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Alexandra Gerstner

Abstract der Dissertation

Die Dissertation untersucht aristokratische Elitekonzeptionen von Intellektuellen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus. Es handelt sich um eine ideen- und organisationsgeschichtliche Studie, die zum einen die Adelsvorstellungen und Neuadelskonzepte von Intellektuellen untersucht und zum anderen anhand intellektueller Assoziationen der Wirksamkeit dieser „gedachten Ordnungen“ nachgeht. Die Quellenbasis der Arbeit besteht aus den politischen Programmschriften und der Korrespondenz von fünf ausgewählten Intellektuellen, die als Schlüsselfiguren bestimmte intellektuelle Milieus und Netzwerke erschließen. Die ausgewählten Intellektuellen waren zudem in zentralen Funktionen an politischen Organisationen und Verbänden beteiligt, so daß einerseits ihr politisches und weltanschauliches Umfeld und andererseits die Bemühungen um eine konkrete Umsetzung ihrer „gedachten Ordnungen“ nachvollzogen werden können. Die fünf untersuchten Intellektuellen sind der Gründer der Paneuropa-Union Richard Graf Coudenhove-Kalergi (1894-1972), der Pazifist und Sozialist Kurt Hiller (1885-1972), der „konservative Revolutionär“ Edgar Julius Jung (1894-1934), der völkische Genealoge Bernhard Koerner (1875-1952) und der nationalliberale Unternehmer Walther Rathenau (1867-1922).

Was all diese so unterschiedlichen Persönlichkeiten einte, war ihre Suche nach einem „neuen Adel“ in einer Zeit, die von Modernisierung, Pluralisierung und Demokratisierung geprägt war. Gegen die aufkommende demokratische Massengesellschaft und vor dem Hintergrund der schwindenden Bindungskraft ständischer Ordnungen strebten sie nach einer Reform sämtlicher Bereiche der Gesellschaft und stellten das Problem der Elitenrekrutierung in den Mittelpunkt. Welche Bedeutung das Denken in aristokratischen Deutungsmustern für das Selbstverständnis der Intellektuellen und die Organisationsstrukturen ihrer Assoziationen hatte, ist die Ausgangsfrage der Arbeit. Da die Erzeugung und Diskussion von Werten und Deutungsmustern das eigentliche Aktionsfeld von Intellektuellen ist, bildet die Analyse intellektueller Diskurse das Fundament der Untersuchung. Hinzu kommt, daß die „Geburt“ des Intellektuellen als Sozialfigur ebenfalls in den Untersuchungszeitraum fällt und somit die Auseinandersetzungen über die Bildung eines „neuen Adels“ unablösbar von der Selbstbestimmung des Intellektuellen sind.

Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, daß die untersuchten Intellektuellen mit der Suche nach einem „neuen Adel“ die Hoffnung verbanden, den Werten Ganzheit und Persönlichkeit in einer „entzauberten Welt“ Geltung zu verschaffen. Der als ‚heroischer Tatmensch’ gedeutete ‚neue Adlige’ war als Führer in eine andere Gesellschaft konzipiert, in der statt funktionaler Differenzierung und dem Leistungsprinzip überindividuelle Merkmale und Persönlich­keitswerte eine harmonische Gemeinschaft stiften sollten. Mit dieser Hoffnung auf „Erlösung“ von den Begleiterscheinungen der Moderne erweisen sich die Protagonisten als Repräsentanten ihrer Zeit, die aus einer umfassenden Krisenerfahrung heraus ein utopisches Weltbild entwarfen. In diesem nahmen sie selbst als „Vorkämpfer“ der neuen Ordnung eine messianische Erlöserrolle ein. Die Deutungsmuster Adel und Aristokratie legten somit die Grundlage ihres Selbstverständnisses als „neuer Adel“ und dienten der Legitimierung ihres gesellschaftlichen Führungsanspruches. Während die aristokratischen Elitekonzeptionen im Widerspruch zum gesellschaftlichen Einfluß der untersuchten Intellektuellen standen, konnten sie in ihren eigenen Organisationen ihre neo-aristokratischen Utopien im Kleinen verwirklichen. Der Adelsdiskurs erweist sich damit als Symptom für die Krisenerfahrung des frühen 20. Jahrhunderts und als diskursives Experimentierfeld für die gesellschaftliche Verortung der modernen Sozialfigur des Intellektuellen. Die Orientierung an den Deutungsmustern Adel und Aristokratie erzeugte und verstärkte anti-demokratische und anti-bürgerliche Tendenzen der Intellektuellen und führte in vielen Fällen zu ihrer gesellschaftlichen Desintegration und Marginalisierung.

