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Einleitung Gruppe A. Transformationen der ästhetischen Erfahrung

Zwischen Transformation von Erfahrung und Erfahrung als Trans­formation

1. Aufgabenstellung, Methode und Vernetzungsstrukturen

[1] Im Zentrum der Arbeit des Projektbereichs A steht die Frage nach den ‚Trans­formationen ästhetischer Erfahrung‘ hinsichtlich der Literatur und bilden­den Kunst seit dem 18. Jahrhundert. Horizont der Arbeit des Pro­jekt­bereichs sind die den Sonderforschungsbereich 626 leitenden Fragen nach der Spezifik der ästhetischen Erfahrung, nach der Spezifik der Kunst­erfahrung und schließlich nach der Spezifik der Erfahrung der einzelnen Künste.

[2] Eine angesichts dieser Aufgabenbeschreibung möglicherweise als sinn­voll erscheinende rein historische Zugangsweise – der Versuch, einen evo­lu­tionär-linearen Verlauf und seine Veränderungen zu beobachten – würde jedoch, wie die in Form von Abstracts formulierten Problem­zusammen­hänge der einzelnen Unterprojekte rasch zeigten, weder die historische Frage hinreichend beant­worten noch den in den einzelnen Unterprojekten vor­gelegten Forschungen zu den Modi ästhetischen Erfahrens gerecht werden. Der Arbeit der Projektgruppe lag somit von Beginn an die Unter­scheidung zwischen einer ‚Transformation ästhetischer Erfahrung‘ und einer ‚ästhetischen Erfahrung als Transformation‘ zugrunde. Die ‚Trans­formation ästhetischer Erfahrung‘ bezeichnet eine qualitative Veränderung der Erfahrung im Zeitverlauf (mit Fokus auf den Schnittstellen 1800-1840, 1910-1920 und um 1960), während ,ästhetische Erfahrung als Trans­­formation‘ ein typologisches Spektrum von Veränderungen des Modus ästhe­tischer Erfahrung als ästhetische Strategie meint (im Extremfall: die Oszil­lation zwischen ästhetischer und nichtästhetischer Erfahrung).

[3] Diese grundlegende Differenzierung ist bereits Ergebnis des inter­disziplinären Austauschs über die Fragestellungen der einzelnen Unter­projekte innerhalb der Projektgruppe. Aus diesem Austausch resultierte dann eine konkrete Vernetzung einzelner Unterprojekte. Kriterium für die Vernetzung waren typologische Ana­logien in Trans­formationen der Erfah­rungs­modi: Aus der Präsentation der Frage­stellungen der einzelnen Unter­projekte ging hervor, daß Phänomene wie Schnitt, Erfahrungsraum, Sicht­bar­keit, Lesbarkeit, Taktilität oder die Arbeit mit ‚Flecken‘ in einzelnen Unter­projekten vergleichbar sind, obgleich sie in völlig unterschied­lichen Konstel­lationen erscheinen.

[4] Die sich aus der Aufmerksamkeit für diese Phänomene ergebende typo­lo­gische Vernetzung ermöglichte in der Zusammenarbeit von zeitlich oft weit aus­einander liegenden Arbeitsbereichen zum einen den Vergleich vermeint­lich ähnli­cher Phänomene von Erfahrungsstimuli bzw. von Erfah­rungs­transformationen, zum anderen deren Differenzierung. Sie eröff­nete zudem gleichzeitig eine chro­nologische Perspektive: So kommt es z.B. im Projekt zu Vivisektion und Film­fraktur (Oliver Jehle, Teilprojekt A1, Kunst­wissen­schaft, und Anke Hennig, Teilpro­jekt A4, Literatur­wissen­schaft /Slawistik) zu einem Vergleich von William Hogarths Stichen von Vivi­sektions­szenen (1751) mit Vsevolod Pudovkins Film Die Mechanik des Gehirns (1926). Neben einer Reihe eindeutiger Indikatoren histo­rischer (und auch medial bedingter) Differenz läßt sich die (anatomische) Sektion – als ästhetischer Gegenstand und ästhetisches Verfahren – als Feld der Erwei­terung des Sehens beschreiben, das eine zunehmende, die Moderne charak­teri­sierende Reflexivität der Erfahrung anzeigt. Neben diese Beob­achtung, die der Transformation ästhetischer Erfahrung gilt, tritt jene, die den Schnitt selbst als Prinzip erkennt, das die Form und Bildästhetik stört und im weiteren zu einem Prinzip der Bildkonstitution wird, insofern der Schnitt die Oberfläche nicht über­windet, sondern im ‚operativen‘ Eingriff zahl­lose Oberflächen konstituiert. Hierin ist der Aspekt der ästhetischen Erfah­rung als Transformation angelegt: Es liegt – in Bezug auf den Schnitt – eine Transformation von anästhetischer in ästhetische Erfahrung vor.

