erwerben nach erfolgreicher Einarbeitungszeit von einem Jahr bei einem Gericht die Befähigung zum Berufsrichter (Maßgabe y ff). Ferner wird der Abschluss eines rechtswissenschaftlichen Studiums als Diplomjurist an einer Universität oder wissenschaftlichen Schule der ersten juristischen Staatsprüfung gleichgestellt (Maßgabe y gg).

 

 

Die Rechtsanwaltschaft in der DDR

 

In der DDR waren Ende 1989 rund 600 Anwälte tägig. Sie waren zu 95 Prozent in so genannten Kollegien auf Bezirksebene organisiert. Zuletzt (1988 bis 1989) war Gregor Gysi Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte in Berlin-Ost und gleichzeitig Vorsitzender der 15 Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR. In dieser Eigenschaft war Gysi am 12.09.1989 zusammen mit dem Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in Prag, um die DDR-Flücht-linge in der bundesdeutschen Botschaft zur Rückkehr in die DDR aufzufordern. Der DDR-Bevollmächtigte für humanitäre Fragen, Wolfgang Vogel, hatte eine Anwaltszulassung in Berlin-Ost und Berlin-West. Eine Sonderrolle spielte auch der Strafverteidiger und Publizist Friedrich Karl Kaul, der als Rechtsanwalt zur Verteidigung von Linken vor bundesdeutschen Strafgerichten auftrat.

 

Die Zulassung zum Anwaltsberuf erfolgte durch den Aufnahmebeschluss durch das Kollegium. Einzelzulassungen wurden meist für Rechtsanwälte auf Spezialgebieten wie insbesondere Staatsdelikten (z.B. Republikflucht) vergeben. Rechtsanwalt war auch in der DDR ein privilegierter Beruf mit hohem Einkommen bei relativer Selbständigkeit. Von den Einnahmen mussten 40 Prozent als Kostenpauschale an das Rechtsanwaltskollegium abge-führt werden. Bis in die 1950/1960er Jahre hatten die Pflichtverteidiger in politischen Straf-verfahren keine wirkliche Einwirkungsmöglichkeit. 1980 wurde das Kollegiengesetz einge-führt, das die seit 1953 bestehende Verordnung ersetzte.

 

Der Rechtsberatungsbedarf in der DDR war gemäß den dortigen Lebensverhältnissen weitaus geringer, insbesondere im Zivil- und Wirtschaftsrecht, zumal anders als in der Bundesrepublik (§ 78 Zivilprozessordnung) kein Anwaltszwang bestand. Hinzu kamen die Lücken im gerichtlichen Rechtsschutz. Eine anwaltliche Beratung von Behörden und Unternehmen sollte nur ausnahmsweise stattfinden. Die anwaltliche Tätigkeit war durch das Gesetz über die Kollegien der Rechtsanwälte der DDR geregelt. Die Gebühren bestimmten sich nach der Rechtsanwaltsgebührenordnung. Die Ausbildung umfasste wie bei den Richtern, Staats-anwälten und Notaren eine vierjährige Universitätsausbildung mit Examensabschluss und eine anschließende einjährige Assistentenzeit in den Zweigstellen des Anwaltskollegiums mit abschließender schriftlicher Prüfungsarbeit. Eine Kenntnis des westlichen Zivil-, Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts war nicht Gegenstand der Ausbildung. Der Bundes-gerichtshof hat es abgelehnt, die Ausbildung von DDR-Anwälten als gleichwertig mit der volljuristischen Ausbildung der Bundesrepublik anzuerkennen. Die Anwaltschaft war nicht unabhängiges Organ der Rechtspflege, sondern litt an den Mängeln rechtsstaatlicher Verhält-nisse in der DDR.

 

Neugestaltung in der Übergangszeit in der DDR

 

Durch die Verordnung über die Zulassung von Rechtsanwälten mit eigener Praxis vom Februar 1990 wurde die grundsätzliche Einbindung der Rechtsanwälte in Anwaltskollegien gelockert und es wurde erstmals in der DDR der freie Zugang zur Anwaltschaft für jeden Inhaber des juristischen Staatsexamens anerkannt, ohne dass die früher erforderliche einjährige Ausbildung als Rechtsanwaltsassistent gefordert wurde. Es setzte ein starker Zulauf zur Anwaltschaft ein, wobei auch die geringen Qualifikationsanforderungen der Verordnung nicht eingehalten wurden. Die bestehenden Kollegien lösten sich in Einzelpraxen oder Sozie-täten auf. Es wurden örtliche Anwaltsvereine gebildet und Anwaltskammern gegründet. Der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sah als Regelungs-ziele auf dem Gebiet der Rechtsberatung vor: „Freier Zugang zum Beruf des Rechtsanwalts und gerichtliche Beratungs- und Vertretungsbefugnis der Rechtsanwälte in allen Rechtsange-legenheiten“ (Anlage III, Abschnitt II, Nr. 21 h, Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 556).

