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2014. Urbane Utopien zwischen Algier und Dakar

Von Nadia J. Kabalan

Amina Menia: A Peculiar Family Album (2012) Austellungsansicht. Fotografie: Christophe Ndabananiye

Dakar. Die ehemalige Hauptstadt des französischen Kolonialreiches, und ein lebendiges Museum kolonialer Architektur und
 Geschichte. Die Stadt scheint eine besondere Faszination auf
 die Künstler der Dak'Art Biennale auszuüben, denn auffällig 
häufig erzählen die Arbeiten von urbanen Utopien, dem
 gesellschaftlichen und politischen öffentlichem Raum der Stadt 
und der Geschichte kolonialer Architektur auf dem afrikanischen
 Kontinent. Auffällig ist auch, dass die drei Künstler_innen, die
 sich wohl am explizitesten mit diesem Spannungsverhältnis
 beschäftigen, in Algerien aufgewachsen sind und den engen
 Bezug zur Hauptstadt Algier in ihre Arbeiten einfließen lassen.
 Alle drei Künstler_innen arbeiten mit unterschiedlichen Medien
 und Herangehensweisen: Die materielle Grundlage für Amina Menias Kurzfilm A Peculiar Family Album (2012) ist das private Filmarchiv des ehemaligen Bürgermeisters Französisch-Algeriens Jaques Chevallier aus dem Jahre 1953 und sucht einen persönlichen Zugang zum kolonialen Erbe modernistischer Utopie im heutigen Algier. Kader Attia, der heute zwischen Berlin und Paris lebt, hat in Dakar mit dem noch heute stehenden »Hotel de l'Indépendence« aus dem Jahre 1975 die geeignete Vorlage für seine skulpturale Untersuchung zwischen Algier und Dakar gefunden; Indépendance Tchao (2014). Und Driss Ouadahi, der an der Kunstakademie Düsseldorf studierte, wählt mit dem Ölgemälde Unter Uns (2008) Malerei als Technik um seiner »Philosophie der Abwesenheit«1 in einer geometrisch präzisen, aber doch abstrahierten Stadtlandschaft Ausdruck zu verleihen.

Kader Attia: Indépendence Tchao (2014) Ausstellungsansicht

Driss Ouadahi: Unter Uns (2008)


Algier teilt mit Dakar2 die Geschichte französischer Kolonialherrschaft und ist mit Frantz Fanon als architektonisches Wahrzeichen der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung in die Geschichte des anti-kolonialen Kampfes eingegangen: »After carrying Algeria to the four corners of Africa, move up with all Africa toward African Algeria, toward the North, toward Algiers, the continental city (...) That Malians, Senegalese, Guineans, Ghanaians should descend from Mali onto our territory. And those of the Ivory Coast, of Nigeria, of Togoland. That they should all climb the slopes of the desert and pour over the colonialist bastion. To turn the absurd and the impossible inside out and hurl a continent against the last ramparts of colonial power.«3

Für 132 Jahre war Algier das administrative Zentrum der französisch-kolonialen Aktivitäten und bot so die Kolonialstadt „par excellence“ auf dem afrikanischen Kontinent, in der viele kulturelle, politische, militärische, und architektonische Kämpfe geführt wurden. Bei Zeynep Celik (1997) ist nachzulesen, inwiefern Algier als die Stadt, in der sich koloniale Politiken, Architektur und urbane Formen bedingen, eine Schlüsselrolle einnimmt in der Definition von Kultur und Identität.4

Amina Menia: Algier - wie ein urbanes Reptil, das seine Haut wechselt

Ich treffe Amina Menia am Tag der offiziellen Eröffnung der »Internationalen Ausstellung« auf der Dak'Art, die sich in der Village de la Biennale im südlichen Dakar befindet. Nachdem sich senegalesische Regierungsvertreter unter einem Blitzlichtgewitter vor ihrer Arbeit versammeln und ihr Fragen stellen, umringt von zahlreichen Kameras, Handys und interessierten Besucherinnen und Besuchern, finde ich ein wenig Zeit, mit der Künstlerin über ihre Arbeit A Peculiar Family Album zu sprechen.

