Springe direkt zu Inhalt

Einleitung Gruppe B. Ästhetische Erfahrung im Konzert der Kunstwissenschaften

[1] Die Beschäftigung mit der ästhetischen Erfahrung von Kunst der Gegen­wart macht es notwendig, allgemeinere Überlegungen und theore­ti­sche Ansätze mit konkreten Situationen der Rezeption von Kunst in Beziehung zu setzen. Zunächst ist dabei zu klären, von welcher Kunst respektive welchen Künsten die Rede ist und wo im Zeichen der Entgrenzung der Künste während der zurückliegenden Jahrzehnte einerseits Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten, andererseits Diffe­ren­zen und Spannungen zu finden sind. Um dieses Problemfeld zu bear­bei­ten, erweist es sich als Vorteil, wenn sich die kunstwissenschaftlichen Diszi­plinen in einen gemeinsamen Dialog begeben, um die Über­schneidungen und Unter­schiede ihrer Gegenstände und Ansätze für eine Erör­terung der Spezifik der Kunsterfahrung fruchtbar zu machen und der­gestalt zugleich eine Übersetzbar­keit ihrer Diskurse zu erproben. Denn nicht zuletzt stellt die jeweilige Rede über die Künste in den verschiedenen Diszi­plinen eine Herausforderung für die inter­disziplinäre Verständigung dar, wobei sich Terminologien und Fachtraditionen zwar nicht angleichen müs­sen, aber doch einander zugänglich und einsichtig werden sollten.

[2] Angesichts der interdisziplinären Übersetzungsprobleme gelangt man zur Frage, wie solche Prozesse der Versprachlichung, Beschreibung und Kom­muni­kation von Kunsterfahrung jeweils vor sich gehen. Denn natur­gemäß unter­scheiden sich Literatur, Musik, Theater oder Film durch Spezi­fika wie Zeitlichkeit, Körperlichkeit, materiale Gegenständlichkeit und ange­sprochene Sinne, wodurch sich – allen Entgrenzungsphänomenen zum Trotz – elementare Differenzen im Kunstverständnis ergeben können, die wiederum auf die jeweilige Bedeutung und Auslegung von Erfahrung in künst­lerischer Praxis und Ästhetik zurückwirken.

[3] Was konkret eine interdisziplinäre Kooperation leisten kann, soll im Fol­gen­den an drei Beispielen gezeigt werden, die einen Querschnitt der inhalt­lichen Dis­kussionen und zugleich Einblick in die Arbeitsweise der Pro­jektgruppe zur „Spe­zifik der ästhetischen Erfahrung in den einzelnen Kün­sten“ (Bereich B des Sfb 626) bieten. Dabei haben jeweils zwei Mitar­bei­terInnen der im Rahmen von Musik-, Theater-, Film-, Literatur­wissenschaft angesiedelten Forschungsvorhaben ein gemeinsames Thema gewählt, das aus ihren Fachperspektiven erörtert wird. Darüber hinaus spiegeln die gemeinsamen Fragestellungen die Positionen, wel­che die AutorInnen selbst zwischen den Disziplinengrenzen eingenommen haben. Jede dieser Kooperationen hat sich dabei für eine individuelle Form ent­schie­den, die wechselseitige implizite und explizite Kommentare ermög­licht, und folgende Themenbereiche gewählt:

[4] Über Kunsterfahrung als sozialen Prozeß diskutierten Michael Custodis (Teil­projekt B4 „Musikalisches Urteil und ästhetische Erfahrung“) und Robert Sollich (Teilprojekt B2 „Ästhetische Erfahrung als Schwellen­erfahrung“);

[5] Mit der Rolle des Embodiment für die ästhetische Erfahrung beschäftigten sich Christiane Voss (Teilprojekt B3 „Die Bedeutung der Illusion in der Film­ästhetik“) und Beatrix Hauser (Teilprojekt B2 „Ästhe­tische Erfahrung als Schwellen­erfahrung“);

[6] Das Verhältnis von Handlungsanweisungen und Kunsterfahrung wurde von Sandra Umathum (Projekt B2 „Ästhetische Erfahrung als Schwellen­erfahrung“) und Stefanie Rentsch (Teilprojekt B1: „Die Spezifik der ästhetischen Erfahrung des Wortkunstwerks“) bearbeitet.

