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Band 24: Späte Vergangenheitsaufarbeitung (2011)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig

Titel
Band 24: Späte Vergangenheitsaufarbeitung
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Mitwirkende
Arne Bartzsch, Alexander Pfennig / Florian Schiller, Hoon Jung
Schlagwörter
Vergangenheitsaufarbeitung, Politik


Späte Vergangenheitsaufarbeitung – Politische Brisanz mit Langzeitwirkung

Der „Sonderweg“ des Bundeslandes Brandenburg

 

 

Werner Pfennig

In Zusammenarbeit mit Arne Bartzsch und Alexander Pfennig

 

 

Zu den vielen Charakteristika des Vereinigungsprozesses in Deutschland gehört auch die Erkenntnis:

1.      Es ging viel schneller als erwartet.

2.      Aber die Problemlösung dauert viel länger.

Fast alle Menschen in Deutschland vermuteten, dass der Vereinigungsprozess zwischen der Bundesrepublik und der DDR einen beträchtlichen Zeitraum in Anspruch nehmen würde. Noch im Frühjahr 1990 glaubte man, es werde bis zur formellen staatlichen Einheit wohl etwa zwei Jahre dauern; in der Realität waren es dann nur noch wenige Monate bis zur Vereinigung am 3. Oktober.

 

Der Vereinigungsprozess zeigt, dass die Auswirkungen schlechter Startbedingungen und seit langem bestehender Schwächen nur sehr langsam überwunden werden können. Brandenburg hatte 1989/90 eine Fülle von Problemen, die teilweise durch die Wiedervereinigung gemildert wurden, aber es gibt generelle Strukturprobleme, die auch durch die Wiedervereinigung sowie durch Einwirkungen der Globalisierung an Brisanz zugenommen haben.

Besonders in Brandenburg findet man sich mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Noch zwanzig Jahre nach Erlangung der formellen staatlichen Einheit Deutschlands und der Neugründung von Brandenburg gibt es immer wieder Probleme und heftige politische Auseinandersetzungen um Personen, die früher in unterschiedlicher Weise mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS, Stasi) zu tun hatten. (Zur Problematik der Vergangenheitsaufarbeitung siehe auch die Bände 4 und 15.) Brandenburg ist ein Beispiel für versäumte Aufarbeitung und für zu „verständnisvollem“, bzw. zu sehr konsensorientiertem Umgang mit der Vergangenheit. Dass sich hieraus derart prekäre, politisch-gesellschaftliche Langzeitwirkungen ergeben würden, konnten sich nur Wenige vorstellen.

 

 

1. Die besondere Situation von Brandenburg

 

Brandenburg ist aus verschiedenen Gründen in einer schwierigen Lage:

·         Die historischen Bestimmungsfaktoren sind ungünstig. Brandenburg war der arme Teil von Preußen, es hatte nur eine kurze Zeit der Selbständigkeit und wurde 1952 wie andere Länder der DDR in Bezirke aufgeteilt (Potsdam, Frankfurt/Oder und Cottbus).

·         Es existierte nur in geringem Maße eine tragfähige Identität, die nach 1990 wiederbelebt werden konnte. In der Vergangenheit hatte ein beträchtlicher Bevölkerungsaustausch stattgefunden: Während des Zweiten Weltkrieges verließen viele Menschen Brandenburg, und nach dem Krieg kamen sehr viele Flüchtlinge aus den Gebieten im Osten, die Deutschland verloren hatte. In der Zeit der DDR gab es starke Zuwanderung aus Sachsen nach Brandenburg.

·         Bis auf Potsdam und wenige andere Städte gibt es in Brandenburg kaum Orte mit besonderer, kulturhistorischer Ausstrahlung, ähnlich wie z. B. Dresden und Meißen in Sachsen, oder Weimar und die Wartburg in Thüringen. Im Vergleich zu diesen Bundesländern und deren Geschichte hat Brandenburg eine andere Elite: Wohlhabendes Bürgertum und Kaufleute mit internationalen Kontakten, fehlten in Brandenburg weitgehend. Hier lebten bis 1945 arme Bauern, ein Landadel mit meist kargem Besitztum und viel Militär. Nach der Zwangskollektivierung in der DDR gab es keine dieser Gruppen mehr, außer dem Militär. Aus den Bauern waren Landarbeiter geworden, und viele Angehörige des Mittelstandes waren in den Westen geflohen. In Brandenburg gab es eine hohe Konzentration sowjetischer Truppen (der „Ring um Berlin“) sowie viele Parteikader und Staatsfunktionäre der DDR.

