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Band 06: Bereiche gesellschaftlicher Veränderungen (2010)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig

Titel
Band 06: Bereiche gesellschaftlicher Veränderungen
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Mitwirkende
Hae-Won Choi, Hye-Jin Choi, Richard Pfennig / Christian Schulten, Hoon Jung
Schlagwörter
Gesellschaft, Generation


Bereiche gesellschaftlicher Veränderungen:

Ost-West Spaltung, Demographie und Konsumverhalten

 

Werner Pfennig

 

 

Gesellschaft ist die umfassende Ganzheit eines dauerhaft geordneten, strukturierten Zusammenlebens von Menschen innerhalb eines bestimmten räumlichen Bereichs.

(Karl Heinz Hillmann)

 

Gesellschaft ist nicht nur ein Gegenstand der mit unterschiedlicher Intensität die Gefühle und die Aktivitäten der Individuen auf sich zieht, sie ist auch eine Macht, welche diese regelt.

(Emile Durkheim)

 

Gesellschaft ist der Teilbereich des Gemeinwesens, der seinen Mitgliedern persönliche Entfaltungsmöglichkeiten anbietet (Bildung, Kultur, etc.), in dem Interessen artikuliert und Motivationen erzeugt werden.

(Carl Böhret, Werner Jann, Marie Therese Junkers, Eva Kronenwett)

 

 

 

Gesellschaft ist ein prägender Orientierungs- und Ordnungsrahmen, ist ein strukturiertes Zusammenleben, das unterschiedliche Entwicklungschancen von Einzelnen und Gruppen und in verschiedensten Bereichen ermöglicht. Dieser Zusammenhang hatte sich für rund 16 Millionen Menschen im Oktober 1990 fast über Nacht grundlegend geändert.

 

Vielen von ihnen vermuteten wohl schon, dass massive Veränderungen unvermeidbar wären, aber, so die Annahme, nun würde fast alles besser werden; das erwies sich als Trugschluss. Im Westen waren wohl fast alle der Meinung, für sie würde sich nichts oder kaum etwas ändern, denn nur der Osten müsse sich anpassen; auch diese Einschätzung erwies sich als falsch.

 

Die Wiedervereinigung und der anschließende Prozess in Richtung auf deutsche Einheit haben Veränderungen für ganz Deutschland gebracht, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. West-Berlin war früher die östlichste Stadt des Westens und wurde mit der Wiedervereinigung die westlichste Stadt des Ostens. (Diese Feststellung traf nach der Wiedervereinigung Thilo Graf Brockdorff, der damalige Direktor des Japanisch-Deutschen Zentrums in Berlin-West).

 

In diesem Band sollen aus der Fülle gesellschaftlicher Veränderungen folgende Themen angesprochen werden:

·         Spaltungen in der deutschen Gesellschaft,

·         Einkommensunterschiede,

·         demographische Veränderungen,

·         Verklärung bzw. Romantisierung von Teilen der DDR-Vergangenheit, und dadurch auch bewirkter Wandel des Konsumverhaltens. (Dokumente 5-7 sowie 19 und 20)

 

Es handelt sich um Bereiche, die große Bevölkerungsgruppen betreffen und die zeigen, wie Veränderungen aber auch Beharrungsvermögen sowie Gewohnheiten gesellschaftliche Auswirkungen haben. Was diese beiden Verhaltensweisen anbelangt, so ist bemerkenswert, dass bei Statistiken, egal über welchen Bereich, fast immer noch die Wortwahl „alte Bundesländer“ und „neue Bundesländer“ Anwendung findet.

 

Der vorliegende Band beinhaltet auch eine von Professor Dr. Bruno Hildenbrand (Universität Jena) erstellte Studie zur Problematik von Jugendhilfe. (Dokument 16)

 

 

1. Gesellschaftliche Unterschiede

 

1.1  Ost-West-Spaltung

Im Sozialreport 2008 der „Volkssolidarität“ wird festgestellt: „… neben hervorragenden Leistungen und Entwicklungen stehen Defizite und Gerechtigkeitslücken. Im Besonderen in der sozialen und mentalen Vereinigung besteht noch Nachholbedarf.“[1]

 

Auch 20 Jahre nach der formalen Einigung gibt es große Unterschiede in Deutschland. Wer ein Ost-West Gefälle feststellen will, findet leicht Belege dafür, die den Schluss zulassen, die Wiedervereinigung gehöre zu den wesentlichen Ursachen.