[5] Während sich diese typologische Aussage im Bezug auf den Schnitt als Feld der Transformation ästhetischer Erfahrung nur treffen läßt, weil bei aller histo­rischen Differenz eine offensichtlich prototypische Analogie augen­fällig wird, so kann umgekehrt eben gerade in einem parallelen Schritt historischer Differen­zierung beschrieben werden, wie sehr sich Erfah­rungen von Oberfläche (und mit ihnen die Frage nach der möglichen ‚Tiefe‘ des Einschnitts) im Verlauf der Moderne transformieren.

[6] Aus dieser Darstellung und anhand des genannten Beispiels wird deutlich, daß die Fragen nach der Spezifik der ästhetischen Erfahrung einzel­ner Künste in der interdisziplinären Zusammenarbeit im Projekt­bereich A auch aus heuristi­schen Gründen in den Hintergrund rücken. Mit diesem Thema beschäftigt sich der Projektbereich B des Sonder­for­schungs­bereichs. Wo das Thema für die Unterprojekte des Projekt­bereichs A relevant wurde, kam es zu entsprechenden Kooperationen zwischen den Mit­gliedern der einzelnen Bereiche (vgl. die Tagung KünstlerKritiker der TP A3 und B4 und den Workshop Wem gehören Hybride? der TP A5 und B1). Aus der unten folgenden Übersicht über die einzelnen Gruppie­rungen bezüg­lich der Zusammenarbeit in der Frage­stellung der Transformation ästhe­tischer Erfahrung wird deutlich, daß eine äußerste Figur der Transformation ästhetischer Erfahrung jene ihrer radikalen Substitution ist – am explizitesten ist dies wohl in der Beat- und Pop-Literatur (Dirck Linck, Teilprojekt A5, Literatur­wissenschaft) der Fall. Wo ästhetische Erfah­rung in soziale bzw. quasi-religiöse umschlägt, stellt sich, gerade im Zei­chen der Entgrenzung der Künste, die Frage nach der ‚Reichweite ästhetischer Erfahrung‘, die im Zentrum der Arbeit des Projektbereichs C des Sonderforschungsbereichs steht. Auch hier kam es zu ent­sprechenden projekt­bereichübergreifenden Kooperationen (vgl. die Tagung Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne der TP A3 und C1, unter Mitwir­kung von Dirck Linck, TP A5, oder die Tagung Von Selbst. Autopoietische Verfahren im 19. Jh. des TP A2, unter Mitwirkung von Roberto Sanchiño Martínez und Olaf Briese, beide TP C7).

2. Übersicht über die Kooperationsprojekte

[7] Hier soll eine Auswahl von Kooperationsprojekten im Projektbereich A vorge­stellt werden: Zum Thema Text sehen und Farbe lesen arbeiteten Rainer Falk (Teilprojekt A5, Literaturwissenschaft) und Carolin Meister (Teilprojekt A1, Kunst­wissenschaft). Das Phänomen des Schnittes gab Gelegen­heit zum oben bereits erwähnten Projekt Vivisektion und Film­fraktur, das von Oliver Jehle (Teil­projekt A1, Kunstwissenschaft) und Anke Hennig (Teilprojekt A4, Literaturwissen­schaft/Slawistik) bearbeitet wurde. Der Gegenstand des Erfah­rungsraums bestimmte die Fragestellungen, die zur Konfrontation von Konjunk­tivem vs. disjunktivem Erfahrungsraum führ­ten (Dirck Linck, Teilprojekt A5, Literatur­wissen­schaft; Brigitte Obermayr, Teilprojekt A4, Literatur­wissen­schaft/Slawistik). Und schließlich erfuhr das Phänomen Fleck eine interdiszipli­näre Beleuch­tung im Projekt Der Fleck zwischen Verfehlen und ästhetischer Strategie, das von Sabine Slanina (Teilprojekt A3, Kunstwissenschaft), Friedrich Weltzien (Teilprojekt A2, Kunstwissenschaft) und Brigitte Obermayr (Teilprojekt A4, Literatur­wissenschaft/Slawistik) bearbeitet wurde.