Auch Amina Menia sieht eine große Gemeinsamkeit der Städte Algier und Dakar. In dem kuratorischen Statement zur Biennale mit dem Motto »Producing the Common« tauchen viele Fragen auf, die sich, wie Menias Arbeit im Allgemeinen, mit der Rolle von Kunst in der aktiven Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum, seinen architektonischen Bedeutungen und gesellschaftlichen Grenzen beschäftigen: »Is the encounter of works of art in a specific place, the art exhibition, not an attempt to instantly produce the public space which people seek through movement and protests? (...)Thus, if politics is a way of communicating in the public space, is art therefore the base?«5.

Der knapp 15 minütige Film A Peculiar Family Album (2012) ist eine Collage von Auszügen des persönlichen Filmarchivs von Jaques Chevallier, ehemals französischer Bürgermeister im kolonialen Algier der 50er Jahre. Begleitet wird die visuelle Ebene von einer narrativen Ebene in der Tonspur, gesprochen von der Künstlerin selbst als Erzählinstanz. Diese zwei Ebenen scheinen auf den ersten Blick unabhängig voneinander zu agieren - die Interaktion ergibt sich jedoch mit der Iteration einzelner Bilder im Verlauf des Filmes, die wie orchestrierte Elemente immer wieder neu zum gesprochen Text komponiert werden und allmählich Sinn ergeben: Beginnt der Text zunächst mit einer faktischen Beschreibung von Temperatur, Sicht und Ort des aktuellen Geschehens und des persönlichen Alltags der Künstlerin aus einer Ich-Perspektive, so verweben sich im Verlauf immer komplexer die Ebenen des persönlichen Narrativs in der Gegenwart und die der kolonialen Architekturgeschichte der algerischen Hauptstadt.

So wirken die ersten Sequenzen des Filmes, die das urbane Algier im Jahre 1953 zeigen mit seinem Hafen und seinen Hochhäusern, wie die Illustration des aktuellen und persönlichen Blicks von der Terrasse der Künstlerin in dem Viertel „Bab El Oued“, die sie in der Erzählung beschreibt.

»Algiers. July 2012. 38 degrees...This certainly isn't the best panorama, but I need this little piece of sea glue, to smell the sea spray, so to have a truesense of this town, to feel I'm part of this town.«

Erst im Verlauf der Erzählung, die von der „Metamorphose“ der Stadt über die Jahrhunderte hinweg berichtet, von den Phöniziern über die Osmanen bis hin zu Französisch-Algerien wird deutlich, dass die Bilder aus der Zeit französischer Kolonialherrschaft stammen müssen.

»It (the city of Algiers) is like a concrete beast, that mounts like an urban reptile, changing its scin.«

Amina stellt fest, dass 50 Jahre nach der Unabhängigkeit das französische Erbe immernoch das Stadtbild dominiert.
Der Architekt Fernand Pouillon, der in den 1950er Jahren im Auftrag des Bürgermeisters Jacques Chevallier 'soziale Wohnprojekte' für die verarmte algerische Bevölkerung errichtete, steht im Rampenlicht dieser Aufnahmen: Stets in Anzug und Krawatte begeht er die Baustellen seiner gigantischen Wohnprojekte, überblickt heroisch das Fundament und wird gefeiert von gut gekleideten französischen Regierungsvertretern bei den zahlreichen Inaugurationen der Bauten »Diar Es-Saada«, »Diar El-Mahcoul« und »Climat de France«.

»The meeting of this two men, Pouillon and Chevallier, probably changed the face of Algiers. While beautiful neighboorhoods were exclusively reserved for the Europeans, finally someone was trying to create home for the Algeriens. The second class citizens«

Der Architekt und Wissenschaftler Nezar Al Sayyad geht in seinem Aufsatz »Neither Homogeneity Nor Heterogenity: Modernism’s Struggles in the Muslim World« auf den Einfluss des Kolonialisierungsprozesses auf die Planungsmuster der gesamten städtischen Entwicklung in Algerien ein, und hält fest, dass es eine alte Strategie der Kolonialisten war, flächendeckend historische Dörfer zu zerstören, um die indigene Population anschließend neu gruppieren und in neue Siedlerstädte unterbringen zu können. All das unter dem »Deckmantel der Modernisierung«6 und westlicher Fortschrittlichkeit in Abgrenzung des als rückständig und exotisch konstruierten Orients. Diese »Uprooting Operations«, im Falle der Algerischen Revolution, dienten dazu, so Al Sayyad, den subversiven Einfluss der Rebellen zu brechen. Pouillon selbst hält als eines der Ziele seiner utopischen Bauprojekte die Befriedung der Bevölkerung fest. Ironischerweise trat das Gegenteil ein: Der Innenhof, »Maidan«, des Wohnprojektes »Climat de France« diente ein paar Monate nach Fertigstellung als Trainingsgebiet für die FLN, der Nationalen Befreiungsfront Algeriens. Mit Pouillons Obsession, bei jedem Wohnprojekt gigantische Plakatwände anzubringen, die den Countdown bis zur Fertigstellung der Bauten täglich anzeigten, sieht Amina Menia eine Parallele zum politischen Countdown, der das Ende der französischen Besatzung und eine neue Phase der bewaffneten Widerstandskämpfe ankündigte. In den Bildern Chevalliers, die Menia kommentiert, ist der algerische Widerstand jedoch abwesend und unsichtbar.