Dazu nur einige Beispiele:

·         Lediglich fünf Prozent der deutschen Elite kommt aus dem Osten, der einen Anteil von 20 % an der Gesamtbevölkerung hat. Niemand aus dem Osten ist Chef eines großen deutschen (international operierenden) Unternehmens, Mitglied im Bundeskabinett oder Chefredakteur einer überregionalen Sendeanstalt bzw. Zeitung. In den neuen Bundesländern stammt nur etwa 30 % der Elite von dort.

·         Im Sommer 2010, also fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung saßen (von der Sondersituation in Berlin abgesehen) 18 westdeutsche Minister in Kabinetten östlicher Bundesländer, im Vergleich zu einer aus dem Osten stammenden Ministerin im Westen.

·         Ein Drittel aller Westdeutschen war noch nie im Osten.

·         Im Jahre 2009 waren 199 Generäle der Bundeswehr aus dem Westen; es gab nur einen „Ostgeneral.“ Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr allerdings ist das Verhältnis anders, 3.248 kommen aus dem Westen und 3.143 aus dem Osten; bei niedrigeren Rängen und Soldaten ist der Anteil aus dem Osten noch größer.

·         Zwei Drittel der Ostdeutschen fühlen sich als Bürger Zweiter Klasse und drei Viertel aller Menschen im Osten fühlen sich gegenüber Westdeutschen benachteiligt.

·         Nur 4% aller Ehen in Deutschland werden zwischen Ost- und Westdeutschen geschlossen.

·         Das Einkommensniveau (Löhne, Gehälter und das der Renten) ist noch ungleich.

·         Es gibt eine Bevölkerungswanderung von Ost nach West. (Dokumente 1 und 2)

·         Die Zahl der Arbeitslosen ist im Osten höher, die durchschnittliche Betriebsgröße niedriger als im Westen. Im Osten sind im Verhältnis doppelt so viele Menschen arbeitslos wie im Westen; haben sie Arbeit, ist der Verdienst durchschnittlich 17 % geringer. Bei Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten verbleibt noch immer eine Differenz von ca. 9,5 %.

·         Im Osten ist der Niedriglohnsektor doppelt so groß wie im Westen und die Billiglöhne sind zudem noch deutlich geringer.

·         Im Ranking (Elitestatus, Excellenzcluster) stehen Universitäten aus dem Westen, aus Baden-Württemberg und Bayern, vorn.

·         95 % der Professoren für Geistes- und Sozialwissenschaften an ostdeutschen Universitäten sind aus dem Westen.

·         Keiner der 16 Richter am Bundesverfassungsgericht stammt aus dem Osten.

·         Beim Alkoholkonsum liegt Mecklenburg-Vorpommern vorn, er ist dort 4,5-mal so hoch wie in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, beides bekannte Wein produzierende Bundesländer.

·         Auch bei der Zahl der Verkehrsunfälle hat Mecklenburg-Vorpommern den ersten Platz, was Verkehrswissenschaftler mit der Unfähigkeit erklären, im Verkehr persönliche Verantwortung zu übernehmen.

 

Wer selektiv vorgeht, wird also leicht Daten finden, die eine Rückständigkeit bzw. Benachteiligung der neuen Bundesländer belegen. Meist werden dafür zwei Hauptgründe genannt:

1.      Die Entwicklung der DDR insgesamt und ihre Vorgeschichte ab 1945, d.h. schon die Startbedingungen waren im Osten viel schlechter als im Westen.

2.      Die Entwicklung seit 1990, seit der Wiedervereinigung.

 

Für eine gewisse Übergangszeit ließen sich für diese Unterschiede halbwegs objektive Gründe anführen, aber nach 20 Jahren sollte eine Übergangszeit beendet sein. Im Jahre 1990 geschah allerdings ein kompletter Systemwechsel. Zu jedem System gehören Orientierungsmuster, die von ihrer Elite geprägt werden und Eliten rekrutieren ihren Nachwuchs vornehmlich aus sich selbst. Viele Studien mit ersthaften Prognosen weisen darauf hin, dass ein erfolgreicher Angleichungsprozess –wenn überhaupt– vermutlich erst nach einem Generationsaustausch abgeschlossen sein wird, nach einem Zeitraum von rund 40 Jahren.