3. Zusammenfassung der Ergebnisse des Projektbereichs A

[8] Überblicksartig seien hier einige zentrale Ergebnisse der Arbeit in den auf­gelisteten Kooperationsprojekten genannt – dies im Bemühen, sie so weit wie möglich zu verallgemeinern und somit operationsfähig zu machen, ohne jedoch die jeweilige Materialspezifik aus den Augen zu ver­lieren. Ziel des Überblicks ist es, nicht nur konkrete Transformationen zu beschreiben, sondern vor allem, unter der im ‚Zeichen der Ent­grenzung‘ per­spektivierten Fragestellung des Sonderforschungs­bereichs die Produk­ti­vi­tät des Begriffs ‚Transformation‘ für die Frage nach dem Charakter der Erfahrung zu zeigen.

3.1. Transformation ästhetischer Erfahrung

[9] Wenn wir davon ausgehen, daß ästhetische Erfahrung immer auch Trans­for­mation ist bzw. Transformationen von Erfahrung ästhetische Er­fahrung als solche überhaupt voraussetzen, ermöglicht uns dies eine dyna­mische Annäherung an die Fragestellung, die jener Forschungs­intention gerecht werden kann, die bei dem Versuch, das Konzept ästhe­tischer Erfahrung neu zu profilieren, deren pro­zessualen Charakter zur Grund­­lage macht. Ästhetische Erfahrung kann unter die­ser Voraussetzung nie lediglich Erfahrung des Rezeptionssubjektes sein. Nicht nur dieses unter­­liegt einer Transformation qua Erfahrung. Ästhetische Erfahrung ist aber gleichfalls nie nur in das klar zu definierende Erfahrungsobjekt einge­schrie­ben bzw. nur eine produktionsästhetisch ins Werk/am Werk über­setzte Erfahrung. Transformation heißt in allen von uns untersuchten Bereichen immer auch eine erfahrungsspezifische ‚Verfransung‘ der drei klassischen Bereiche der Ästhetik von Produktion, Rezeption und Werk­imma­nenz.

[10] Die ‚Transformation ästhetischer Erfahrung‘ ist, so lassen sich die diesen Aspekt betreffenden Ergebnisse zusammenfassen, im historisch-linearen Verlauf gebunden an die Aspekte von Reflexivität und Konzep­tua­li­sierung der Kunst, ihrer präsenzästhetischen Ambitionen und Radikalen­erlasse so wie schließlich an Negation und Entzug – des Ästhetischen eben­so wie der (ästhetischen) Erfah­rung. De facto ist der aus dieser Kette von Argumenten zu ziehende Erkenntnis­gewinn größer als eine vermeint­liche Reproduktion eines bereits klassisch gewor­denen Narrativs der Ästhetik­geschichte der Modernismen dies annehmen läßt. Unter Hinzu­ziehung des Aspekts der ‚Erfahrung als Transformation‘ zeigt sich nämlich, daß es sich bei Reflexivität, Konzeptualisierung oder Negation nicht um Begriffe handelt, die durch Bildung von Binär­oppositionen eindeutig zu bestim­men wären. Aus der Perspektive der Transformationen wird die Dyna­mik dieser ästhetischen Kategorien deutlich: So wurde etwa im Falle des Lesbarwerdens von Farbe, ihres Antinaturalismus bei Pablo Picasso und Jasper Johns (TP A1, Meister) einerseits und im Falle ihres Anti­illusio­nismus, ihrer taktilen Sichtbarkeit in den Flecken bei Eugène Delacroix (TP A3, Slanina) andererseits eine Dynamik zwischen ‚materieller Reflexivität‘ und ‚medialer Konzeptualität‘ festgestellt. Man könnte auch schreiben: Diese Dynamik ist als Spannungsfeld zweier gegen­läufiger, die Moderne cha­rak­terisierender Tendenzen zu bestimmen. Hier treten Reflexivität und Kon­zep­tualität nicht in ein Verhältnis chronologisch-dialektischer Abfolge, son­dern in eines der ästhetischen Erfahrbarkeit spezifischer Trans­for­ma­tion – etwa jener des Re­flexiv­werdens des Materials in den Frakturen des neuen Mediums Film (TP A4, Hennig) oder der Schrift durch typo­gra­phi­sche Innova­tionen (TP A5, Falk). Reflexivität, Konzeptualisierung, Präsenz­emphase und Nega­tion sind also keine Phänomene bzw. Begriffe – sie erweisen sich als Dis­po­si­tive ästhetischer Erfahrungsoptionen. Hier wird auch deutlich, wie sehr die bis­lang den Erfahrungsbegriff prägende Kon­kurrenz zwischen Pro­duk­tions-, Werks- und Rezeptionsästhetik inner­halb der Forschungen des Son­der­forschungsbereichs in den Hintergrund rückt. So ist ‚materielle Re­fle­xivität‘ ein auf allen drei Ebenen aktives Phäno­men, dessen Erfahr­bar­keit tatsächlich nur unter dem doppelten Gesichts­punkt von Trans­for­ma­tion von Erfahrung bzw. Erfahrung als Trans­for­mation nach­zu­vollziehen ist.

