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Anomische Strukturen sozialen Wandels in der VR China

„Anomische Strukturen sozialen Wandels in der VR China. Migranten und Migrantensiedlungen in chinesischen Großstädten“, Laufzeit: 1998-2001, Gefördert mit einer Sachmittelbeihilfe der DFG

 

 

Publikationen des Projekts

Ziel des Projektes war es, am Beispiel chinesischer Binnenmigration, d.h. der Situation städtischer Migranten und ihrer Siedlungen Aussagen über Charakter, Richtung und Steuerbarkeit des rapiden sozialen Wandels in der chinesischen Gesellschaft an der Schwelle des 21. Jahrhunderts vorzunehmen. Hierzu sollte unter theoretischen, empirischen und entwicklungspolitischen Gesichtspunkten der Begriff der Anomie fruchtbar gemacht werden.

Im Sommer 1999 wurden in Peking, Shanghai und Kanton 60 Tiefeninterviews mit  Migrant(inn)en bzw. Funktionsträgern in Migrantensiedlungen durchgeführt. Sie zeigten, dass sozialen Netzwerken von Verwandten, Freunden und Landsleuten eine wichtige Rolle für die soziale Organisation der Land-Stadt-Migration in China zukommt, und zwar auch dann, wenn dies nicht Formen gemeinsamer Ansiedlung zur Folge hat. Für die anschliessende strukturierte Befragung von 600 Migrant(inn)en in den drei Städten  wurde daher von der ursprünglichen Hypothese einer systematischen Unterscheidung in homogene und heterogene Migrantensiedlungen, die mit einem höheren oder geringeren Grad an Anomie in Verbindung gebracht werden sollten, abgewichen. Ein weiterer Grund dieser Abweichung bestand darin, dass im Ergebnis von raschen Veränderungen in den Migrantensiedlungen und vor dem Hintergrund strikter Kontrollmassnahmen durch die Stadtverwaltungen im Sommer 1999 - selbst für Peking - nicht mehr die Rede von rein homogenen Migrantensiedlungen sein konnte. Zwar wurde die Unterscheidung zwischen homogenen und heterogenen Migrantensiedlungen  weiterhin als relevant angesehen, um Idealtypen von städtischen Migrantensiedlungen zu charakterisieren, aber für die Auswahl der Stichprobe fand diese Unterscheidung keine systematische Berücksichtigung mehr.

Die um die Jahreswende 1999/2000 durchgeführte Befragung führte zu dem Ergebnis, dass soziale Netzwerke mit starken verwandtschaftlichen Bindungen den Migrationsprozess begleiten, vermitteln und sozial abfedern. Kettenmigration ist das dominierende Muster chinesischer Binnenmigration. Diese sozialen Netzwerke, die man vielleicht als mobile Gemeinden bezeichnen könnte, bieten ein Mindestmass an sozialer Kohäsion, erfüllen Sicherungs- und Schutzfunktionen, fungieren als Informationsbörsen, Arbeits- und Wohnraumvermittlungen. Im Hinblick auf den Charakter des sozialen Wandels in China können diese Ergebnisse so interpretiert werden, dass die starken, verwandtschaftlich geprägten Beziehungsnetze unter den Migrant(inn)en. anomiemindernd wirken und mit einem höheren Grad an Zufriedenheit einhergehen. Stabilisierend wirkt sich vermutlich auch die Einkommenssituation der Migrant(inn)en aus, die im allgemeinen als deutlich besser beschrieben wurden im Vergleich zur Lage vor der Abwanderung. Zugleich ist allerdings zu bedenken, dass im Sinne Marc Granovetters Aussage (the weak ties are the strong ties) starke Beziehungsnetze eher als Ausdruck unzureichender Integration der Migrant(inn)en in die städtische Gesellschaft zu interpretieren sind. Hierfür sprechen auch die kritischen Selbsteinschätzungen der Wanderbevölkerung im Selbstvergleich mit den Städtern, die negative Beurteilung ihrer eigenen Wohnverhältnisse, ihrer sozialen Position und ihrer durch mangelnde Rechtssicherheit gekennzeichneten Situation in den Städten im Vergleich zu den Verhältnissen vor ihrer Abwanderung.

