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2016. Kunst an Mauern. Künstlerische Transformationen im Stadtraum Dakars während der DAK'ART 2016

Von Lisa Goyke

 

In Dakar findet man entlang des Atlantischen Ozeans überall Mauern, die als Schutz dienen; Schutz vor Wind, Sicht und Wasser. Am Abend unserer Ankunft in Dakar − während der Fahrt in die Stadt − fielen sie mir bei Dunkelheit nicht auf. Doch als wir am nächsten Tag die Küste entlang fuhren, sah ich sie: beleuchtete, bemalte, beschriebene oder beklebte Wände. Eine bunte Wand spricht an und lädt ein sie näher zu betrachten. Durch die künstlerische Gestaltung wird jede Mauer gleichsam zu einer „Leinwand“.

Während unserer zweiwöchigen Exkursion, in der wir das In- und Off-Programm der Biennale DAK'ART 2016 sowie das Graffiti-Festival „Festigraff“ besuchten, lernte ich verschiedene Künstler_innen kennen, die ihre Kunstwerke auf Mauern „projizierten“. In meinem Essay setze ich mich mit drei solcher künstlerischen Arbeiten auseinander, auf die ich während unseres Aufenthalts im Mai 2016 aufmerksam geworden bin. Sie alle haben gemeinsam, dass sie Mauerwände quasi als „Leinwand“ für ihre Kunst verwenden. Meine Fragen sind: Inwiefern spielt die Mauer als künstlerische Gestaltungsfläche eine besondere Rolle? Hat sie eine bestimmte Funktion? Warum haben sich die Künstler_innen für diese Art der Präsentation entschieden? Was haben ihre Präsentationsweisen gemeinsam und worin unterscheiden sie sich? Und welche Rolle nehmen sie im zeitlichen und räumlichen Zusammenspiel mit der DAK'ART 2016 ein?

Die Beispiele stammen aus unterschiedlichen Kontexten der Kulturszene Dakars. Zunächst wende ich mich dem zeitgleich zur DAK'ART-Biennale stattfindenden Graffiti-Festival „Festigraff“ zu. Seine Hauptaufgabe besteht laut der Künstler_innen darin, die Bevölkerung Dakars für soziopolitische Themen, wie beispielsweise Bildung oder Demokratie, zu sensibilisieren. Durch Gespräche konnte ich mehr über die wichtigsten Ziele der Künstler_innen des „Festigraffs“ in Erfahrung bringen: Für sie ist zentral – neben der bereits erwähnten Sensibilisierung der Bevölkerung gegenüber soziopolitischen Themen ­– für sich selbst als Graffitikünstler_innen einen Rahmen zu kreieren, um künstlerischen Austausch zu ermöglichen und sich auf ihrem Gebiet zu professionalisieren.

Zum Zweiten gehe ich auf das „Dakar Carrefour de culture“-Videomapping ein, das unter dem Titel „Ces signes aux murs” (dt.: „Diese Zeichen an den Wänden“) von EUNIC1 Sénégal und dem Dakarer Kunst- und Multimediazentrum „Kër Thiossane“ mit finanzieller Unterstüzung der EU organisiert wurde und einen Teil des Biennale Off-Programms darstellte. Das dritte und letzte Beispiel ist die Installation „Prisoners“ des Künstlers Yuri Leonardo, die ebenfalls Teil des Off-Programms war. Zur Besprechung der drei genannten Beispiele beziehe ich mich auf Gespräche und Beobachtungen, die ich zur Zeit der DAK'ART 2016 vor Ort mit den Künstler_innen und dem Publikum geführt habe.

Das „Festigraff“ ist das erste Graffiti-Festival auf dem afrikanischen Kontinent. Es wurde im April 2010 in Dakar gegründet und findet seitdem jährlich statt. Graffitis haben in Senegal keinen illegalen Status, vielmehr wird der urbane Gestaltungsansatz unterstützt und gefördert. Die Bevölkerung sieht sie als eine Verschönerung der Stadt und gleichzeitig als Impuls, eine Art Anregung, sich jenseits staatlicher Institutionen über soziopolitische Probleme Gedanken zu machen.

Das „Festigraff“ 2016 fand vom 26. April bis 6. Mai statt und jährte sich damit schon zum siebten Mal. Heute reicht der Ruf dieses Projekts über die Landesgrenzen hinaus und das Festival ist in der internationalen Graffiti-Szenen anerkannt. Derzeit hat Dakar ungefähr 50 Graffitikünstler_innen aller Altersgruppen, die sich ihr Handwerk selbst beigebracht haben oder dieses in der Community erlernt haben. Die Künstler_innen bilden eine Gemeinschaft, die sich auf der Straße oder dem Gelände des „Maison de la culture Douta Seck“ (dt.: „Haus der Kultur Douta Seck“) treffen und sich über ihre „fresques murales“ (dt.: Wandmalereien) austauschen.