·         Brandenburg ist das flächenmäßig größte der neuen Bundesländer, aber wirtschaftlich schwach. Es litt zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung (1990) an einer maroden Infrastruktur und hatte bis auf wenige Ausnahmen kaum überlebensfähige Industrie. Die naturräumliche Ausstattung ist ungünstig, das Gebiet ist weitgehend agrarisch bestimmt, es gibt aber kaum ertragreiche Böden. Brandenburg ist dünn besiedelt, im Nordwesten akut von Entvölkerung bedroht. Das bevölkerungsreiche Gebiet in seiner Mitte, nämlich Berlin, ist nicht Teil des Landes. Brandenburg ist ein „Land mit zwei Geschwindigkeiten“. Der Norden beispielsweise, der an Mecklenburg-Vorpommern grenzt, bleibt zurück, und andere Gebiete, hauptsächlich der „Speckgürtel“ um Berlin und Potsdam, entwickeln sich dynamisch.

(Die Situation Brandenburgs schildert Dokument Nr. 27)

 

 

1.1 Brandenburg: ein Bundesland mit einer Fülle kaum zu lösender Probleme

Brandenburg hat zu wenig Geld sowie zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte, so dass es trotz vielfältiger Bemühungen um Entwicklung nicht den notwendigen Fortschritt gibt.

 

Lehrer und Ärzte

Dieses Dilemma ist besonders gravierend im Bildungsbereich (Schulen schließen) und bei der Gesundheitsversorgung (Ärztemangel). Bis zum Jahre 2019 werden 50 Prozent der Lehrer bei Real-, Volks- und Sonderschulen Brandenburgs in Pension gehen. Um hier einen Ausgleich zu schaffen, braucht das Bundesland 2.800 neue Lehrer und fast 400 Gymnasiallehrkräfte, ein kaum zu lösendes Problem. In den ländlichen Gebieten fehlen Ärzte, Brandenburg hat die niedrigste Ärztedichte Deutschlands (sesshafte Ärzte pro Einwohner). Der Berufsverband, die Kassenärztliche Vereinigung, und die Landeskrankenkassen geben bei Übernahme einer bestehenden Praxis oder bei Neueröffnung Zuschüsse in Höhe von 40.000 bis 50.000 Euro, trotzdem konnte der Ärztemangel nicht behoben werden.

 

Verwaltung und Justizwesen

Probleme des Personalmangels gibt es auch bei der öffentlichen Verwaltung und im Justizwesen. Als Folge der Föderalismusreform ist die Besoldung von Beamten Ländersache; hier liegt Brandenburg auf dem vorletzten Platz, nur Berlin zahlt noch weniger. Im Sommer 2011 machte der Finanzminister von Brandenburg den Vorschlag, Beamten und Richtern bei einem Wechsel in das Land für fünf Jahre einen Ausgleich zu zahlen. Diese Idee ist Teil von Reformvorhaben, die Brandenburg mit einer Summe von 7,5 Millionen Euro durchführen will. Wer an diesem „Personalimport“ teilnimmt würde also für in etwa gleiche Arbeit mehr Geld verdienen, deshalb wurde der Vorschlag gleich nach Veröffentlichung kritisiert. Bemerkenswert ist dabei, dass er vom Finanzminister Helmuth Markov kam, einem Mitglied der Partei „Die Linke“, die sich immer für gleiche Löhne in Ost- und Westdeutschland einsetzt. Gewerkschaftsfunktionäre lehnten die Idee ebenfalls ab, denn ihre Umsetzung wäre „ein Rückschritt in alte Zeiten.“ Der Vorschlag erinnert an die 1990er Jahre, als Beamte („Leihbeamte“) aus dem Westen auch wegen finanzieller Anreize in die neuen Bundesländer kamen, was damals spöttisch als „Buschzulage“ bezeichnet wurde.