 

Einige der genannten Unterschiede beruhen auf Selbstwahrnehmungen, die naturgemäß subjektiv sind. Selbsteinschätzung ist nicht immer konkrete Tatsachenbeschreibung, aber für den gesellschaftlichen Zusammenhang und für politische Stimmungslagen bedeutsam. Das dies für Korea wichtig ist, bedarf wohl keiner besonderen Betonung.

 

1.2 Nord-Süd-Spaltung

Eine differenziertere Betrachtung zeigt allerdings ebenfalls eine Nord-Süd-Spaltung und es gibt sie auch in den neuen Bundesländern. Diese Unterschiede waren auch in der DDR vorhanden, wo bereits damals ein deutliches Nord-Süd Gefälle existierte. Für das gesamte deutsche Gebiet können historische Agrarstrukturen als wesentliche Bestimmungsfaktoren genannt werden, die die Erwerbsfixierung (Pächter, Bauern) oder berufliche Mobilität (erweiterte Beschäftigungschancen) förderten bzw. begrenzten. Einer von vielen aktuellen Indikatoren ist die Innovationsfähigkeit, die sich z. B. durch die Zahl von Patentanmeldungen darstellen lässt.

 

Tabelle 1

Patentanmeldungen pro 100.000 Einwohner nach Bundesländern im Jahre 2005

 

 

Baden-Württemberg                                  120

Bayern                                                        110

Hessen                                                          56

Rheinland-Pfalz                                            55

Nordrhein-Westfalen                                    45

Saarland                                                        34

Niedersachsen                                               34

Thüringen                                                     30

Schleswig-Holstein                                       21

Sachsen                                                         20

Sachsen-Anhalt                                             15

Brandenburg                                                  12

Mecklenburg-Vorpommern                           11

 

 

Quelle: Bohler, Karl Friedrich/Hildenbrand, Bruno. 2006. Nord – Süd. In: Lessenich, Stephan/Nullmeier, Frank, Hrsg.: Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/M: Campus Verlag, S. 247.

 

1.3 Unterschiedliches Lohnniveau

Ungleiche Behandlung ist leicht bei Einkommen (Löhnen, Renten) zu messen. Das Niveau bei Bruttolöhnen und –gehältern lag im Jahre 2009 laut Bundesarbeitsministerium im Westen um ein Fünftel höher als im Osten. Verglichen mit dem gesamtdeutschen Durchschnitt lagen die Werte im Westen 103 Prozent darüber und im Osten bei 82 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutete das:

·         im Westen ein Jahresbruttogehalt von 28.500 €,

·         im Osten 22.700,

also eine jährliche Differenz von gut 5.800 €.

Es gibt eine Reihe von Unterschieden:

·         Zwischen dem ärmsten westlichen Bundesland (Schleswig-Holstein) wo ein Arbeitnehmer durchschnittlich im Jahr 25.300 € verdiente und dem reichsten Bundesland im Osten (Sachsen), wo es rund 22.800 waren, also eine Differenz von 2.500 €.

·         Die Differenzen im Westen sind allerdings noch ausgeprägter: Hamburg: 32.900 €, d. h. rund 7.600 € mehr als Schleswig-Holstein.

 

Um bis zum Jahre 2015 eine Lohnangleichung Ost-West zu erreichen, müssten die Steigerungsraten im Osten jährlich 4% höher sein, als die im Westen. Es ist ungeklärt, wie sich hier die Gewerkschaften verhalten würden und wie die Stimmung in der Bevölkerung generell wäre? Die Antwort der Bundesregierung ist bislang, alles würde von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen.

Nach einem anfänglich schnellen Aufholprozess bei Löhnen im Osten in den 90er Jahren hat sich dieser deutlich verlangsamt. (Dokument 6)

 

Eine Forderung der Partei „Die Linke“ und politisch Gleichgesinnter ist, dass es zumindest einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn geben müsse, der vor allem den großen Niedriglohnsektor im Osten eindämmt.