Bei einer Führung über das Festivalgelände, auf dem sich die Graffitiszene versammelte, fiel mir auf, dass bei Erzählungen über die Geschichte des „Festigraffs“ oft der Name Docta fiel. Ich fragte nach, um wen es sich dabei handle. Docta gilt als der Begründer des Graffitis in Senegal. Er wird auch der „docteur des murs et des âmes“ (dt.: „der Arzt der Mauern und Seelen“) genannt. Docta rief 2008 den Vorreiter des „Festigraffs“, das „Graff et Santé“, ins Leben, eine Veranstaltung im Sozial- und Gesundheitsbereich. Im Rahmen dieser Initiative dienten Graffitis zur Sensibilisierung gegenüber sexuell übertragbaren Krankheiten. Aus diesem Vorläufer entstand die Idee eine Ausstellung für Graffitikünstler_innen zu schaffen, um diesen eine Plattform der Sichtbarkeit zu bieten.

Abb.1: Graffiti auf dem Gelände des „Maison de la culture Douta Seck“, Foto: Lisa Goyke.

Ich erfuhr zudem, dass die Projektleitung bereits im Zuge der Planung der ersten Ausgabe des „Festigraff“ das Institut Français um Förderung bat. Das französische Kulturzentrum, das für die Verbreitung der französischen Kultur sowie für die Förderung der Kultur Senegals steht, bewilligte den Antrag. Durch die entstandene transnationale Kooperation wurde das Projekt als internationales Festival − offen für Teilnehmer_innen europäischer wie afrikanischer Herkunft − konzipiert. Im Weiteren beteiligte sich auch das Goethe-Institut an der Förderung.

Dabei konnte ich in Erfahrung bringen, dass die Festigraff-Macher_innen mit der Zeit den Ehrgeiz entwickelten, dass sich das Festival geografisch immer weiter ausdehnt und bekannte afrikanische Graffitikünstler_innen weltweit einlädt. In anderen Ländern Afrikas wurden nach diesem Vorbild weitere Graffiti-Festivals gegründet.

Die siebte Edition des Festivals begrüßte ungefähr 30 Künstler_innen aus über zehn Nationen. Als ich spätnachmittags in Dakars Altstadt, der sogenannten „Medina“, zu Fuß unterwegs war, um die Werke genauer zu betrachten, fiel mir auf, wie stark sie visuell in das Alltagsleben integriert sind; man bemerkte kaum, dass sie im Rahmen eines Festivals entstanden sind. Anders als in der kleinen Freiluftgalerie auf dem Gelände des Festivals, waren die Graffitis entlang der „Medina“ halb verdeckt von Marktständen, geparkten Autos oder auch flanierenden Menschen. Die (Un-)Sichtbarkeit der einzelnen Werke bedingt sich somit durch das alltägliche Leben des Viertels. So werden die Arbeiten immer wieder verdeckt, freigelegt, überlagert, transformiert – und stehen in stetigem Austausch und Wechselspiel mit den Situationen auf, um, vor und hinter den Mauern, auf welche sie aufgetragen wurden und werden.

Abb.2 & 3: Graffiti entlang der „Medina“, Fotos: Lisa Goyke.

Die Funktion des „Festigraff“ ist also, senegalesischen und internationalen Künstler_innen die Chance zu geben, zu teilen, was sie eint: Wie ich in Gesprächen erfahren konnte, beziehen sich Graffitikünstler_innen aus verschiedenen Ländern Afrikas auf ähnliche soziale und politische Probleme und werden dadurch zur Arbeit inspiriert. Durch die Wahl des urbanen Raumes ziehen die Graffitis ein breiteres Publikum an. Es handelt sich hierbei größtenteils um Kunst für die Bewohner_innen Dakars; dieser Ansatz steht damit in Kontrast zur internationalen Ausstellung der parallel laufenden Biennale, die vor allem ein internationales Kunstpublikum anzieht.