»I like to feel in the same countdowns, the rising of the Algerien people against the edifies of french Algeria.«

Wir beobachten im Film von Amina Menia, wie die Zementriesen aus dem Boden sprießen, und Stück für Stück größer werden durch die Hände der sklavisch arbeitenden verarmten algerischen Bevölkerung. Mit der narrativen Verflechtung der historischen Bilder mit zeitgenössischen (Klassen)Kämpfen um Wohnraum in Algier erhalten Pouillons modernistische Utopien einen zeitgenössischen Charakter von Post- bzw. Neokolonialismus in Algier heute:

»The images speak to me through their tiny details, that make up an urban narration for my Algiers today. ...New vertical cities for 10 000, 20-, 50 000 inhabitants rise from the ground suddenly and surround Algiers«

In dem Schlussteil des Filmes drückt sich der feministische Anspruch aus, mit der männerdominierten Kolonialgeschichte Algier zu brechen:

»A little girl joins her class. Who is she? What is she doing? How she feels among these buildings. Has she heared of Pouillon? Does she live in one of his apartments? This girl could be me. Probably is me. This girl is Algiers.«

Sie spricht von dem Mädchen, das innerhalb einer Gruppe von Kindern gegen Ende des Filmes in den historischen Aufnahmen von Jaques Chevallier zu sehen ist, möglicherweise in einer Schule innerhalb der modernistischen Kolonialarchitektur. Amina Menia sieht sich selbst in dem Mädchen, die für sie metaphorisch für die Stadt Algier steht.

Als ich sie zur Wahl des Mediums und der narrativen Gestaltung des Filmes fragte, sagte sie, dass es ihr ein zentrales Anliegen war, sich als Frau aus Algier in die männerdominierte Geschichte der Stadt einzuschreiben über eine mündliche Neuerzählung der Vergangenheit: »Let me just go inside, propose myself, my voiceover, as a female, as an actor of today, looking to the past but maybe criticizing the present as well and looking to the future. This was my way of constructing it.«

Amina erzählt von ihrer Faszination für Chevalliers Filmarchiv, das sie sechs Monate lang studierte und sich in ihm »wie zu Hause« fühlte, da sie ihre künstlerische Sprache von Urbanität wiederentdeckte: Fast ausschließlich beschäftigen sich ihre Arbeiten mit der Beziehung zwischen architektonischem und historischem sowie gesellschaftlichen Raum in Algier oder um die Stadt herum. Mit einer minimalistischen Sprache, die oft nur aus einem Gerüst oder einem Bauelement außerhalb oder innerhalb der urbanen Landschaft besteht, wird nicht das materielle Objekt, sondern der politische Raum, zu dem sich ihre Arbeiten hin öffnen, zum Zentrum der Auseinandersetzung.

Installation, Intervention und Skulptur gehen dabei oft ineinander über.
 Mit diesem Material zu arbeiten war, so Menia, wie ein zweites »Neu-Schreiben«, nicht von Geschichte an sich, sondern das ihres eigenen, persönlichen Narrativs. Zwar kreisen Menias künstlerische Explorationen stets um Algier, jedoch macht sie im Gespräch deutlich, dass es ihr wichtig war, mit »A Peculiar Familiy Album« über den spezifisch algerischen Kontext hinaus zu gehen und ein breites Publikum anzusprechen. Sie wollte den Betrachter_innen Raum lassen, ihre eigenen Geschichten und Perspektiven auf die Stadt einzuflechten: »I wanted space for him (the spectator), because these issues of what is your city, what is the future of your city, how it is made, who makes the decisions, who not, who is dominating, who's not – Everyone can feel concerned, even in the occidental countries.« Durch die Erzählperspektive in der ersten Person wird zusätzlich ein Identitätsgefühl mit dem Zuschauer möglich gemacht.