3.2. Ästhetische Erfahrung als Transformation: Transformationsbereiche

3.2.1. Visuell vs. Taktil

[11] Dieser Transformationsbereich betrifft historisch den Zusammenhang zwi­schen Aisthesis und ästhetischer Erfahrung. Die für diesen Zusammen­hang wich­tige Grundtendenz läßt sich beschreiben als Ablösung der – noch in der Aufklä­rung dominierenden – Vorstellung, Tast- und Sehsinn seien als zwei sich gegen­seitig stützende Erkenntnisformen zu begreifen, durch das Konzept einer fort­schreitenden Trennung der Sinne. Diese Ablösung voll­zog sich vor dem Hinter­grund der Diskreditierung des Taktilen, wie Oliver Jehle (TP A1) anhand des Motivs der Vivisektion zeigt. In seinem Bei­spiel resultiert die Diskreditierung des Taktilen jedoch eben gerade aus der Koppelung von Tast- und Sehsinn: Das sich in der Darstellung von Vivi­sektion (Hogarth, 1751) eröffnende spezifische Erfah­rungspotential des Subkutanen wird im geforderten ‚Durchspüren‘ durch ein füh­lendes Auge und eine sehende Hand (Distanzverlust) zu einer Erfahrung des Ekels, vor allem dort, wo eben die Irritation der geöffneten Oberfläche als eine zu weit gehende qualitative Transformation der ästhetischen Erfah­rung gewertet wird. Sinnliches Naherücken, das den Betrachter ver­schmutzt, seine Hände besudelt und seine Augen verletzt, wird nur zu leicht dem Erleiden gleich. Hierin offenbart sich zugleich das Skandalon der Transformation von ästhetischer in anästhetische Erfahrung (vgl. 3.2.3.), dies wiederum unter dem Gesichtspunkt historischer Entwicklung, die bis zu den verfilmten Operationen der russischen Avantgarde reicht (TP A4, Hennig).

[12] Daß diese Entwicklung weder linear verläuft noch ausschließlich in eine Richtung, läßt sich für den Transformationsbereich ‚visuell vs. taktil‘ einer­seits anhand von als Flecken zu verhandelnden Materialspuren (Farb­flecken) in Bildern von Delacroix (ca. 1840; TP A3, Slanina) zeigen, anderer­seits anhand der Semio­logisierung der Farbe im Bild (Picasso, Johns; TP A1, Meister). Während bei Dela­croix der sichtbare, aber seman­tisch unterkomplexe Fleck Sichtbarkeitsver­sprechen wie jenes der Les­bar­keit des Bildes unterläuft und zu einer Konkurrenz zwischen Visualität und Takti­lität führt, in der letztere – und darin liegt die Erfahrungsspezifik – als takti­les Sehen die ‚Oberhand‘ gewinnt, kommt es bei Picasso und endlich sehr explizit bei Johns zu einer Semiologisierung der Farbe, in der ihre aisthe­tische Qualität ebenso der Transformation unterliegt. Parallel dazu ver­kom­pliziert sich die Visualität, die zu einem Paradigma der Lesbarkeit avanciert.