Eine weitere Art Mauern als „Leinwand“ für die Kunst zu nutzen, sah ich bei den verschiedenen Videomappings des OFF-Programms der DAK'ART. Videomapping projiziert Licht oder auch Videos auf ein vielfaches Volumen und entwirft dadurch flächige Bilder auf Reliefstrukturen. Die Anwendungsbereiche von Videomapping sind vielfältig und finden ihren Einsatz vor allem in der Werbebranche und in der Medienkunst. Videomapping ist somit als digitale Kunst im öffentlichen Raum zu verstehen. Dabei wird digitale Technologie als ein essentieller Teil des kreativen Prozesses genutzt.

Wie man auch dem Off-Programm entnehmen konnte, fand das „Dakar Carrefour de culture“-Videomapping, bestehend aus Performances und Workshops, an vier Abenden an vier verschiedenen Orten statt und zog jedes Mal ein großes Publikum an. Die spektakulären Darbietungen auf den teils geschichtsträchtigen Mauern Dakars fanden am städtischen Rathaus im Viertel „Le Plateau“ nähe „Rond Point“, in der „Medina“, am alten Bahnhof, sowie am „Rond Point Jet d'Eau“ in „Sicap-Liberté"statt. An jedem Abend präsentierte ein_e internationale_r Künstler_in zusammen mit senegalesischen Künstler_innen ihre Videokunst, die im Rahmen eines vorherigen Workshops entstanden war. Die internationalen Künstler waren Philipp Geist aus Deutschland, Fausto Morales Gil aus Spanien und Aurélien Lafargue aus Frankreich. Die Videomappings wurden mit lauter Musik untermalt und wurden so für die Betrachter_innen zu einem Erlebnis, das multisensorisch wirkte. Begleitet wurden die jeweiligen Mappings mit einem Rahmenprogramm, welches u.a. Konzerte von senegalesischen Musikern beinhaltete.

Abb.4: Videomapping am alten Bahnhof in Dakar, Foto: Ina Makosi.

Eines dieser Mappings fand im Rahmen der Eröffnungswoche der Biennale am 10. Mai auf dem Gelände des früheren Dakarer Hauptbahnhofs statt. Das tagsüber verlassene Kolonialgebäude wurde am Abend inmitten der Dunkelheit zum Leuchten gebracht. Der stillgelegte Bahnhof von Dakar, der 1885 erbaut wurde, gab nun unter Leitung von Philipp Geist den Umriss für ein Kunstwerk vor. Die Eingangsfassade des Gebäudes wurde größtenteils mit neon-farbenen, variierenden geometrischen Formen bestrahlt und stach daher selbst von weiter Entfernung hervor (Abb. 4). Die Aufmerksamkeit, die das Kunstwerk durch die großflächigen grellen Farben im Dunkeln auf sich zog, wurde durch elektronische Musik unterstützt.

Die Videomappings zogen durch riesige Licht- und Videoshows und dem Aufbau von großen elektronischen Geräten, viele Anwohner_innen der jeweiligen Stadtviertel Dakars an und bezogen diese teilweise auch mit ein. Jeder war eingeladen sich vor die Mauern zu stellen, um die Illuminationen und Inszenierungen mitzuerleben. Untermalt von Musik und Performances erzählten die 3-D-Videoprojektionen ganze Geschichten an den Fassaden. Die Kunst an Mauern hatte in diesem Fall eine Unterhaltungsfunktion. Zugleich machten die Videoprojektionen aufmerksam auf die geschichtsträchtigen Gebäude Dakars und setzte die Wahrzeichen dieser Stadt in Szene. Im Vergleich mit den zuvor beschriebenen Graffitis steht der Untergrund, die Gemäuer der Gebäude, viel mehr im Vordergrund. Die Mauern dienten nicht nur als Untergrund, sondern bildeten zugleich auch den formgebenden Umriss. Gleichzeitig kann man durch die direkte Bestrahlung der Fassade die Details der „Hauswand“ und somit deren Struktur erkennen. Die Mauern wurden Ausstellungsort der Biennale Dakars und durch ihre Präsentation unter freiem Himmel erzeugten sie neue Sichtbarkeiten. Die Grenzen eines Kunstraums wurden aufgelöst.

Die früheren Kolonialgebäude werden heute so nicht mehr genutzt, wie sie ursprünglich angedacht waren. Aber in Anerkennung der Tatsache, dass dies ein Teil der senegalesischen Landes- und Stadtgeschichte ist, versucht man mit der Geschichte umzugehen, überlagert die Einschreibungen in den Stadtraum − zumindest temporär − mit dem Videomapping, ohne dabei jedoch Vorangegangenes einfach vollkommen zu überblenden.

Andere Künstler wiederum nutzten die Mauern entlang des Atlantischen Ozeans, um ihre Kunst zu präsentieren. So stolperte ich regelrecht über die Installation von Yuri Leonardo.