Obwohl die Präsentation der Arbeit auf der Dak'Art eher nachteilhaft war (die Filmleinwand stand zu einer Ecke des Raumes gewandt, zudem war der Text nur schwer verständlich und ein Skript nicht vorhanden) - so zeichnet sich doch eine Stärke der Arbeit darin aus, mit dem illustrativen Spiel der sich wiederholenden Bilder im Verlauf der Narration immer neue Bedeutungen und Zeitlichkeiten zu entwickeln: Die urbane und koloniale Geschichte der Stadt, die ausschließlich von Männern gemacht ist, entfaltet sich über die persönliche und mündliche Geschichte der Künstlerin und wird zu einer neuen Gegenwart, die sich nicht erheblich von vergangenen kolonialen Realitäten abzuheben scheint. Die Verwirrung der zeitlich nicht kohärenten Bilder mit den persönlichen Erzählungen der Künstlerin, ruft neue Assoziationen im Kopf des Betrachters hervor, die die fehlenden visuellen Elemente (die Revolution oder das heutige Algerien) ergänzen. Während Menia im Film die Ghettoisierung des »Climat de France« und aktuelle soziale Krisen im städtischen Raum des modernistischen Projekts beschreibt, ziehen die Bilder der ersten Steinlegung des spätkolonialen 'humanistischen' Projekts am Auge des Betrachters vorbei. Durch diese multitemporale Erkundung der Stadt Algier, die zwischen persönlicher und kollektiver Erinnerung oszilliert, wird auf bittere Art und Weise das Scheitern der humanistischen Fassade kolonialer Utopie und der widersprüchliche Effekt der dem Orient auferlegten »Modernität« vor Augen geführt. Die Frage nach dem Fortwirken des kolonialen Erbes, nicht nur in Algier sondern in der globalen imperialen Städtelandschaft, bleibt im Raum stehen.

Kader Attia: Ciao, Unabhängigkeit!

Kader Attias Skulptur tritt nicht in verbale Interaktion mit dem Betrachter, bringt ihn aber zu einer physischen Umrundung des Hochauses in Miniaturformat. Dunkel schweigen die wie Bausteine übereinander gestapelten leeren Karteikästen in einem Seitenflügel der »Internationalen Ausstellung«, und wirken wie das echte Hotel de l'Indépendance in Dakar, verlassen und vergessen.


Hotel de l'Indépendance in Dakar

Anders als die Gebäude in Amina Menias Film, wurde das Hotel de l'Indépendance in der senegalesischen Hauptstadt, auf das die Arbeit rekurriert, nach der Unabhängigkeit von französischer Herrschaft erbaut. Der Titel könnte ein Rekurs auf den gefeierten Hit »Indépendance Cha Cha«, der Band L'African Jazz sein, der im Jahre 1960, dem »Year of Africa«7 die Unabhängigkeit von Belgisch Congo feierte. Mit der Ersetzung von Cha Cha durch »Tchao« wird der Traum einer aufgesetzten oder oberflächlichen Unabhängigkeit verabschiedet. Attia sieht in der modernen Architektur des Hotels de l'Indépendance die Verkörperung der desaströsen Konsequenz der Utopie von Unabhängigkeit und das Scheitern des sozialistischen Projekts der Revolution.8

Mit der Leere der Karteikästen, die aus einem verlassenen Bürogebäude in Algier stammen, wird auch eine Abwesenheit von Inhalten oder – übertragen auf den politischen Kontext – Handlungsmacht suggeriert. Die Arbeit evoziert äußerlich einen archivarischen Charakter und verweist durch die Materialität auf die koloniale Praxis des Systematisierens und Katalogisierens, die Unterdrückung eliminierte, Verbrechen reklassifizierte und die Kolonisierer als solche aus der Geschichte des neuen Staates auslöschten.9 Die Skulptur wurde für den ortsspezifischen Kontext der Dak'Art 2014 geschaffen, und obwohl sie auf poetische Weise materielle Bezüge zwischen den postkolonialen Städten Dakar und Algier der Vergangenheit und Gegenwart herstellt, bleibt sie an der Oberfläche der modernistischen Fassade des Hotel de l'Indépendance stecken.

