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Band 17: Gesundheits- und Rentensystem (2010)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig

Titel
Band 17: Gesundheits- und Rentensystem
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Mitwirkende
Jörg Becker / Arne Bartzsch, Hoon Jung
Schlagwörter
Gesundheit


Einleitende Bemerkungen zu „Gesundheits- und Rentensystem“

 

 

In der Vergangenheit waren fast überall, und in weiten Teilen der Welt, -meist in agrarisch bestimmten Gesellschaften,- sind noch immer Gesundheitssicherung und Altersvorsorge Privatangelegenheiten. Die Menschen müssen sich, soweit es ihnen möglich ist, um sich selbst kümmern.

In arbeitsteiligen Industriegesellschaften, zumal in solchen mit einem großen Urbanisierungsgrad, werden diese Bereiche durch ein Mischsystem von staatlich organisierter Hilfe und individuellen Bemühungen gesichert. Vor rund 130 Jahren wurden in Mitteleuropa Systeme von staatlich geförderter Krankenversicherung und Sozialfürsorge aufgebaut; ein Beispiel ist die von Bismarck in Deutschland 1883 durchgesetzte Sozialgesetzgebung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses System besonders von sozialdemokratisch geführten Regierungen, insbesondere in Skandinavien, zu einem „Wohlfahrtsstaat“ ausgebaut: je nach Einkommen, eine Kombination aus staatlicher Fürsorge und privater; hohe Steuern und Gebühren, dafür aber eine Fülle staatlicher Leistungen.

 

 

Probleme des Wohlfahrtsstaates, des Sozialsystems

Diese Systeme sind schwerfällig, haben zu viel Verwaltungsaufwand, d. h. Bürokratie, sie werden immer teurer und können nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren:

·         Diejenigen, die Arbeit haben, zahlen Abgaben und Beiträge.

·         Ein „Generationenvertrag“ sorgt dafür, dass die Älteren durch ihre Beiträge (Steuern) Jüngeren den Schulbesuch, das Studium oder anderweitige Ausbildungen ermöglichen und auch Mittel ansparen für die eigene Altersversorgung.

·         Haben diese Jüngeren dann einen Arbeitsplatz gefunden, zahlen sie mit ihren Beiträgen (Steuern) für die Altersversorgung und andere Notwendigkeiten der Älteren, und sie leisten, wie der Alten vor ihnen, Vorsorge für den eigenen späteren Ruhestand.

·         Der Staat schafft institutionelle Rahmen wie Krankenkassen und Rentensysteme, die durch individuelle Beiträge sowie Zuschüsse des Staates und Arbeitgeberleistungen gespeist werden.

 

Diese Systeme stehen in Europa und auch in der Republik Korea[1] vor ähnlichen Problemen:

·         die Menschen werden älter,

·         die Ausbildungszeit wird länger,

·         junge Menschen finden schwer einen Arbeitsplatz,

·         lebenslange Beschäftigung bei einem Arbeitgeber, in einem Beruf, war früher oft die Regel, wird jetzt immer mehr zur Ausnahme,

·         der Staat hat weniger Einnahmen,

·         Kosten für Behandlungen bei Krankheit und Pflegekosten sowie für den Erhalt eines gewohnten Lebensstandards im Alter steigen,

·         traditionelle Träger von Krankenhäusern und Altenheimen (Staat und Kirchen zum Beispiel) werden weniger,

·         durch die Modernisierung der Gesellschaft und die Urbanisierung wird Unterstützung und Pflege, wie sie früher die Familie leistete, immer weniger,

·         Gesundheit und Altenversorgung werden immer stärker Aktionsfelder der Privatwirtschaft,

·         Macht und Einfluss der Berufsverbände und der Pharmaindustrie vergrößern sich.

 

 

Krise des Sozialstaats generell und verschärft durch Wiedervereinigung

Das Modell des Sozialstaats steckt in großen Schwierigkeiten, wird aber dennoch praktiziert; im Verlauf des deutschen Einigungsprozesses wurde dieses System auf die neuen Bundesländer ausgedehnt. Die bereits deutlich erkennbaren Probleme wurden dadurch verschärft: viele Menschen wurden Mitglieder des Systems, erhielten Leistungen (Krankenversicherung, Renten) ohne dass sie in die dafür vorhandenen Kassen vorher etwas hätten einzahlen können.

Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik betont, bei allen staatlichen Zahlungen, die Selbstverantwortung; das in der DDR praktizierte System war fürsorglich und vormundschaftlich organisiert.

Nur wenige Bestandteile des Gesundheits- und Rentensystems der DDR konnten übernommen werden, außerdem wurde das Defizit der Krankenversicherung der DDR allein für das erste Halbjahr 1990 auf etwa 4 Milliarden DM geschätzt. (Zur Problematik der Anpassung siehe Dokument 3, zum Defizit Dokument 19.)

 

Gerhard A. Ritter[2] hat die doppelte Problematik anschaulich beschrieben: Verstärkung der bestehenden Schwierigkeiten des Sozialstaates durch zusätzliche Belastungen, die der Einigungsprozess verursachte. Bei aller Unterschiedlichkeit könnten auf Korea ähnliche Probleme zukommen.

 

 

Systemwechsel in Deutschland und Konsequenzen

In der Bundesrepublik gelang es im Zeitraum von 1975 bis 1990, durch zahlreiche Kostendämpfungsbemühungen und andere gesetzgeberische Maßnahmen, die Sozialleistungsquote auf 29, 5 % zu senken.

Dann wurden im Jahre 1990 zwei wichtige Verträge geschlossen:

1.      Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990. (Im Zusammenhang mit dieser Union erfolgte u. a. ein westdeutsches Angebot zur Einführung von Krankenkassen mit Selbstverwaltung, siehe Dokument 18, zur Problematik der Umstellung Dokument 20).

2.      Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertag vom 12. September 1990. (Zu Auswirkungen dieses Vertrages aus Sicht der Krankenkassen siehe Dokument 27.)

 

Beide Vertragswerke sehen die Übernahme des Sozialsystems vor (Dokument 1, Auszug aus dem Einigungsvertrag). Durch die Übertragung des Sozialsystems der Bundesrepublik auf die neuen Bundesländer erhöhte sich die Sozialleistungsquote erneut und lag im Jahre 1996 bei 34,9 %; erschwerend kam hinzu, dass die Zahl der registrierten Arbeitslosen auf vier Millionen anstieg.

 

Andreas Meusch hat einige der hauptsächlichen neuen Belastungen des Systems, die nicht durch Beitragsleistungen ausgeglichen wurden, zusammengefasst:

„ - Die Übertragung des gesamten Leistungsrechts einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation führt zu erheblichen Leistungsverbesserungen bei den Betroffenen und Ausgabensteigerungen für die Rentenversicherungsträger.

- Die Besitzstandswahrung hat zur Folge, dass auch hohe Ansprüche, die auf systemkonformem Verhalten zu DDR-Zeiten beruhen, zum Teil vom jetzigen Rentenversicherungsträger finanziell befriedigt werden müssen. Die Auseinandersetzung um die Rentenzahlungen an Erich Honecker waren dafür das prominenteste Beispiel.

- Die Absicht, erlittenes Unrecht zu DDR-Zeiten wenigstens materiell zu kompensieren, hat mit dem zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz dazu geführt, dass der Rentenversicherung die Kosten dafür auferlegt wurden. Renten mussten deshalb neu berechnet werden, weil Menschen wegen politisch motivierter Verfolgungsmaßnahmen in der DDR eine Erwerbstätigkeit nicht ausüben oder nur ein vermindertes Einkommen erzielen konnten.“[3] (Zur Vereinheitlichung des Rentenrechts siehe Dokument 2; praktische Arbeitsanleitungen und Richtlinien zur Rentenberechnung finden sich in Dokumenten 4 bis 9)

 

 

Aufbauphase: Verunsicherungen und Übergangsregelungen

In der Übergangsphase ab Oktober 1990 war es notwendig, schnell praktikable Regelungen zu finden, weil Kompetenzen unklar waren und weil es in der Bevölkerung bezüglich Zuständigkeiten bei der Bezahlung von ärztlichen Gebühren sowie der Gültigkeit von Gutachten Unsicherheiten gab (Dokumente 11 und 15).