Abb.5: Installation „Prisoners“ von Yuri Leonardo, Foto: Lisa Goyke.

Abb.6: Programmflyer „La Médina: Traditions, transmissions & société contemporaine“ der DAK'ART 2016 – Off-Programm.


Der in Moskau geborene Künstler aus der Dominikanischen Republik mit Wohnsitz in Paris bereitete − ohne Kopfbedeckung der Mittagssonne direkt ausgesetzt − seine Installation für den Abend vor. Diese sollte Teil des Off-Programms sein und wurde unter dem Titel „La Médina: Traditions, transmissions & société contemporaine“angekündigt. Auf dem Flyer stand zur Information, dass dies ein öffentlicher, für jeden zugänglicher Programmpunkt ist.

Die 3x6x54m große Wandinstallation entstand auf einer grauen Mauer, auf der bereits vereinzelt schwarze Graffitis gesprayt waren. Materialien, die der Künstler hierbei verwendete, waren Nägel, rotes Graffitispray und roter Faden. Als ich auf Yuri traf, war er gerade dabei, mit einer großen Rolle rotem Faden Nägel miteinander zu verbinden, die er vorher in die Mauer geschlagen hatte. Er erzählte mir, dass er am Abend seine Installation fertiggestellt haben werde und diese mit einer Lichtprojektion, musikalischer Begleitung bei einem Grillfest der Nachbarschaft präsentiert werden solle. Doch als ich abends um acht erneut ankam, um mir das Projekt anzuschauen, traf ich im Dunkeln nur auf Yuri, der sich bei mir entschuldigte, da das Vorhaben um einen Tag verschoben wurde. Auf die Frage, ob er nicht Angst habe, dass jemand über Nacht seine ganze Arbeit zerstöre, antwortete er ganz gelassen: „Nein“. Er arbeite nun schon seit Tagen dort. Nachdem sein erster Versuch über Nacht von den nächtlichen Aufräumarbeiten, dem Verbrennen des Mülls entlang der Mauer, zerstört worden sei, sei er nun Teil der Nachbarschaft. Jeder kenne ihn, schätze seine Arbeit und wisse sie zu würdigen. Seine Sorge galt vielmehr dem Wohl der Nachbarschaft, die sich keinesfalls nachts an den fest gespannten Schnüren verletzen sollte. Ein Projekt ganz für die Öffentlichkeit und somit auch der Nachbarschaft, wie es das Programm bereits voraussagte.

Yuri Leonardo erzählte mir, dass er sein Projekt „Prisoners“ nennen will. Und auf die Frage, inwiefern sich seine Installation auf das Thema „La Médina: Traditions, transmissions & société contemporaine“ beziehe, antwortete er ausführlich. Zusammengefasst symbolisieren die roten Fäden seiner Installation für den Künstler Grenzen. Yuri Leonardo bezieht sich hierbei auf die Kartografie. Allerdings will er damit zeigen, dass Territorien nicht nur durch Grenzen charakterisiert werden, sondern auch durch die an den Grenzen stattfindende Transmission, dem generationsübergreifenden Weitergeben von Kultur und Tradition; dies zeigt er durch die Überschneidungen der roten Fäden, die diese Transmission widerspiegeln.

Die Mauer bot Yuri Leonardo eine stabile Grundlage für seine Installation. Aber sie bildete nicht nur das Fundament seiner künstlerischen Auseinandersetzung, sondern vielmehr bezog er sie auch mit ein, indem er den roten Faden um sie herum spannte. Gerade weil sich seine Installation mit der Thematik Kartografie und Grenzen beschäftigte, spielte die Mauer hier indirekt noch einmal eine besondere Rolle. Sie verkörperte die Grenzen, die die roten Fäden darstellten. Aber wie auch schon bei den vorherigen Beispielen spielte der öffentliche Raum eine große Rolle. Er bewirkte, dass die Installation von vielen Menschen der Nachbarschaft gesehen wurde, während sie gleichzeitig auch das internationale Publikum der DAK'ART anzog und ein wenig in den Lebensalltag der Dakarer Bevölkerung holte. Durch die zusätzliche Anziehungskraft der Installation, die die „Mauerarbeit“ durch die Lichtprojektion, musikalische Untermalung und das Grillfest am Abend der Präsentation erhielt, brachte sie ähnlich wie die Videomappings internationale Besucher_innen der DAK'ART 2016 mit den Bewohner_innen vor Ort zusammen.