 

 

Zulassung von bundesdeutschen Rechtsanwälten in der Übergangszeit

in der DDR

 

Für die Tätigkeit bundesdeutscher Anwälte in der DDR in der Übergangszeit hatte zunächst das Justizministerium der DDR Einzelgenehmigungen erteilt, sodann Genehmigungen aufgrund einer allgemeinen Regelung in einer Anordnung vom 17.04.1990.[12] Die Anordnung betraf die Eröffnung eines Büros in der DDR „als Zweitbüro“ in Sozietät mit einem DDR-Anwalt. Der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sah eine weitgehende Gleichstellung bundesrepublikanischer Rechtsanwälte mit DDR-Rechts-anwälten in der DDR vor (Anlage III, Abschnitt II, Nr. 21 h, Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 556). Die DDR erließ dazu am 07.06.1990 eine Anordnung über die Tätigkeit in der Bundesrepublik zugelassener Rechtsanwälte in der DDR. Die Anordnung regelte die Niederlassungsfreiheit (§ 3) in der DDR für Rechtsanwälte, die in der Bundesrepublik zuge-lassen waren. Der Umfang der Berechtigung zur Rechtsbesorgung der in der DDR nieder-gelassenen Anwälte aus der Bundesrepublik erstreckte sich auf Beratung zum Recht der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaften sowie zum DDR-Recht, soweit es mit dem der Bundesrepublik übereinstimmte (§ 4).

 

 

Zulassung von DDR-Rechtsanwälten in der Übergangszeit

in der Bundesrepublik

 

Die Bundesrepublik sah in Artikel 21 des Gesetzes zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik die Erleichterung der Tätigkeit von Rechtsanwälten aus der DDR in der Bundesrepublik vor, soweit es sich um eine rechtsberatende Tätigkeit zum DDR-Recht im grenzüberschreitenden Verkehr handelte. Die Niederlassungsfreiheit der DDR-Rechtsanwälte in der Bundesrepublik für Rechtsberatung zum DDR-Recht wurde per Verordnung durch den Bundesjustizminister geregelt.

 

Die neue Rechtslage im vereinten Deutschland

 

Im neuen Bundesgebiet mit Ausnahme Ost-Berlins galt zunächst das Rechtsanwaltsgesetz der DDR vom 13.09.1990 nach Maßgaben des Einigungsvertrags fort (Anlage II, Kapitel III A, Abschnitt III, Nr. 1, Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 1156). Die Bundesrechtsanwalts-ordnung, die das Berufsrecht der Rechtsanwälte in der Bundesrepublik regelt (u.a. Rechte und Pflichten gegenüber Mandanten und Dritten), wurde nur in Berlin-Ost eingeführt, so dass sie wenigstens im ganzen Land Berlin einheitlich galt. Im Rechtsanwaltsrecht und im Notarrecht blieb es also bei einem uneinheitlichen Zustand. Eine wesentliche Annäherung an die Rechtseinheit wurde allerdings dadurch erreicht, dass das Rechtsanwaltsgesetz der DDR in den wesentlichen Grundsätzen, im Aufbau und in vielen Einzelregelungen mit der Bundes-rechtsanwaltsordnung übereinstimmt. Im Gebührenrecht ist Rechtseinheit erreicht: Es gelten die Gebühren der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung nach der Maßgabe des Einigungs-vertrags, dass im neuen Bundesgebiet eine Gebührenermäßigung von 20 Prozent gilt. Maßgeblich dafür ist entweder der Sitz der Kanzlei im neuen Bundesgebiet oder, sofern eine Rechtssache vor einem dortigen Gericht zu betreiben ist, der Sitz der Partei im neuen Bundes-gebiet.

 

Nach der Vereinigung am 03.10.1990 erhielten auch die Richter und Staatsanwälte der neuen Länder die Möglichkeit, an den Fortbildungsveranstaltungen der Deutschen Richterakademie teilzunehmen. Die Deutsche Richterakademie wurde 1967 bei der 35. Justizministerkonferenz vom Bund und von den Ländern ins Leben gerufen.

 

 

Probleme der Rechtsberatung in Ostdeutschland

 

Schon als es in der Übergangszeit um die Anerkennung der anwaltlichen Tätigkeit von DDR-Juristen in der Bundesrepublik ging, wurde kritisch auf deren geringeren Ausbildungsstand und die geringere berufliche Erfahrung hingewiesen. Allgemein bestand für die DDR-Juristen sowohl das Erfordernis der Umgewöhnung in rechtsstaatliche Denkweisen und Verhältnisse als auch die Schwierigkeit, mit einem zunächst unbekannten, hochkomplexen Recht und einer verfeinerten, komplizierten Rechtsanwendungstechnik zurechtzukommen. Dabei bleibt für den Juristen, der die DDR-Qualifikation als Anwalt im Sinne von § 4 des DDR-Rechts-anwaltsgesetzes hat, die Zulassung gemäß § 5 des Rechtsanwaltsgesetzes der DDR auf Ostdeutschland beschränkt. Darüber geht die Regelung in Anlage I des Einigungsvertrags (Kapitel II, Abschnitt II, Nr. 2) hinaus. Hiernach steht ein Rechtsanwalt einem im jeweils anderen Gebiet zugelassenen Kollegen gleich. Damit ist auch der Wechsel der Zulassung von dem einen in das andere Gebiet möglich.

