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Katrin Riedel

Der Begriff Politische Religion

Seit rund einem Vierteljahrhundert erfreuen sich politisch-religiöse Theoreme wie etwa Politische oder Säkulare Religion, Ersatzreligion oder Religionsersatz einer großen Beliebtheit in (populär-)wissenschaftlichen Studien und Debatten zu modernen Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts wie etwa Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus sowie – verstärkt seit 2001 – in der Fundamentalismus- und Islamismusforschung. In diesem Spektrum politisch-religiöser Semantik führten die 1993 herausgegebene Neuauflage der Schrift „Die politischen Religionen“ (1938) des österreichischen Politologen und Philosophen Eric Voegelin (1901-1985) und die breite Rezeption seiner gleichnamigen Theorie zu einer Popularisierung des von ihm verwendeten Begriffs Politische Religion, dessen Ursprünge bis ins beginnende 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren zogen Zeitzeugen des Bolschewismus in Russland, des faschistischen Italiens und des Nationalsozialismus den Begriff zur Wesensbeschreibung und Interpretation dieser neuen Herrschaftsformen heran, doch nach dem Zweiten Weltkrieg geriet er im Schatten der Totalitarismustheorien fast vollständig in Vergessenheit. Seit seiner Neubelebung in den 1990er Jahren wurde der Begriff als politisch-religiöses Deutungsparadigma von der interdisziplinären Forschungslandschaft in zahlreichen wissenschaftlichen Studien wieder aufgegriffen, die im Gros auf Voegelin als Galionsfigur des Theorems Politische Religion und dessen Publikation als Grundlagen- und Referenzschrift rekurrieren, obwohl er weder Begründer noch einziger zeitgenössischer Vertreter dieses Ansatzes war und sich späterhin von dieser kontroversen Terminologie distanzierte.

Es ist vermutlich dieser seit den 1990er Jahren anhaltenden Voegelin-Fixierung geschuldet, dass es trotz der mittlerweile ausufernde Forschungsliteratur an begriffs- und ideengeschichtlichen Untersuchungen zur Politischen Religion mangelt und sowohl frühneuzeitliche Verwendungen des Begriffs als auch zeitgenössische Vertreter/innen der Theorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft nur stiefmütterlich am Voegelinschen Tellerrand behandelt werden oder ganz aus dem Blickfeld der Forschung gefallen sind. Beiträge zur Frühgeschichte des Begriffs beschränken sich überwiegend auf wenige ausgewählte frühe Schriften, wie z.B. von Tommaso Campanella (1568-1639) und Daniel Clasen (1622-1678). Viele Quellen, die eine frühe Begriffsverwendung belegen und zum Teil sogar vor die bislang bekannten Nennungen zurückreichen, blieben bislang unberücksichtigt.Ähnlich fragmentarisch beschäftigt sich die Forschung mit jenen Zeitgenossen Voegelins, die teilweise bereits vor ihm den Begriff Politische Religion für gegenwartsdiagnostische Aussagen über jene neu auftretenden Herrschaftssysteme in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nutzten. Nur vereinzelt gehen wissenschaftliche Studien über eine lediglich namentliche Erwähnung hinaus und untersuchen die Texte weiterer zeitgenössischer Vertreter/innen der Theorie, z.B. von der österreichischen Historikerin Lucie Varga (1904-1941) oder dem britischen Journalisten Frederick August Voigt (1892-1957). Ein weiteres Problem liegt in der fast ausschließlichen Fokussierung auf zeitgenössische Veröffentlichungen von Gegnern jener Herrschaftssysteme, die den Begriff pejorativ beladen und etwa zur Charakterisierung des Nationalsozialismus heranzogen. Daraus erwächst der Eindruck, dass der Begriff in den 1930er und 1940er Jahren ein von Opponenten vereinnahmter Kampfbegriff gewesen sei. Nur selten weisen Forschungsbeiträge darauf hin, dass der Begriff vereinzelt auch von Anhängern und Sympathisanten der nationalsozialistischen Weltanschauung in positiver Konnotation verwendet wurde.

Das Ziel des Dissertationsprojekts ist eine umfassende Darstellung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Begriffs Politische Religion. Der Fokus richtet sich auf deutsch- und englischsprachige Quellen und der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom 17. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zur Erschließung des Quellenmaterials bedient sich die Arbeit einer Verflechtung methodischer Ansätze aus den Bereichen der Historischen Semantik. Dabei sollen u.a. folgende Untersuchungsfragen in den Vordergrund gestellt werden: In welchen historischen, politisch-religiösen Kontexten tauchen die ersten belegbaren Verwendungen im beginnenden 17. Jahrhundert auf und welchem sozialen wie religiösen Umfeld sind die frühen Autoren zuzuordnen? Welchen Wandel durchlief der Begriff? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen dem frühneuzeitlichen Begriffsverständnis und einer Verwendung als Analyseinstrument zur Deutung moderner Herrschaftsformen im 20. und 21. Jahrhundert? Die Historisierung des Begriffs und seine Einbettung in den diskursgeschichtlichen Kontext des Religionsbegriffs sollen einen umfassenden Überblick zur Geschichte und Theorie des Begriffs Politische Religion auf der Grundlage eines teilweise bisher unerschlossenen Quellenmaterials bieten und die unterschiedlichen Begriffsbedeutungen sowie die mit ihm transportierte Intentionen im Laufe der Jahrhunderte und im Wandel eines heute kaum greifbaren Religionsbegriffs aufzeigen.

Curriculum Vitae

  • seit 2014 Arbeiten auf Werkvertragsbasis für die Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik (Prof. Dr. Bernd Sösemann, Freie Universität Berlin)                          
  • 2011 - 2013 Studentische Hilfskraft am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Prof. Dr. Margrit Pernau, Berlin)
  • 2010 - 2014 Masterstudium der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin, Titel der Masterarbeit: Nationalsozialismus - Politische Religion. Eine religionsbegriffliche Konfliktbeziehung
  • 2009 - 2013 Studentische Hilfskraft an der Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik (Prof. Dr. Bernd Sösemann, Freie Universität Berlin)
  • 2008 - 2010 Bachelorstudium der Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin, Titel der Bachelorarbeit: Nationalsozialistische Volksgemeinschaft und christliche Konfession. Eine quellenkritische Analyse von Volk und Christentum bei Friedrich Wilhelm Röhrig
  • 2006 - 2008 Magisterstudium der Geschichtswissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Publikationen

  • „Politische Religion: Auf den Spuren eines Begriffs“, Dissertation, Freie Universität Berlin, 2023. [Link]
  • „Von Gott und den Göttern. Eine komparative Untersuchung der neuheidnischen Germanischen Glaubens-Gemeinschaft(en)“, in: ZRGG 66.3/4 (2014), S. 270-294.