 

1.4 Renten

Der Rentenwert Ost liegt fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer unter dem des Westens, d.h. bei 88,7 %; die Kritik sieht darin eine unterschiedliche Bewertung gleicher Lebensleistungen. (Tabelle „Monatliche Euro-Bezüge für Rentner“ nach der Einleitung)

Die Differenz ergibt sich auch aus dem Lohngefälle zwischen West und Ost, denn hier werden prozentual die Rentenanteile ermittelt. Um einen Ausgleich zu ermöglichen werden die Rentenanteile bei den Arbeitsverdiensten im Osten höher bewertet, damit soll erreicht werden, dass ein Durchschnittsverdiener Ost den gleichen Rentenanspruch erhält, wie ein Durchschnittsverdiener West (bei niedrigerem Lohn). Sollte das Ziel, die Rentenangleichung, einmal erreicht werden, würde die Höherbewertung wegfallen, was zur Folge hätte, dass für zahlreiche Osterrentner und –rentnerinnen dann ihre Ansprüche niedriger wären als bisher. (Überkompensation fällt weg.)

 

 

2. Demographische Aspekte

 

Deutlich ist ein Schrumpfungsprozess, der viele Gründe hat, aber wesentlich von der Entwicklung nach der Wiedervereinigung verursacht wurde. Insgesamt gilt: Deutschland wird älter und ärmer.

 

1989/90 lebten in der DDR rund 16,6 Millionen Menschen, Ende 2008 waren es 13,03 Millionen. Die Veränderungen sind in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich, so verzeichnet die Hauptstadtregion Berlin plus Umland einen Zuwachs, hingegen sind einige Teile des ländlichen Brandenburgs nur noch sehr dünn besiedelt. (Dokument 2)

 

Der Trend ist eindeutig, allerdings sollte beachtet werden, dass es Wanderungen in beide Richtungen gab und gibt, denn in dem Zeitraum von 1991 bis 2003 gingen:

·         2,035 Millionen Ostdeutsche in den Westen und

·         1,119 Millionen Westdeutsche in den Osten, jedoch fast ausschließlich in die großen Städte.

 

Mit der Wiedervereinigung voll zog sich ein Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft und eine Deindustrialisierung ganz großen Ausmaßes. In kurzer Zeit, zwischen 1989 und 1992, gingen vier Millionen Arbeitsplätze verloren.

 

Es kam zu einer Entwicklung mit extrem negativer Dynamik:

·         Arbeitslosigkeit → Abwanderung → Kaufkraftschwund → geringe Steuereinnahmen → dramatischer Geburtenrückgang → erhöhter Subventionsbedarf → Gefühl der Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit.

·         Im Jahre 2004 wurden von den 116 Milliarden Euro der östlichen Staatsausgaben 83 Milliarden vom Westen finanziert. Eine solche Abhängigkeit kann die Beibehaltung des Status quo bewirken, ist aber kaum geeignet, eigenständige und dauerhafte Wirtschaftsdynamik zu fördern.

 

Wie eingangs bereits erwähnt, hatte sich das Leben für Millionen schlagartig geändert. Karl-Siegbert Rehberg hat in diesem Zusammenhang auf einen wohl einzigartigen Aspekt verwiesen: „Eingeleitet wurde die Verarbeitung der neuen Situation mit einem bisher in dieser Radikalität noch nie beobachteten schockartigen Handlungsverzicht: Es kam nach 1990 zu einem fast vollständigen Rückgang von Geburtenraten, Heiraten und Scheidungen, eine Verminderung, die größer war als sogar die in der großen Depression der Weltwirtschaftskrise oder während der beiden Weltkriege (zum Beispiel fiel die Geburtenrate von 1990 auf 1991 um 40 Prozent, um weitere 19 Prozent im nächsten Jahr und nochmals um acht Prozent bis 1993.)“[2]

 

Es gab einen doppelten Transformationsprozess, der historisch ohne Beispiel ist:

·         Umwandlung der DDR, die Privatisierung einer gesamten Gesellschaft,

·         Anpassung an die Sachzwänge der Globalisierung.

 

Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Entwicklungen und Abwanderungsprozessen. Diesen strukturellen Veränderungen sind viele Gesellschaften ausgesetzt, die frühere DDR trafen sie unvermittelt, unvorbereitet und mit großer Wucht. In einigen Gegenden haben sie fast eine Entvölkerung bewirkt.

 

Die Treuhand hatte 1990 rund 8.500 Betriebe mit mehr als 4 Millionen Beschäftigten übernommen. Nach der Entflechtung der Kombinate entstanden mehr als 12.000 Firmen. Als die Treuhand Ende 1994 ihre Arbeit einstellte, waren noch ca. 1,5 Millionen Arbeitsplätze übrig. Ein Drittel der Firmen war geschlossen worden.