[13] Wie beide hier beschriebenen Richtungen der Erfahrung als Trans­for­mation in einer enger auf den Bildgegenstand Fleck bezogenen chrono­logi­schen Betrachtung auf die Transformation als Erfahrung ein­wirken, zeigt sich bei Fried­rich Weltzien (TP A2). Der Fleck changiert zwischen der takti­len Spur des Sakri­legs – der Befleckung – und der intentionslos entstan­denen Zufallsform als visu­ellem Auslöser imaginativer Prozesse. Im Zuge der Aufklärung läßt sich die zunehmende Valorisierung des letzteren auf Kosten der nichtästhetisch morali­sierenden Lesart beob­achten. Dafür steht etwa Alexander Cozens Blot-Technik (1785), die als eine Bildfindungs­strategie den Fleck zur grundlegenden Basis ästhetischer Prozesse erklärt. Von nun an wird eine Tendenz zur Transzendierung der Sichtbarkeit auf­fällig: sei es als Ort transaisthetischer Potentialität (immer an Entgegen­ständ­lichung gekoppelt), sei es als Unterlaufen der Sichtbarkeit in den von Sabine Slanina beschriebenen Semioseprozessen. Ein Autonomisierungs­prozeß des Visuellen läßt sich schließlich im größeren historischen Bogen vom Blotting zum Tachismus zeigen. Nicht unbedingt ist damit jedoch gesagt, daß dieser Autonomisierungsprozeß auch einer des Ästhetischen ist bzw. als proto­typisch für das Ästhetische zu verstehen ist: Vom taktilen Fleck bei Delacroix – bzw. dem analogen Phänomen der Auslassungs­punkte bei Puškin als Materialspur (TP A4, Obermayr) – profiliert sich tak­tile Visualität als erfahrungskonstitutiver Exponent im genannten Trans­for­mations­bereich.

3.2.2. Reflexiv vs. Aisthetisch (Semiologisch vs. Phänomenologisch)

[14] Transformationsbewegungen zwischen reflexiver und aisthetischer Erfah­rung sind vor allem im Bereich von Schrift und Text festzumachen. Im Bild wer­den sie eben dann zum Phänomen, wenn das Bild nicht Gegen­stand visueller Erfahrung ist, sondern aufgrund diskursiver Dispositionen auf allen Ebenen Les­barkeit verlangt. Kann man die Lektüreerfahrung als grund­sätzlich reflexiv annehmen, so sind im Spannungsfeld von Lesbarkeit und Sichtbarkeit (und hier ist es angezeigt, auf den Trans­formations­bereich ‚visuell vs. taktil‘ zu verweisen) Transformationen von der reflexi­ven hin zu einer aisthetischen Erfahrung zu beob­achten:

[15] Vor dem Hintergrund grundsätzlicher Funktionen des Schriftbildes im Kon­text von ‚reflexiver‘, also lektüreleitender Erfahrung untersucht Rainer Falk (TP A5) im Zusammenhang editionsphilologischer Fragestellungen die Erst­ausgabe von Goethes Römischem Carneval (1789) im Hinblick auf die Tat­sache, daß diese in Lateinschrift, und nicht, wie zu dieser Zeit üblich, in Frak­tur gesetzt ist. Falk betrachtet jenes Moment, in dem die verfrem­dende und verfremdete Typo­graphie eine aisthetische Kategorie bildet, die der vermeintlich rein reflexiven Lektüreerfahrung eine aisthetische zur Sei­te stellt. Letztere erscheint schließlich als erfahrungsqualitativ. Von hie­raus transformiert sich die reflexive Erfahrung zu einer aisthetisch kodier­ten.