Mauern und Wände dienen in ihrer ursprünglichen Funktion dazu, etwas räumlich voneinander zu trennen und sich vor verschiedenen Dingen zu schützen. Doch die hier vorgestellten Beispiele zeigen, dass sie auch in eine „Leinwand“ für Kunst umgewandelt werden können und somit weitere Funktionen erlangen, die vor allem verbindend wirken. Die Kommunikationsräume, die hier aufgemacht werden, stellen eine Art Zwischenraum dar, eine Möglichkeit eine global angelegte Veranstaltung wie die Biennale DAK’ART mit lokalen Thematiken zu verknüpfen. Das Kommunizieren über Mauern lässt verschiedenste Menschen, Stimmen und Anliegen an einem Ort zusammenkommen, der geschichtlich zwar nicht unbeschrieben ist, der aber Potential bietet, über eine Zukunft zu diskutieren, die man gemeinschaftlich gestaltet. Die drei hier besprochenen Herangehensweisen im Umgang mit einem ursprünglich abgrenzenden Medium teilen weiter vor allem die Tatsache, dass sie sich den urbanen Lebensraum aneignen und diesen entsprechend der zu behandelnden Thematik transformieren. Deutlich wird dabei – insbesondere bei der Arbeit Leonardos –, dass ein Dialog zwischen Künstler_innen und Bewohner_innen, aber auch dem Publikum der Biennale unvermeidbar bleibt.

Die von mir beschriebenen Beispiele, ob sie nun im direkten oder indirekten Bezug zur Biennale 2016 stehen, verkörpern meiner Meinung nach ebenfalls das Motto „Reenchantment“. Verschiedene Künstler_innen haben anhand von Graffiti, Videomapping oder Installation Mauern neu belebt und wiederverzaubert und damit die Bevölkerung zusammengebracht. Die Frage nach dem Umgang mit dem Stadtraum und der Funktion der Kunst an Mauern ist hier besonders wichtig, da sich diese Mauern im Lebensraum der dort lebenden Bevölkerung befinden – und nicht unbedingt im Justizpalast, dem Hauptspielort der Biennale. Wenn man der demokratischen Idee folgt, dass jeder Mensch innerhalb der Gesellschaft Mitspracherecht hat, muss der Diskussionsraum auch für jeden zugänglich sein – eine Forderung, die meines Erachtens bei einem musealen Ausstellungsraum schwieriger einzulösen ist als bei Mauern im öffentlichen Raum. Die Mauer als Grenze erfährt dabei ebenso eine metaphorische Bedeutung, da man diese Grenze durch die Aneignung des Gesteins aufbricht.

Auch Struktur und Aufbau der Mauer haben eine Funktion: Mauern bieten einen stabilen, großen, für jeden sichtbaren Untergrund, der in die Kunstwerke mit einbezogen wird. Das meist helle, farblich unauffällige Gestein bietet eine perfekte Grundlage etwas Auffälliges entstehen zu lassen, das dann zusätzlich durch seine Ortung im unbegrenzten öffentlichen Raum von jedem betrachtet werden kann. Alle vorgestellten Kunstwerke sind temporär, wodurch die Mauer immer wieder Fundament neuer Kunstwerke werden kann und sich so auf die sich stetig verändernden Ansprüche einer Gesellschaft einlassen kann. Alle drei Beispiele teilen also, dass sie sich im urbanen Raum befinden und sich diesen zum Teil aneignen. Die Künstler_innen leisten so auf verschiedene Art und Weise eine Kulturarbeit, die etwas Neues oder etwas Vergessenes ins Leben zaubert – und so das Konzept Njamis des „Reenchantement“ untermauert bzw. erweitert. Durch die Verwendung der Mauern werden Grenzen aufgelöst und dem Facettenreichtum der Gestaltung des urbanen Raums freien Lauf gelassen ­– er wird (wieder-)verzaubert, ja: Reenchanted!

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Anmerkungen:

1 Abkürzung für "European Union National Instituts for Culture".

2 Zu den Anfängen und zur Geschichte der Graffiti-Malerei in Dakar, insbesondere die Jugendbewegung Set Setal und den Straßenmaler Bapisto Boy, siehe Christine Leduc-Gueye, Du Set Setal au Festigraff: l’evolution murale de la ville de Dakar. In Cahiers de narratologie No. 30 (2016) https://narratologie.revues.org/7463#text. 27. September 2017.

3 Sicap-Liberté ist ein Verwaltungsbezirk (commune d‘arrondissement) in Dakar.

4 Vgl. Programmflyer der DAK'ART 2016 – Off-Programm.

5 Interview mit Yuri Leonardo (Mai 2016).