Die herausragende Bedeutung von sozialen Netzwerken für die soziale Organisation der chinesischen Land-Stadt-Migrant(inn)en, die wir auf der Grundlage unserer Befragung feststellen konnten, bestätigt Positionen, die den Aspekt der Pfadabhängigkeit postkommunistischer Transformationsprozesse betonen (vgl. Antrag S.5). Sie bestätigt  weiterhin die These, dass in radikalen gesellschaftlichen Umbruchphasen sozialer Wandel und traditionales Handeln nicht unbedingt im Gegensatz zueinander stehen müssen, sondern dass gerade umgekehrt die Aktivierung von lokalen Wirtschaftstraditionen (gegebenenfalls auch an anderen Orten), von überkommenen sozialen Netzwerken und traditionalen Handlungsstrategien als spezifischen Ressourcen der Migrant(inn)en selbst zur Generierung von Transformationsprozessen dienen können. Bezogen auf das Konzept der Anomie wäre zu prüfen, inwieweit sich aus diesem spannungsreichen Zusammenhang anomische Strukturen sozialen Wandels ergeben, in denen sich ordnungsstiftende Elemente mit persönlichen Verpflichtungs- und Abhängigkeitsverhältnissen  auf eine Weise verbinden, die zumindest zivilgesellschaftlichen Ordnungsmustern zuwiderläuft. Dies wäre in theoretischer Hinsicht ein Strang, der vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen und mit Blick auf Theorien der Modernisierung und des sozialen Wandels lohnend erscheint, in Auseinandersetzung mit bisherigen Anomie-Konzepten weiterentwickelt zu werden.

Projektleitung: Prof. Dr. Bettina Gransow, bgransow [at] zedat.fu-berlin.de

Publikationen

Die wichtigste im Zusammenhang des Projektes entstandene Veröffentlichung ist der Sammelband 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001. Dabei handelt es sich um Beitraege eines Workshops zu Migranten und Migrantensiedlungen in chinesischen Grosstaedten, der vom 10.-13. September 2000 in Kanton als Bestandteil des Projektes durchgeführt wurde. Die Mehrzahl der hier vorgelegten Beiträge präsentiert erste Ergebnisse der eigenen 60 Interviews und Befragung von 600 Migrant(inn)en in Peking, Shanghai und Kanton. Die Beiträge von Cao Ziwei, Chen Yiping, Li Hanlin, Ling Liu-Weikl, Liu Mengqin, Qu Jingdong, Claudia Wuellner, Zhang Yingxiang und Zheng Zizhen sind entweder auf der Basis von Interviewmaterialien und/oder der Migrantenbefragung unseres Projektes entstanden.

Liste der Publikationen im einzelnen

彼得•阿特斯兰德: 全球范围内无法控制的大城市增长:趋势-概念-比较

(Peter Atteslander: Worldwide Uncontrolled Growth of Mega Cities: Trends - Concepts – Comparisons) in:  柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001:. 327-343.

曹子玮:职业获得与关系结构 – 关于农民工社会网的几个问题

(Cao Ziwei:Job Attainment and the Structure of Relationships – Some Questions Concerning Social Networking of Peasant Workers) in: 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001, 71-91.

陈义平:关于外来人口的安置问题

(Chen Yiping: Finding a Place – Settlement Strategies of Migrants in Guangzhou), in: 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001: 251-279.

Bettina Gransow: Villages in Cities –Research Project on Migrant Settlements in China, in  SID (Swiss Institute of Development) News, No.8, December 2000, pp. 2-5.