[16] Ein analogen Transformationsbewegungen unterliegendes Phänomen be­trach­tet Brigitte Obermayr (TP A4), wenn sie die Funktion der Aus­las­sungs­punkte im russischen Sentimentalismus mit jener in Aleksandr Puškins Verspoem Evge­nij Onegin (Eugen Onegin, 1825-1833) vergleicht. Während die Aus­lassungs­punkte im Sentimentalismus im Paradigma der Sicht­barkeit (bis hin zum Imagi­nären) funktionieren, unterliegen sie in Puškins Verspoem einer spezi­fischen Les­barkeit: Als Materialspur – eine Fest­stellung, die nur anhand von Ver­weisen auf das Projekt zur Funktion der Flecken im Werk Delacroix’ (TP A3) sich profiliert – zeigen sie beson­ders deutlich, wie ästhetische Erfahrung als Trans­formation fun­giert: Es liegt eine Prozessualität, eine permanente Transformation zwischen den Polen des Reflexiven und des Aisthetischen vor. Denn die Lesbar­keit ent­spricht an keiner Stelle einer rein reflexiven Erfahrung – ‚verschanzt‘ sich doch der ‚Sinn im Material‘ (Walter Benjamin): Die Auslassungspunkte (de)formieren die verbale Semantik; darin liegt eine aisthetische Kompo­nente (sie unterlaufen das senti­mentalistische Imaginationsversprechen) und gleich­zeitig eben die reflexive (sie deformieren die romantische Lektüre­erfahrung). In genau die entgegengesetzte Richtung bewegt sich die Auseinandersetzung mit der Farbe im Projekt von Caro­lin Meister (TP A1), das im Kontext der Trans­for­mation von visueller zu taktiler Erfahrung bereits Erwähnung fand, jedoch unter dem Aspekt Farbbedeutung, der dem Bereich des Symbolisch-Diskursiven zuzu­ordnen wäre, eine reflexive Kompo­nente erfährt, die nicht nur der aisthetischen Farbwahrnehmung gegen­läufig ist, sondern vor allem auch andeutet, wie Reflexi­vität auf der Ebene der Erfahrung als Transformation zu Konzeptualisierung führt.

[17] An dieses Moment der historischen Chronologie wäre angesichts des Phä­no­mens der Beat- und Pop-Literatur (TP A5, Dirck Linck) anzu­schließen. In der radi­kalen Absage an die zeichengelenkte Lektüre­erfah­rung im speziellen und die wesentlich individuelle ästhetische Erfahrung im allgemeinen geht die Transfor­mation hier einen Schritt weiter: Aisthe­tische Erfahrbarkeit ist hier wohl noch in der Erfahrung des Zerstörungs­prozesses von Textmaterial auszumachen, an­sonsten hebt die Pop-Lite­ratur die Konkurrenz des Literarischen zwischen Refle­xivität und Aisthesis auf zugunsten einer strategisch nichtästhetischen Sinn- bzw. Leiblichkeit (vgl. 3.2.4.).

3.2.3. Ästhetisch vs. Anästhetisch

[18] Hier ist von einem Transformationsbereich die Rede, in dem ästhe­ti­sche Er­fahrung mit dem Skandalon des Anästhetischen operiert. Historisch fällt dieser Bereich oftmals mit den Zonen des Häßlichen, Nicht-Schönen bzw. Ekelhaften zusammen – verwiesen sei auf die bereits erwähnte anästhe­tische Erfahrung des Ekels im Zusammenhang mit Hogarths Stichen von Vivisektionen (TP A1, Jehle) wie auf die transformative Ethik und Symbolik des Flecks (TP A2, Weltzien).

[19] In Analogie hierzu treten dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ver­stärkt massenkulturelle Elemente und Verfahren in den Bereich des Ästhe­tischen ein – man denke an Verfahren und Gegenstand der Collage im Kubismus, die Auf­fas­sung von Bildelementen (z.B. Farbe) als Ready-made (TP A1, Meister) oder an die Aufhebung der Differenz zwischen Hoch- und Populärkultur im Pop (TP A5, Linck). Wesentlich für diesen Bereich ist die Trans­formation des ästhetischen Erfahrungspotentials und -spektrums: Ästhe­tische Erfahrung verlangt nach einer skandalösen, anästhetischen Indexikalität.