Bauruinen im nördlichen Doha (Qatar), Foto: Autorin (2014)

Kader Attia: Indépendance Tchao (2014), Close up


Driss Ouadahi: Häuser unter sich

Driss Ouadahis Unter Uns (2008) befindet sich in der Internationalen Ausstellung gleich hinter Attias Skulptur.
Die in Blau- und Grautönen gehaltenen modernistischen Wohnblöcke verlieren sich zu einem zentralen Fluchtpunkt hin, der das Bild in der Mitte zu spiegeln scheint. Die Realität des naturalistischen Duktus wird durch die überpräzise geometrische Genauigkeit und eine surreale Landschaft gebrochen, deren Straßen und Häuser menschenleer sind. Wolken, Bäume oder Plakatwände fehlen. Die Farblichkeit und der zeichnerische Charakter erinnern an einen Architekturentwurf, in dem alles glänzender und sauberer ist, als in der Wirklichkeit.

Die Baustreben im Vordergrund, die wie Skelette die hinteren Hausblöcke netzartig überdecken, wirken verloren, unfertig, wie nur imaginiert aber nicht zu Ende gedacht. Der Charakter von Abwesenheit und Leere dringt durch jeden Zwischenraum der Wohnraster hindurch.

Wer also ist mit »Uns« im Titel gemeint, wenn es keine Menschen in dieser futuristischen Stadtlandschaft gibt? Und: Wenn Menschen nicht sichtbar sind, existiert dann überhaupt ein öffentlicher Raum? Die Häuser scheinen in diesem Szenario zu eigenen Subjekten zu werden und sind nun ganz »unter sich«.
In Hannah Arendts Theorie des »Space of Appearance« ist der politische Raum der Gleichheit und Freiheit immer und überall existent, wo Individuen politisch miteinander agieren, durch kontinuierliche Performance und Rede, unabhängig von dem architektonischen Raum.10 Weiter schreibt sie in The Human Condition (1958): »Unlike the spaces which are the work of our hands, it (the space of appearance)(...) disappears not only with the dispersal of men — as in the case of great catastrophes when the body politic of a people is destroyed — but with the disappearance or arrest of the activities themselves.«11 Der »Space of Appearance« verschwinde demnach nicht nur mit der Auflösung der Menschheit – wie in dem Fall von großen Katastrophen – sondern auch mit dem Verschwinden der Aktivitäten selbst. Mit einer Arendtschen Lesart wirkt Ouadahis »Unter Uns« daher wie eine malerisch präzise Visualisierung des beschriebenen Dilemmas einer urbanen Landschaft, die zwar aus physischen Räumen besteht, von seinem »Space of Appearance«, also seinem politischen Raum der menschlichen Präsenz jedoch entleert ist. Ein Ort, in dem kein ziviler Ungehorsam mehr besteht, und eine politisch agierende Gesellschaft inexistent geworden ist. Eine leise Kritik des heutigen Algeriens, das sich nicht den Revolutionsbewegungen und Transformations-prozessen seiner Nachbarländer Tunesien und Ägypten angeschlossen hat?

Obwohl ein lokaler Verweis auf die Arbeit fehlt, lässt sich die in Amina Menias Kurzfilm beschriebene Situation des heutigen Algier auf Ouadahis »Unter Uns« übertragen: »Our president has promised one million new houses, but the constructions sides are delayed (...). Hundreds of towers are growing up all over the place (...). New vertikal cities for 10 000, 20-, 50 000 inhabitants rise from the ground suddenly and surround Algiers«12. Ouadahis Städtelandschaft bleibt jedoch Uneindeutig in der Lokalisierung, und erinnert ebenso an die Bauruinen, die im Arabischen Golf von Dubai und Qatar emporragen, als auch an die Plattenbauten des Berliner Arbeiterviertels Marzahn, oder die Zementdschungel anderer Industrie-Metropolen, die ihre (Gast)Arbeiter in neu errichteten Wohnsiedlungen am Stadtrand unterbringen.