BettinaGransow:Gender and Migration in China: Realities and Conceptualizations, erscheint in: Kyoko Shinozaki, Mirjana Morokvasic-Muller, Umut Erel (eds), Gender and Migration: Crossing Borders and Shifting Boundaries. Vol.1 (Leske + Budrich)

Bettina Gransow: Arbeitsmädchen. Sichtweisen und Selbstdarstellungen chinesischer Wanderarbeiterinnen. Beitrag zu einer Gedenkschrift für Helmut Martin, hrsg. von Heiner Roetz, Ines-Susanne Schilling und Christina Neder.

Bettina Gransow:  Counting China `s Floating Population: A Gendered Perspective, Beitrag zu einem DIW-Sonderheft.

柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001.

柯兰君:全球力量与外来妹:珠江三角洲的社会新景观

Bettina Gransow: Global Forces and Working Girls - New Socioscapes in the Pearl River Delta, in 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001 : 283-303.

李汉林/王琦:关系强度作为一种社区组织方式 - 农民工研究的一种视角

(Li Hanlin, Wang Qi:,The Intensity of Relationships as a Kind of Community Organization – A Contribution to the Research on Rural Migrants), in 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001: 15-39.

刘玲:城市里的村民:中国大城市农村外来人口的状况和自我感受

(Ling Liu-Weikl: Villagers in the City – Presentation and Self-Perception of Rural Migrants in Chinese Metropolises), in  柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001: 95-129.

刘梦琴:石牌流动人口聚居区研究 – 兼与北京“浙江村”比较

(Liu Mengqin: Shipai Village – A Migrant Community in Guangzhou in Comparison with Zhejiang Village in Beijing), in: 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001: 219-233.

彭希哲:推动人口合理流动,促进社会经济发展

(Peng Xizhe: Promote the Legitimate Mobility of the Population, Strengthen the Socio-Economic Development), in 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou,Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001: 344-356.

渠敬东:生活世界中的关系强度 – 农村外来人口的生活轨迹

(Qu Jingdong, The Intensity of relationships Within the Life-Worlds of Rural Migrants), in 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001: 40-70.

孙常敏:探索中国人口流动的规律及其对上海城市发展的影响和作用

(Sun Changmin:Patterns of China s Population Mobility - their Role and Impact on the Development of Shanghai`, in 柯兰君, 李汉林 (主编), 都市里的村民. 中国大城市的流动人口, 北京: 中央编译出版社 2001 (Ke Lanjun, Li Hanlin [zhubian], Dushi li de cunmin. Zhongguo da chengshi de liudong renkou, Villagers in the City. Rural Migrants in Chinese Metropolises), Beijing: Zhongyang bianyi chubanshe 2001: 130-164.

Heike Schmidbauer, Aufbruch aus den Dörfern. Chinesische Migrantinnen zwischen Modernisierung und Marginalisierung, Reihe Berliner China Studien Nr.39, Münster, Hamburg, London: Lit Verlag 2001

Wuellner, Claudia 1999: Arbeitsmigration in China - Wirtschaftliche und soziale Probleme. In: GVC informiert. Mitteilungsblatt des Giessener Vereins fuer Wirtschaftsstudien zu China e.V. 4 (1999) 1:10-14.

Wuellner, Claudia 1999: Land-Stadt-Migration in der VR China. In: Asienkrise, Demokratie, Nationalismus. Neue Wechselwirkungen zwischen Politik und Ökonomie in Ostasien. Bundesinstitut fuer ostwissenschaftliche und internationale Studien, August (1999):48-55.

Wuellner, Claudia 2000: Struktureller Wandel und Migrationsprozesse in der VR China. Eine Betrachtung der Arbeitsmigration. In: Pacific News, Nr.14, August (2000):4-6.

Wuellner, Claudia 2000: Wanderarbeiter in Shanghai - Ein Leben außerhalb der städtischen Gesellschaft. In: Pacific News, Nr.15, Dezember (2000):9-11.

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