 

Die Verunsicherung herrschte aber nicht nur bei Patienten, denn auch das Personal im Gesundheitswesen war über die Sicherheit seines Arbeitsplatzes besorgt und das bereits vor dem 3. Oktober 1990, deshalb traft das Ministerium für Gesundheit eine Vereinbarung mit der Gewerkschaft Gesundheits- und Sozialwesen der DDR. (Dokument 12). Zu klären war auch die Anerkennung, bzw. die weitere Gültigkeit der Zulassung (Approbation) von Ärzten (Dokument 49). Es wurde eine Gleichstellung beschlossen, die beinhaltete, dass die nach DDR-Recht erteilten Approbationen als solche im Sinne der Bundesärzteordnung galten.

 

Bedingt durch die Währungsunion gab es Vereinbarungen, so z. B. über Gehälter und Löhne für Mitarbeiter in der Sozialversicherung der DDR (Dokument 13) und über gestiegene Kosten (Dokument 21; Dokumente 51und 52 schildern Probleme bei Pflegesätzen). Wie auch in anderen Bereichen, so war während der Übergangsphase der Zeitdruck enorm, was Neuansätze, Reformen und die Beibehaltung von Bewahrenswertem erschwerte bzw. sogar unmöglich machte. Dies schilderte in einem Gespräch anschaulich Herbert Mrotzeck, der bis 1990 Direktor der Sozialversicherung der DDR war (Dokument 14).

 

 

Widerstand westdeutscher Standesvertreter (aus ökonomischem Konkurrenzdenken)

Teile der organisierten Ärzteschaft (Kassenärztliche Vereinigungen) und der Pharmaindustrie sowie andere Verbandsfunktionäre in der Bundesrepublik sahen im Fortbestand von einigen Komponenten des Gesundheitswesens der DDR Konkurrenzbetriebe und ihr Wiederstand führte zu Abwicklungen bzw. zur gravierenden Einschränkung von Institutionen und Dienstleistungen, die in der DDR durchaus geschätzt wurden. (Dokument 45, Gespräch mit Hartmut Reiners. Zur Diskussion um Polikliniken siehe Gespräch mit Rudolf Müller, Dokument 46. Den Widerstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gegen die Zulassung von Krankenhausambulanzen zur medizinischen Versorgung schildert Dokument 53.)

 

 

Aktivitäten von Krankenkassen in der Aufbauphase

In der Aufbauphase des neuen Systems wurde versucht, an frühere Entwicklungen anzuknüpfen (Krankenkassen, die im Osten vor 1945 tätig waren) und es wurde Personal aus der Sozialversicherung der ehemaligen DDR weiterbeschäftigt. Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) benannte „Errichtungsbeauftragte“ (Dokument 25), die helfen sollten, die AOK in den neuen Bundesländern zu etablieren, wozu neben Personal auch ein großer Finanzbedarf erforderlich wurde. (Dokument 16 schildert dies am Beispiel von Brandenburg; zur Aufbauphase Dokument 24, zu den Kosten siehe Dokument 22). Die Erfahrungen und Herausforderungen schilderte Bernd Grieger, der erste Direktor der AOK Brandenburg. Die Anfangsphase wurde durch schlechte Infrastruktur und mangelnde Kooperationsbereitschaft der Pharmaindustrie zusätzlich erschwert (Dokument 17).

 

Mit Infrastruktur sind hier nicht nur schlechte Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen gemeint, es gab auch erhebliche Schwierigkeiten beim Zahlungsverkehr, so z. B. bei dem Einzug von Beitragszahlungen für Krankenkassen, der über Finanzämter der DDR abgewickelt werden sollte, was dort und wegen der langen Bearbeitungszeiten bei Banken problematisch war. (Dokumente 23 und 28)

 

 

Vorbereitungsmaßnahmen westdeutscher Krankenkassen

Westdeutsche Krankenkassen stellten früh im Jahre 1990 Überlegungen an, was erforderlich wäre für eine Ausweitung ihrer Aktivitäten auf das Gebiet der DDR. Um die Informationslage (Dokument 38) zu verbessern wurden Gespräche mit Vertretern des dortigen Sozialversicherungssystems geführt und Kontaktbüros errichtet (Dokumente 32-36). Nicht alle betroffenen Mitarbeiter westdeutscher Kassen waren ihrer Abordnung in den Osten zufrieden (Dokument 37). Einige waren mit dem neuen Tätigkeitsfeld nicht einverstanden, andere nicht mit den im neuen Einsatzbereich herrschenden Lebensbedingungen, oder es wurden bestimmte Einsatzorte wie zum Beispiel Bitterfeld abgelehnt, wegen der dortigen Umweltbedingungen.