 

Große Betriebe waren oft nicht überlebensfähig und wurden der Treuhand von Städten bzw. Landkreisen abgekauft, die dann versuchten, auf diesen Geländen Gewerbeparks einzurichten, was meist bedeutete, dass weniger Arbeitskräfte Beschäftigung fanden.

 

Ein Beispiel:

Eine Stadt kauft ein Industriekombinat (ca. 2.300 Arbeitsplätze) von der Treuhand. Da es nicht erhalten werden kann, weil nicht konkurrenzfähig, wird es abgerissen und in ein Gewerbegebiet umgewandelt. Nach 19 Jahren haben sich 40 Firmen angesiedelt und rund 1.000 Arbeitsplätze sind entstanden. Diese Reduzierung um mehr als die Hälfte bewirkt fast zwangsläufig Abwanderungen, oft auch von jüngeren, qualifizierten Familien, was Rückwirkungen auf die gesamte Struktur hat: weniger Menschen, weniger Konsum, weniger Steuereinnahmen, weniger Kinder, weniger Schulen, usw.

 

 

3. Ostalgie

 

Es ist ein für Menschen typischer Vorgang, dass mit dem Alter bei vielen nicht nur das Gedächtnis nachlässt, sondern dass bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit als weniger unangenehm erscheinen; sie werden verklärt. Dafür gibt es viele Gründe und es sind auch psychologische Selbstschutzmechanismen am Werk, die dann zu Äußerungen führen, wie: „damals war nicht alles schlecht.“ Sie basieren auf einer Mischung, zu der u. a. gehören:

·         der schnelle Untergang der DDR,

·         Informationen über die tatsächliche Situation der maroden DDR,

·         Orientierungslosigkeit, teilweise auch Hilflosigkeit,

·         Arbeitslosigkeit,

·         das Gefühl einer gewissen Minderwertigkeit und großen Bevormundung,

·         Überheblichkeit, mangelnde Kenntnisse und Sensibilität vieler aus dem Westen,

·         der Eindruck mit Kritik an den Verhältnissen in der DDR werde auch die eigene, ganz individuelle Lebensleistung verunglimpft,

all das bewirkte eine Form der Nostalgie, die schnell die Bezeichnung „Ostalgie“ erhielt.

 

Karl-Siegbert Rehberg hat diese Stimmungslage wie folgt beschrieben:

„Dem Mitgerissensein in einer sich überstürzenden Geschichte, den blitzartigen Umwertungen, indem am Ende der (nun schon demokratisch gewählt habenden) DDR etwa die östlichen Konsumgüter plötzlich als unzumutbar erschienen und von Westprodukten vollständig verdrängt wurden, der Phase des Umtauschs des wertlos erscheinenden Ostgeldes gegen harte D-Mark folgten Entzauberungen und erste Schocks darüber, dass ein ‚goldener Westen‘ mit der Vertreibung der eigenen Regierung nicht schon gewonnen war. … Viele ‚gelernte DDR-Bürger‘ fühlten sich als ‚Fremde‘ im eigenen Land – oder wie der Schriftsteller Volker Braun es schon 1990 bildhaft formuliert hat: ‚Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.‘“[3]

 

Enttäuschungen und negative Erfahrungen führten schnell zu einer partiellen Verklärung der Vergangenheit. 1990 glaubte nur eine Minderheit der Ostdeutschen, Erziehungswesen, Gesundheitsvorsorge und Wohnsituation seien in der DDR besser gewesen, einige Jahre später war eine deutliche Mehrheit dieser Überzeugung.

 

Bei der Einschätzung der generellen Lage nach der Wiedervereinigung und des individuellen Befindens gibt es natürlich große Unterschiede, was mit Alter, sozialer Herkunft und beruflicher Situation zu tun hat. (Dokumente 9 bis 11)

 

Es gibt in Ost und West noch den Gebrauch eines unterschiedlichen Vokabulars, dem aber die politische Schärfe genommen wurde und das im Laufe der Jahre nun schon oft Folklorecharakter hat.