[7] Michael Custodis und Robert Sollich thematisieren das Erleben von Kunst als sozialen Prozeß im Bereich von Musik und Oper. Der Musik­wissen­schaftler Michael Custodis setzt hierfür Überlegungen zu musik­soziologischen Implika­tionen von sozialer Prozessualität in Beziehung zu Passagen in Romanen von Paolo Maurensig und Rainald Goetz, in denen gerade dem öffentlichen, gemein­samen Erleben von Musik wesentliche Bedeu­tung für deren ästhetische Erfahrung zukommt. Eine ähnliche These ver­folgt der Theaterwissenschaftler Robert Sollich in Hinblick auf die Oper und untersucht, warum ausgerechnet hier immer wieder Widerstand und Engage­ment beim Publikum ausgelöst werden, wie sie in ande­ren Theater­formen so heute nicht mehr möglich scheinen. Zur Diskussion steht dabei vor allem die Rolle jenes stabilen Werkkanons, der unseren Opernalltag prägt und das zeitgenössische Regietheater immer wieder herausfordert.

[8] In den Beiträgen von Christiane Voss und Beatrix Hauser geht es um den Nutzen der Leiblichkeitstheorie für das Verständnis von ästhetischer Erfah­rung am Beispiel von einerseits Film und andererseits (rituellen) Auf­füh­rungen. Die Philosophin Christiane Voss stellt die im engeren Sinne phäno­menalen Dimen­sionen der Erfahrung von Kino in den Vordergrund. Daran diskutiert sie, wie sich 1. innerhalb von Theorien ästhetischer Erfah­rung die aisthetischen Dimensionen im Umgang mit Kino ins Verhältnis zu sei­ner Semantik setzen lassen, sowie 2. welchen Status die auch episte­mische Explikation konkreter Wahrnehmungs- und Erlebnisstrukturen im Blick auf die Plausibilisierung eines philosophischen Begriffs ästhetischer Erfahrung erlangt. Während Voss die phänomenale Dimension der Film­betrachtung als „Leihkörper“ aus dem Medium des Films herleitet und the­ma­tisiert, überträgt die Ethnologin Beatrix Hauser zwei Konzepte soma­tischer Erfahrbarkeit aus der Rezeptionspraxis von Ritualen auf den Umgang mit Kunst­erzeugnissen. Die dabei entwickelten leibtheoretischen Konzepte ermöglichen ihrer Einschätzung nach, solche Sinneseindrücke und Effekte von Kunst theo­retisch zu fassen, auf die sonst nur mit der Metapher der „Verzauberung“ verwie­sen werden kann.

[9] Sandra Umathum und Stefanie Rentsch nehmen das Phänomen von Hand­lungs­anweisungen in der zeitgenössischen Kunst anhand von kon­kreten Werken in den Blick. Handlungsanweisungen werden dabei als Bei­spiele einer Kunst­erfahrung aufgefaßt, die für das 20. Jahrhundert para­digmatisch ist und spezi­fische Wechselwirkungen mit Kunstprojekten offen­legt. Diese Zusammenhänge werden dabei von zwei Seiten beleuch­tet. Der erste Teil fokussiert die Rolle des „Kunstpublikums“ in Galerien und Museen. Die Theaterwissenschaftlerin Sandra Umathum widmet sich einer Erfahrungsdimension, die zwischen Eingeladen- und Zurück­gewiesensein angesiedelt ist, und in deren Kontext die Handlungs­anweisung eine interessante Protagonistin darstellt. Im Mittelpunkt stehen dabei Arbeiten von Jeppe Hein, Gerhard Merz und vor allem Andy Warhol. Der zweite Schritt erweitert diese Perspektive und behandelt Handlungs­anweisungen, die KünstlerInnen sich explizit selbst geben. Anhand der für diesen Themenkomplex exemplarischen Kooperation der Künstlerin Sophie Calle mit dem Schriftsteller Paul Auster fragt die Literaturwissenschaftlerin Stefanie Rentsch nach der Wir­kung, die auf Selbstaufforderungen basie­rende Kunstwerke auf die Rezipien­tInnen ausüben.

Zum Inhaltsverzeichnis der Publikation Ästhetische Erfahrung