Curriculum Vitae

  • 1995-2001 Studium der Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin
  • 2001/2002 Lektorin der Robert Bosch Stiftung an der Uniwersytet Wroclawski (Polen)
  • 2002-2005 Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes
  • 2005 Mercator-Berghaus-Stipendium in Kreisau (Polen)
  • 2005-2006 Forschungsstipendium am Institut für Europäische Geschichte, Mainz
  • 2006-2007 Referentin bei MitOst e.V. im Programm „Kulturmanager aus Mittel- und Osteuropa“ der Robert Bosch Stiftung
  • 2007 Promotion am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin mit der Dissertation „Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen von Intellektuellen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus“
  • 2007 Hedwig Hintze-Frauenförderpreis des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin für die beste Qualifikationsarbeit einer Nachwuchswissenschaftlerin
  • seit September 2007 Leitung des DAAD-Informationszentrums Eriwan (Armenien)

Publikationen

Selbständige

  • Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008.
  • Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, Frankfurt a.M. 2006. (Hrsg. mit Barbara Könczöl und Janina Nentwig)
  • Rassenadel und Sozialaristokratie. Adelsvorstellungen in der völkischen Bewegung (1890-1914). Mit einem Vorwort von Uwe Puschner, Berlin 2003.

Aufsätze und Lexikonartikel

  • (mit Gregor Hufenreuter): „Zukunftslehrer der Deutschen“ oder „gottverdammte Judensau“? Die Freundschaft zwischen Walther Rathenau und Wilhelm Schwaner aus Sicht der völkischen Bewegung, in: Geliebter Feind, gehasster Freund. Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Irene Diekmann und Elke-Vera Kotowski, Potsdam 2008.
  • (mit Gregor Hufenreuter und Uwe Puschner): Völkischer Protestantismus. Die Deutschkirche und der Bund für deutsche Kirche, in: Le milieu intellectuel protestant en Allemagne, sa presse et ses réseaux/Das protestantische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und Netzwerke (1871-1963), (= Convergences, Bd. 47), hrsg. v. Michel Grunewald und Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Bern 2008, S. 409-435.
  • Erlösung durch Erziehung? Der Topos „Neuer Mensch“ in der völkischen Bewegung, in: „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, hrsg. v. Paul Ciupke, Klaus Heuer, Franz-Josef Jelich und Justus H. Ulbricht (= Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd. 23), Essen 2007, S. 67-81.
  • Der Philosoph als Gesetzgeber. Nietzsche-Rezeption im literarischen Aktivismus, in: Europäische Umwertungen. Nietzsches Wirkung in Deutschland, Polen und Frankreich (Studien zur Ethik in Ostmitteleuropa, Bd. 10), hrsg. v. Gangolf Hübinger und Andrzej Przylebski, Frankfurt a.M. 2007, S. 69-84.
  • (mit Gregor Hufenreuter): Bewegung ohne Programm. Das Intellektuellen-Netzwerk um die Zeitschrift „Gegner. Für neue Einheit“, 1931-1933, in: Médiation et conviction. Mélanges offerts à Michel Grunewald, hrsg. v. Pierre Béhar, Françoise Lartillot und Uwe Puschner, Paris 2007, S. 651-666.
  • Der „neue Europäer“. Richard Coudenhove-Kalergis Vision einer paneuropäischen Neo-Aristokratie, in: Der Neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen, hrsg. v. Alexandra Gerstner, Barbara Könczöl und Janina Nentwig, Frankfurt a.M. 2006, S. 55-70.
  • „Der Deutsche in Polen“. Das deutsch-katholische Milieu im polnischen Oberschlesien 1934-1939, in: Le milieu catholique en Allemagne, sa presse et ses réseaux/Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871-1963) (= Convergences, Bd. 40), hrsg. von Michel Grunewald und Uwe Puschner, Bern 2006, S. 439-456.
  • Genealogie und Völkische Bewegung. Der „Sippenkundler“ Bernhard Koerner (1875-1952), in: Herold-Jahrbuch N.F. 10 (2005), S. 85-108.
  • German National White Collar Employees Association (1893-1934), in: Antisemitism. A Historical Encyclopedia of Prejudice and Persecution (2 Bde.), hrsg. von Richard S. Levy, Santa Barbara 2005, Band 1, S. 262f.
  • Die Zeitschrift „Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben“ (1917-1938), in: Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux/Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), (= Convergences, Bd. 27), hrsg. v. Michel Grunewald und Uwe Puschner in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Bern 2003, S. 203-218.
  • Aachen. Wo ein alter Kaiser den Weg ins moderne Europa weist, in: Steinbruch Deutsche Erinnerungsorte. Annäherung an eine deutsche Gedächtnisgeschichte, hrsg. v. Constanze. Carcenac-Lecomte u.a. Mit einem Vorwort von Hagen Schulze u. Etienne François, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 151-166.
  • Rezensionen für H-Soz-u-Kult, Neue politische Literatur, satt.org und Orbis Linguarum

Kontakt

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