[20] An den Filmfakturen und Filmfrakturen der russischen Avantgarde wird die­ser Transformationsbereich als zweifältiger kenntlich (TP A4, Hennig). Pudovkins Montageästhetik, mit der er Bildstörungen des frühen Kinos zu Verfahren der Filmkunst erhebt und einer ästhetischen Erfahrung zu­führt, wird von einer gegenläufigen Regression der ästhetischen Erfah­rung zur psychophysischen Per­zeption – einer Anästhetik der Reflexe – fun­diert. Die gegeneinander gerichteten Erfahrungsmodi steigern sich zur Erfah­rung von Transformativität. Die These vom zunehmenden Erfah­rungs­verlust bzw. von den zunehmend weiter ange­ho­benen Reizschwellen läßt sich im Kontext des Paradigmas der ‚Transformation als Erfahrung‘ freil­ich ebensowenig verifizieren wie jene, Erfahrung rette sich per se ins Ästhe­tische (Odo Marquard). Gegen sie spricht – an diesem Beispiel wird unsere These sehr anschaulich – das Phänomen der Beat- und Pop-Lite­ratur, die dem Ästhetischen mit großem Argwohn begegnet. Die Prozessu­a­lität der Erfah­rung ist auch in dem Sinne nichtlinear, daß sie zwar punk­tuell verenden, nicht jedoch an ihr Ende gelangen kann. Entgrenzung for­dert in diesem Sinne auf, die Transformationsprozesse jenseits von norma­tiven Kategorien zu beschreiben. Zu beobachten ist in diesem Kon­text außerdem, daß gerade mit der ästhetischen Aneignung anästhe­tischer Phänomene, die parallel zur ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ statt­findet, der Erfahrungsdruck bzw. Erfahrbarkeitszwang zunimmt.

3.2.4. Ästhetisch vs. Nichtästhetisch

[21] In diesem Transformationsbereich profiliert sich die ‚Konzeptu­ali­sierung‘ ästhetischer Erfahrung und Erfahrbarkeit in besonderer Weise: Dort, wo ästhe­tische Erfahrung als solche negativ postuliert wird, wird die Erfah­rung des Deu­tungsrahmens zu einem Teil ästhetischer Erfahrung. Der Transformationsbereich ‚ästhetisch vs. nichtästhetisch‘ ist zu unter­scheiden von jenen Bereichen, in denen ästhetische vs. aisthetische bzw. ästhe­tische vs. anästhetische Erfahrung einander gegenübertreten. Wäh­rend auf den beiden genannten Feldern ‚ästhe­tische‘ Erfahrung zwar trans­formiert wird, aber sowohl ästhetisch als auch Erfahrung bleibt, so macht die Negation ästhetischer Erfahrung mit der Trans­formation in nicht­ästhetische Erfahrung ernst.

[22] Dieser Transformationsbereich ist – dem historischen Datum nach – in der Beat- und Pop-Literatur der 1960er Jahre (TP A5, Linck) von beson­derer Rele­vanz, da deren Versuch, traditionelle ästhetische Erfahrung zu negie­ren, auch zur Negation der bis zu diesem Zeitpunkt anwend­baren Trans­formationstopoi führte. Dies war auch deshalb möglich, weil der einer modernistischen Vorstellung von Autonomie der Kunst und der Künste zugehörende disjunktive Erfahrungsraum (als ins ästhe­tische Objekt eingeschriebene ästhetische Erfahrung des Indi­vi­duums; TP A4, Ober­mayr) im Zeichen des Pop vom konjunktiven Erfahrungs­raum (als Raum einer tendenziell gemeinschaftlichen Erfahrung) abgelöst wird. Das ästhe­tische Objekt verschwindet hier eben­so wie das erfahrende Indivi­duum. Die dem Konzept der ästhetischen Erfah­rung vorausgesetzten diffe­ren­ten Erfah­rungsformen werden gegen­einander entgrenzt, die zuge­ord­nete Idee von Indivi­dualität kritisiert. Im kon­junk­tiven Erfahrungs­raum, der Aufmerksamkeit für interaktive Vor­gänge produziert, ereignet sich eine quasi-religiöse Gemeinschafts­erfahrung. Die Autonomie einer refe­ren­tiell ungebundenen ästhe­tischen Erfahrung wird negiert, ästhe­tische Erfah­rung folglich zu einer nicht-ästhetischen Erfahrung.