 

Das größere Problem bildete die Unterversorgung des neuen Bundesgebiets mit Rechts-anwälten. In der freien Wirtschaft und Gesellschaft ist der Bedarf an Rechtsberatung ungleich höher als in den statisch-bürokratischen Verhältnissen des Sozialismus. Die Überleitung der Wirtschaft in marktwirtschaftliche Rechtsformen, insbesondere die Privatisierung der ehemals sozialistischen Unternehmen, die Klärung der zahllosen Eigentumsfragen und anderer Über-leitungsfragen haben einen zusätzlichen, sehr hohen Bedarf an anwaltlicher Beratung und Betreuung erzeugt. Zahlreiche Anwälte aus dem westlichen Bundesgebiet haben daher eine Tätigkeit im neuen Bundesgebiet aufgenommen; zahlreiche Sozietäten haben Zweitbüros dort gegründet.

 

Nach dem Einigungsvertrag ist jeder westdeutsche Jurist, der die Befähigung zum Richteramt im Sinne des Deutschen Richtergesetzes erworben hat, zur Zulassung als Anwalt im Sinne des Rechtsanwaltsgesetzes der DDR im Ostdeutschland qualifiziert (Anlage II, Kapitel II A, Abschnitt III, Nr. 1 e, Bundesgesetzblatt, Teil II, 1990, S. 1156). Der Rechtsanwalt musste allerdings eine Kanzlei im Gerichtsbezirk des Bezirksgerichts, bei dem er registriert ist, unterhalten (§ 21, Absatz 1, in Verbindung mit § 24, Absatz 2, Rechtsanwaltsgesetz der DDR). Ferner hat er eine Residenzpflicht im betreffenden Bundesland (§ 24, Absatz 1, Rechts-anwaltsgesetz der DDR).


[1] Für diese Einleitung wurden zahlreiche Passagen mit geringfügigen Änderungen übernommen aus: Horn, Norbert. 1991. Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet. Köln: Verlag Kommunikationsforum GmbH.

[2] Die Babelsberger Konferenz vom 02./03.04.1958 war eine rechtswissenschaftliche Konferenz. Auf der Konferenz wurden wesentliche Grundlagen für die in der Deutschen Demokratischen Republik herrschende Rechtstheorie und vor allem Rechtspraxis gelegt.

[3] Wolff, Friedrich. 2005. Einigkeit und Recht. Die DDR und die deutsche Justiz. Politik und Justiz vom Schieß-befehl Friedrich Wilhelms IV. bis zum „Schießbefehl“ Erich Honeckers. Berlin: edition ost. S. 7. Wolff war Strafverteidiger in DDR-Strafprozessen, z.B. den Prozessen gegen Beteiligte des Aufstandes vom 17.06.1953. Im vereinigten Deutschland verteidigte er u.a. Hans Modrow (Vorsitzender des Ministerrates der DDR, 1989/ 1990) und Erich Honecker (Erster Sekretär/Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheits-partei Deutschland, 1971–1989).

[4] Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erläuterunge zu den Anlagen zum Vertrag zwischen der Bundes-republik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 – Einigungsvertrag; Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/7818.

[5] Lehrstuhlinhaberin an der University of Texas School of Law.

[6] Markovits, Inga. 1993. Die Abwicklung. Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz. München: Verlag C.H. Beck. S. 17.

[7] Fricke, Karl-Wilhelm. 2010. Praxis der Anwaltstätigkeit in der SBZ und der DDR. Rahmenbedingungen und Organisationsstruktur der Anwaltschaft in Ostdeutschland von 1945–1990. Anwaltsblatt 12/2010. S. 36.

[8] http://www.strafakte.de/historisches/marxistische-juristenausbildung-in-der-ddr, Abrufdatum: 10.01.2016

[9] Markovits, Inga. 2011. Zwischen Macht und Recht. Glaubten DDR-Juristen an den Sozialismus – und wie willig dienten sie ihm? Der Tagesspiegel, 09.09.2011.

[10]Grieger, Helmut. 1977. Gerichtsverfassungsrecht. Potsdam-Babelsberg, S. 24.

[11] Engelmann, Roger und Vollnhals, Clemens (Hrsg.). 1999. Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. Berlin: Ch. Links Verlag. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Heraus-gegeben von der Abteilung Bildung und Forschung. S. 421–423.

[12] Anordnung über Büros außerhalb der DDR zugelassener Rechtsanwälte, Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1990, S. 241.

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