Die Kassen waren um gütliche Beilegung und Schlichtung bemüht, denn die neuen Bundesländer galten als lukrativer neuer Markt für Krankenversicherung und hier standen westdeutsche Kassen in Konkurrenz gegeneinander. (Zu Ausbau und Marktanteilen siehe Dokument 40)

 

 

Tempo der Entwicklung und Schwierigkeit von verlässlichen Prognosen

Nach der Volkskammer-Wahl in der DDR im März 1990 war anzunehmen, dass es zu einer deutschen Einigung kommen würde, die wohl auch eine Übertragung des westdeutschen Sozialsystems auf die DDR bedeutete. Die Krankenkassen bereiteten sich auf die vermutete Entwicklung vor, hatten aber Defizite bezüglich Kenntnisse über die Verhältnisse in der DDR, bei Kapazitätsberechnungen und in anderen Bereichen; es wurde vielfach angenommen, dass es noch für einen längeren Zeitraum zwei deutsche Staaten geben werde. (Dokument 41) Alle beteiligten Akteure wurden von der schnellen Entwicklung überrascht und waren bemüht, sich den neuen Bedingungen anzupassen (Dokumente 42 und 43, 44).

 

 

Problem für Korea

Nordkorea ist leider etwas Einmaliges gelungen: ein Industriestaat hat sich in einen Agrarstaat zurückverwandelt, der nicht in der Lage ist, seine eigene Bevölkerung zu ernähren. Auch die Gesundheitsversorgung ist nur rudimentär gegeben. Die Bevölkerung lebt zum großen Teil von Zuteilungen des Staates, die aber nicht ausreichen; für erfolgreiche Eigeninitiative gibt es aber zu wenige Möglichkeiten. Das was von diesem System noch funktioniert könnte bei einer grundlegenden Reform, oder Vereinigung mit dem Süden, zusammenbrechen. Trotz aller negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit wäre die Erwartungshaltung gegenüber staatlichen Leistungen groß, vermutlich zu groß. Korea wird ein leistungsfähiges und finanzierbares System schaffen müssen, zu dem die Bevölkerung des Nordens zumindest in einer Übergangsphase kaum einen finanziellen Beitrag wird leisten können.

 

 

Trotz langer Beschäftigung mangelnde Kenntnisse

In der Bundesrepublik und Berlin (West) gab es eine Fülle von Institutionen, die sich fast ausschließlich mit der DDR beschäftigten (Ministerien, Universitätsinstitute, Forschungs-einrichtungen). Im Vergleich zur Situation auf der koreanischen Halbinsel waren die Informationsmöglichkeiten weitaus besser. Dennoch stellte sich 1989-90 heraus, dass die gesammelten Informationen nicht immer zutreffend und insgesamt völlig unzureichend waren. Dies gilt nicht nur für das hier behandelte Thema (Gesundheit, Renten) sondern für die Kenntnisse über die DDR ganz allgemein.

 

Dieses Defizit an Informationen, die aber gerade bei einer Wiedervereinigung von zentraler Bedeutung sind, ist vermutlich auch in Korea vorhanden.


[1]Siehe hier zum Beispiel Mishra, Ramesh; Kuhnle, Stein; Gilbert, Neil; Chung, Kyungbae, Hrsg.: Modernizing the Korean Welfare State. Towards the Productive Welfare Model. New Brunswick, London: Transaction Publishers, 2004.

[2]Ritter, Gerhard A.: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. München: C. H. Beck, 2007.

[3]Meusch, Andreas: Sozialpolitik. In Weidenfeld, Werner und Korte, Karl-Rudolf, Hrsg.: Handbuch zur deutschen Einheit 1949-1989-1999. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1999. S. 704.

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