[23] Markiert der konjunktive Erfahrungsraum in diesem Sinne eine Diffe­renz eben auch im Sinne der Transformation von Erfahrung, so wird in der Kon­fron­tation mit dem disjunktiven Erfahrungsraum deutlich, wie sehr Nega­ti­vität – in Form einer spezifischen Negation, nämlich jener der ästhe­tischen Erfahrung als Welterfahrung – erfahrungskonstitutiv ist.

[24] Die als Erfahrung des Bruchs mit der Welterfahrung postulierte Quali­tät ästhetischer Erfahrung kann ihrerseits als Unterminierung ästhetischer Erfah­rung verstanden werden. Die ‚Einsamkeit‘ im disjunk­tiven Erfah­rungs­raum kann wie die konjunktive Erfahrung eine zutiefst soziale Erfah­rung sein. Als solche ist sie aber nicht nur und nicht vor allem ein Expo­nent historischer Transformation, sondern tendiert eher dazu, ‚Erfahrung als Transformation‘ zu beschreiben. Diese Erfahrung bestätigt jedoch keine Erfahrungsindividualität, sondern untergräbt die Integrität des Indi­vi­duums qua ästhetischer Erfahrung.

3.2.5. Reflexiv vs. Präsentisch

[25] Diese beiden kontroversen Pole, zwischen denen ästhetische Erfah­rung sich als Kraft entfaltet, scheinen zunächst eine Markierung im Bereich historischer Transformation von Erfahrung vorzunehmen. In unse­rem Projektbereich betrifft dies die präsenzästhetische Wende der 1960er Jahre (TP A5, Linck). Ästhetik­theo­retisch unterschiedlichen Para­digmen ange­hörig, ist dem Erscheinen (Martin Seel) wie dem Sich-Zeigen (Dieter Mersch) der Modus des Präsentischen einge­schrieben. Erwähnens­wert ist diese Tatsache vor allem deshalb, weil das sinn­liche Erscheinen, das pri­mär mit der Vorstellung des Präsentischen zu verbinden wäre, ebenso wie das reflexiv konzipierte, weil zeichentheoretisch fundierte Sich-Zeigen, das Präsen­tische verhandeln. So haben wir es auf der Ebene des Para­digmas von ‚Erfahrung als Transformation‘ auch im Trans­formationsbereich ‚reflexiv vs. präsentisch‘ einmal mehr mit offener Prozessualität zu tun. In vielen Fällen ist das Präsentische darin ein Index der Komplexität ästhe­tischer Erfah­rung: Reale Geste und Materialspur führen mitunter zur abstrak­testen Erfahrung. Als Beispiel hierfür wäre der Trans­formations­bereich ‚visuell vs. taktil‘ anzu­führen, wo etwa für das Phäno­men Fleck (TP A1, Slanina; TP A4, Obermayr) eine semiologisch unterkomplexe Struktur in einen Zusammenhang gebracht wird mit Tendenzen zur Entgegen­ständlichung – sei es im Anähneln der gegenständlichen Umgebung an Form und Farbe des Farbflecks bei Delacroix, sei es in der leeren Gegen­stands­referenz der Auslassungs­punkte bei Puškin.

[26] Schon der anhand von Hogarths Stichen festgestellte Distanzverlust, der sich aus der Differenzierung visueller und taktiler Sinneserfahrung ergab, mar­kiert eine frühe Phase in der Karriere des Präsentischen, die sich in zwei gegen­läufigen Bewegungen zu entwickeln scheint. Zum einen ist an die Präsenz­emphase zu erinnern, die unmittelbare Erfahrung privi­legiert (als Erfahrung per definitionem; besonders hervorzuheben wäre hier der autopoetische Charakter des Phänomens Fleck; TP A2, Weltzien) – zum anderen an die Aufmerksamkeit für den oben beschriebenen Modus der Indexikalität sinnlicher Präsenzspuren.

[27] Besonders geprägt ist dieser Transformationsbereich – der bereits erwähnte Fleck als Resultat eines autopoetischen Verfahrens zeigt es an – von Bemü­hungen, die Ästhetik zu entindividualisieren, die sich im ‚Action Painting‘ (TP A3, Lüthy) ebenso zeigen wie im Pop-Event (TP A5, Linck).

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