Die Kurator_innen bemerken Ouadahis schwierigen aber gelungenen Spagat zwischen»meisterhafter Technik des 14. Jahrhunderts« und zeitgenössischer Malerei, die Bezüge zur
 algerischen Miniaturmalerei als auch europäischen Kunstgeschichte zieht. Zwar mag die Beurteilung dieser Arbeit als »erste bewusste Geschichte der Malerei«13 ein wenig übertrieben sein – und doch verdeutlicht die Prämierung Ouadahis mit dem Dak'Art Preis 2014 den Drang nach einer Ausweitung der noch immer eurozentristisch geprägten Kunstgeschichte der Malerei, mit einem gleichwertigen Beitrag aus Nordafrika.

Die Herangehensweisen der drei Künstler_innen unterscheiden sich nicht nur durch ihre Medien und Techniken, von Film über Skulptur bis Malerei, sondern auch durch ihre Zeitlichkeiten. Während Menia und Attia explizit und sichtbar mit historischen Materialien arbeiten – das Filmarchiv und die Karteikästen – und die Unabgeschlossenheit der kolonialen Vergangenheit in der Gegenwart aufzeigen, so scheint sich Ouadahis Malerei in einem zeitlosen Vakuum zu befinden, das sich metaphorisch auf jede Gesellschaft, jede Zeit und jeden Ort übertragen lässt. Eine Gemeinsamkeit der drei Beiträge besteht in der Thematisierung von Abwesenheit: Bei Menia ist es die visuelle Abwesenheit der antikolonialen Bewegung in Chevalliers Archivbildern, bei Attia die physische und metaphorische Leere des Hotels der Unabhängigkeit, und bei Ouadahi die Abwesenheit von Menschen und damit das Nichtvorhandensein eines politischen öffentlichen Raumes innerhalb der Städtelandschaft.

Dass einer der Kuratoren der Dak'Art Biennale selbst Architekt ist, und noch dazu aus Algerien kommt, ist keine Überraschung. Es bleibt in Anbetracht der historischen Bedeutung Algier für die Formung von postkolonialer urbaner Geographie in Afrika die Frage: Kann sich eine künstlerische Stimme aus Algerien 50 Jahre nach der Unabhängigkeit überhaupt der Vergangenheit von Unterdrückung und Macht entziehen, die so eingeschrieben ist in die heutige Architektur der Stadt?

Nein, sie kann es nicht, erst recht nicht in Dakar.

 

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Anmerkungen:

  1. Aus dem begleitenden Text der Dak'Art 2014 zu Driss Ouadahi, vgl. (URL) http://www.biennaledakar.org/2014/spip.php?article193.
  2. Während Dakar von 1902-1960 die Hauptstadt der kolonialen Territorien - „Französisch-Westafrika“ - war, so wurde Algerien nach der Besetzung im Jahre 1830 als integraler Bestandteil der französischen Nation erklärt.
  3. Frantz Fanon (1962): Toward the African Revolution. Grove Press, New York, S. 182.
  4. »Algeria remained the most important, the most cherished and the most invested in, and the most problematic of all French territories outre-mer.« In: Zeynep Celik (1997): Urban Forms and Colonial Confrontations – Algier under French rule. University of California Press, S.1.
    Eine erhellende und vielschichtige Auseinandersetzung aus unterschiedlichen Perspektiven bietet der Sammelband »Homogenisation of Representations«, herausgegeben von Modjtaba Sadria (2012).
  5. Auszug aus dem kuratorischen Statement der Dak'Art 2014, vgl. (URL): http://www.biennaledakar.org/2014/spip.php?rubrique18.
  6. Nezar Al Sayyad, In: Modjtaba Sadria (2012), S. 89.
  7. In diesem Jahr der Dekolonisierung erlangten 17 afrikanische Nationen ihre Unabhängigkeit.
  8. Aus dem begleitenden Text der Dak'Art 2014 zu Kader Attia, vgl. (URL): http://www.biennaledakar.org/2014/spip.php?article94.
  9. Vgl. Ann Laura Stoler (2002): Colonial Archives and the Arts of Governance. On the Content in the Form. In: Hamilton, Carolyn / Harris, Verne et. Al (Hg.): Refiguring the Archive. David Philip Publishers, CapeTown, S. 62 ff.
  10. Hannah Arendt (1958): The Human Condition. University Press of Chicago, Chicago, S. 199 ff.
  11. Ebd.
  12. Aus dem Video „A Peculiar Family Album“ (2012) von Amina Menia, Minute 13.
  13. Aus dem begleitenden Text der Dak'Art 2014, vgl. (URL) http://www.biennaledakar.org/2014/spip.php?article193.