Springe direkt zu Inhalt

BabMed an der Bar-Ilan-Universität: Das medizinische Wissen im Babylonischen Talmud

Der Babylonische Talmud oder Bavli ist das grundlegende Werk des rabbinischen Judentums. Seine Entstehung datiert ab dem dritten Jahrhundert n. d. Z. an rabbinischen Schulen in Babylonien, wo das Werk im 6. Jh. umfassend redigiert wurde. Medizinische Themen werden häufig behandelt und entsprechende Hinweise finden sich in fast allen der 37 talmudischen Traktate. Allerdings äußerten die Rabbinen ihre Ansichten zu medizinischen Aspekten im Rahmen ihrer religions-gesetzlichen Diskussionen, und daher bilden diese medizinischen Passagen nicht den Hauptgegenstand der jeweiligen Abhandlungen: Oft werden sie in Form von kurzen Erzählungen präsentiert und sind Appendizes oder Exkurse zu anderen Fragestellungen. Eine Ausnahme stellt hier ein längeres Textstück im Traktat Gittin dar, welches detaillierte Anweisungen zur Behandlung verschiedenster Symptome des menschlichen Körpers enthält.

Als Heilmittel gegen eine Vielzahl differenzierter Symptome und Krankheiten setzte man natürliche Arzneien (etwa aus Pflanzen) ein, außerdem nutzte man magische Heilmittel, wobei beides auch miteinander kombiniert werden konnte. Ähnlich wie im alten Mesopotamien hielt man in bestimmten Fällen Dämonen oder böse Geister für die Ursache von Krankheiten, daher wurden Beschwörungen oder Amulette als zusätzliche Formen der therapeutischen Behandlung einbezogen. Für die Herstellung und Anwendung der Materiae medicae findet man Anweisungen im gesamten Babylonischen Talmud. Dabei werden nichtjüdische Ärzte und andere Heilkundige zwar gelegentlich erwähnt, doch die Rabbinen teilen in der Regel ihre eigenen Ansichten über die menschliche Anatomie mit, dazu geben sie außerdem Ratschläge zu Fragen von Gesundheit und Heilpraktiken.

Bereits während der Entstehungsphase des Babylonischen Talmuds waren Medizin und Pharmakologie fortschrittliche Wissenschaftsdisziplinen, und insofern muss das umfassende heilkundliche Material aus dem Bavli vor dem Hintergrund früherer Diagnose- und Therapiesysteme betrachtet werden. Insbesondere die griechischen und babylonischen medizinischen Korpora sind hier von großer Bedeutung.

Prof. Shamma Friedman und Dr. Aaron Amit leiten das BabMed-Partnerprojekt an der Bar-Ilan-Universität in Israel. Das dortige Forschungsteam hat sich zum Ziel gesetzt, eine Synopse sämtlicher primärer Textzeugen der zu untersuchenden medizinischen Passagen im Bavli zu erstellen. Zur optimalen Präsentation und Analyse dieser medizinischen Textstellen wird eine eigene Software erarbeitet. Die klare Strukturierung des zusammengeführten Materials trägt maßgeblich dazu bei, sowohl Experten als auch interessierten Laien ein tieferes Verständnis über medizinisches Wissen in der antiken Welt zu eröffnen.

Die Arbeit an der Bar-Ilan-Universität erfolgt in einem mehrstufigen Prozess:
Das Bar-Ilan-Forschungsteam nutzt zunächst Julius Preuss‘ Opus magnum „Biblisch-talmudische Medizin“ (1911) als Index. Allerdings sind zahlreiche medizinische Passagen aus dem Babylonischen Talmud bei Preuss noch nicht aufgeführt, zur Erfassung aller medizinischen Textstellen werden die Forscher daher den Bavli in einem mehrstufigen Prozess Traktat für Traktat durcharbeiten.

Phase I  Für jede medizinische Passage werden alle Textzeugen genauestens erfasst. Es sollen verschiedene Lesarten dargestellt und, falls möglich, eine intendierte Originalversion des Textes identifiziert werden. Oftmals wird es aufgrund zahlreicher, teils interdependenter Textvarianten nicht möglich sein, eine originäre Lesart nachzuweisen, in solchen Fällen werden mehrere Optionen für eine bestmögliche Lesart dargestellt. In dieser Arbeitsphase wird es um die Frage gehen, ob sich die Manuskripte zu Handschriftenfamilien ordnen lassen, die für eine inhaltliche Analyse der in den Einzelquellen enthaltenen medizinischen Information herangezogen werden können.

Phase II  Zum genaueren Verständnis einer Textpassage werden zunächst parallele Textstellen innerhalb des Bavli untersucht. Werden medizinische Aussagen einem rabbinischen Gelehrten namentlich zugeschrieben, ist für jeden Einzelfall zusätzlich zu klären, ob dies plausibel scheint, oder ob eine andere Zuschreibung in Betracht gezogen werden muss.

Phase III  Um das medizinische Wissen in seiner Entwicklung nachverfolgen zu können, werden in einem weiteren Arbeitsschritt Paralleltexte aus der gesamten rabbinischen Literatur zu den einzelnen medizinischen Passagen aufgefunden und analysiert. Stammt die betreffende medizinische Passage aus Palästina im Einzugsbereich des Mittelmeers, oder aus Babylonien? Wurde das aus anderen Kontexten übernommene medizinische Material im Bavli modifiziert? Ist der betreffende Passus Teil des tannaitschen (70 bis ca. 240 n.d.Z.) oder des amoräischen (bis ca. 600 n.d.Z.) Korpus, oder stammt er aus einer noch späteren Überlieferungsschicht? Inwieweit werden diese Aspekte relevant für unser Verständnis der medizinischen Information?

Phase IV  Zu jedem medizinischen Text und den darin verwendeten medizinischen Begriffen erarbeitet das Team eine detaillierte Bibliografie, in der zusätzlich auch Literaturverweise auf Buchveröffentlichungen oder Zeitschriftenbeiträge aus der heutigen Talmudforschung zur betreffenden Textpassage mit erfasst werden. Ziel dieses mehrstufigen Prozesses ist eine Synopse aller medizinischen Quellen im Bavli, die darüber hinaus die kritische Edition und Klassifizierung aller Texte leistet.

Phase V  In den Babylonischen Talmud sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit medizinische Überlieferungen aus sowohl dem griechischen wie auch dem babylonischen Kulturkreis eingegangen. Anhand der Forschungsergebnisse von BabMed Israel wird das Berliner Team untersuchen, ob und in welchem Umfang die in aramäischer Sprache verfassten medizinischen Abschnitte des Talmuds auf Vorgänger aus derselben Region – die Keilschrifttexte Mesopotamiens – zurückzuführen sind.