Die Differenzen sind auch künstlerisch verarbeitet worden, wobei sich eine interessante Entwicklung feststellen lässt. Frühe Filme zeigten Episoden, bei denen Feinheiten oft nur von Menschen in West oder in Ost voll erkennbar waren, später, z. B. in dem Film Goodbye Lenin (2003) konnten Ossis und Wessis an den selben Stellen lachen. Das Leben der Anderen (2006) fand sogar internationale Anerkennung und wurde unter anderem mit einem Academy Award für den besten Fremdsprachigen Film ausgezeichnet.

 

 

4. Was könnte für Korea relevant sein?

 

Wie in allen anderen Bänden auch hier wieder zur Einleitung die Betonung von Selbstverständlichkeiten:

·         Deutschland ist kein komplett übertragbares Modell für andere Fälle von friedlicher Wiedervereinigung,

·         Nordkorea ist nicht so, wie es die DDR war,

·         es gibt mehr Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich Koreas Zukunft, als dass verlässliche Prognosen existieren,

·         dennoch könnten einige während des Einigungsprozesses in Deutschland gemachte Erfahrungen für Korea diskussionswürdig oder sogar relevant sein.

 

In Anbetracht der Erfahrungen mit dem sehr langsamem Angleichungsprozess bei Löhnen, Gehältern und Renten zwischen Ost und West sowie demographischem Wandel in Deutschland stellen sich bezüglich Koreas Fragen wie:

·         Wie könnten, wie müssten notwendige und politisch durchsetzbare Regeln für Aufenthalt und Arbeit aussehen?

·         Wäre eine Mindestlohnregelung praktikabel?

·         Sollte eine solche Regelung nur für den Norden gelten oder müsste sie nach einer Wiedervereinigung für ganz Korea wirksam sein?

 

Verklärungsprozesse durch Ostalgie sowie Gefühle von Bevormundung und Benachteiligung beinhalten politischen Sprengstoff. Stereotype und Verallgemeinerungen bewirkten in Ostdeutschland in den 90er Jahren bei vielen die Vorstellungen, schlechte Veränderungen und schlechte Menschen, die diese verursachen, sie alle kommen aus dem Westen. Thomas Ahbe hat dies in einem Satz zusammengefasst: „Die Spitzen- und die Leihbeamten auf der mittleren Ebene, die Liquidatoren, Sanierer, Privatisierer, Investoren und Kapitaleigner, Chefs in Produktion, Handel und Versicherung, die Instrukteure, Ausbilder, Evaluatoren, die Immobilienbesitzer und Vermieter waren meist Westdeutsche.“[4]

 

Es wird in Korea wichtig sein, wann immer möglich, Maßnahmen im Norden zusammen mit Partnern aus dem Norden gemeinsam durchzuführen, um das Gefühl der Bevormundung und Überfremdung zu vermeiden, zumal in einer Gesellschaft, für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit quasi zu den heiligen Gütern der Nation zählen (zählten).

 

In Westdeutschland gab und gibt es weitgehendes Unverständnis für Enttäuschungen und Ostalgie im Ostdeutschland, obwohl völlig klar sein musste, dass der Umwälzungsprozess auch schwerwiegende psychologische Auswirkungen haben wird. Beide Teile Koreas müssen sich auf eine ähnliche Problematik einstellen, die im Vergleich zu Deutschland noch stärker ausfallen wird.

 

Erstrebenswerte Kombination

Es wird in Korea sehr darauf ankommen, unvoreingenommen zu prüfen, was in der Gesellschaft des Nordens erhaltenswert ist. Dies ist eine Überlegung, die gegenwärtig im Süden wohl auf nur wenig Verständnis stoßen dürfte. Eine Kombination von Dynamik des Südens und der positiven Solidarität im Norden ist anzustreben.

 


[1]Sozialreport 2008. Sozialreform und soziale Sicherheit. Bewertung und Vorstellungen der Bürger der neuen Bundesländer im Jahre 2008. Volkssolidarität. S. 2.

[2]Rehberg, a. a. O. S. 221.

[3]Rehberg, Karl-Siegbert. 2006: Ost – West. In Lessenich, Stephan/Nullmeier, Frank, Hrsg. Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/New York, S. 211.

[4]Ahbe, Thomas. 2004. Die Konstruktion der Ostdeutschen. Diskursive Spannungen, Stereotype und Identitäten seit 1989. Aus Politik und Zeitgeschichte, Jhg. 54, B 41-42, S. 13.

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