 

Notwendig wäre eine Änderung des Beamtenrechts in Brandenburg und damit verbunden eine deutliche Anhebung der Bezüge, sowie die Einführung einer leistungsorientierten Besoldung; was bisher am fehlenden Geld scheiterte. Es ist nicht abzusehen, ob der neue Vorschlag in die Praxis umgesetzt wird, die Idee allein aber macht bereits deutlich, dass Brandenburg in wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen, nämlich Erziehung und Bildung, Gesundheit und Verwaltung große Probleme hat und permanent nach Lösungen sucht. Das Land verfügt nicht über die notwendigen Steuermittel, um diese Schwierigkeiten zu verringern, bzw. sie zu lösen. Im Gegenteil, die Probleme werden größer.

 

Mangel an Fachkräften

Da Geld für Ausbildung und Bezahlung fehlen, gibt es einen Mangel an Fachkräften. Im Jahre 2010 waren 9.000 Stellen unbesetzt (3.000 mehr als 2009). Neben den bereits Ausgebildeten fehlen außerdem Lehrlinge. Im Juli 2011 waren noch 4.852 Ausbildungsplätze frei, d. h. jeder dritte in Brandenburg. Besondern vom Mangel an Fachkräften sind betroffen:

·         unternehmensnahe Dienstleistungen,

·         die Gesundheits- und Sozialbranche

·         und das verarbeitende Gewerbe.

Weil die Arbeitskräfte fehlen, sind Betriebe nicht profitabel genug, und deshalb gibt es nicht genug Geld für Löhne in einer Höhe, die für Fachkräfte ein Anreiz wären. Bei längerer Arbeitszeit liegt das Lohnniveau in Brandenburg noch immer rund 20 Prozent unter den vergleichbaren Einkommen im Westen Deutschlands.

 

Tabelle: Monatlicher Bruttodurchschnittslohn

 

Summe

Jahr

Brandenburg

1.840 / 1.880

2009 / 2010

Westliche Bundesländer

1.950

2010

 

Für kleinere Betriebe ist das Problem am größten. Hier liegt der Anteil an unbesetzten Stellen bei 43 Prozent, und viele dieser Betriebe zahlen nur 46 Prozent der Löhne, die größere Unternehmen zahlen. Eine Folge davon ist, dass in Brandenburg jeder dritte Beschäftigte keine Vollzeitstelle hat. Minijobs und Teilzeitbeschäftigung lagen im Jahre 2010 bei 34 Prozent, der höchste Wert seit Gründung des Bundeslandes. Es ist wenig tröstlich für die Betroffenen, dass dieser Anteil noch unter dem Durchschnittswert aller anderen Bundesländer liegt (37%). Die Art der Arbeitsplätze relativiert auch die Angaben zum Zuwachs der Beschäftigungsverhältnisse. Die Gesamtzahl der Beschäftigten stieg von 2009 auf 2010 um 33.000 und lag 2010 bei 990.000, aber diese Steigerung wurde vor allem durch Minijobs bewirkt.

In Brandenburg gab es im Sommer 2011 rund 19.000 „Aufstocker“, d. h. Beschäftigte deren Lohn so niedrig war, dass sie trotz eines Arbeitsplatzes auf Sozialleistungen (staatliche Unterstützung) angewiesen waren. Eine höhere Beschäftigungszahl bedeutet also nicht mehr Steuereinnahmen für Brandenburg, im Gegenteil, wegen der Art der Arbeitsplätze ist sie mit mehr Ausgaben verbunden. Statistisch gesehen war Brandenburg (2010) bei der Wirtschafts- und Sozialentwicklung das dynamischste Bundesland, aber diese Entwicklung reicht nicht aus, um den Rückstand zu den westlichen Bundesländern zu verringern.

 

 

2. Der „Brandenburger Weg“

 

Vor allem in Hinsicht auf die Problemfülle entschloss sich nach Gründung des Landes Brandenburg der Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) zu einem besonderen „Brandenburger Weg“, der weitgehende Zustimmung in den Parteien und in der Bevölkerung hatte. Hauptkomponenten dieses Weges sind:

·         Versöhnung unter Einbezug möglichst aller politischen Kräfte.

·         Wo auch immer möglich Übereinstimmung erzielen und Konsens schaffen, auch unter Ignorierung von Problemen, bzw. Vertagung von deren Lösung. (Brandenburg war das letzte Land, das das Amt eines „Stasi-Beauftragten“ schuf; erst in den Jahren 2009/10 wurden die dazu notwendigen Maßnahmen ergriffen. (Dokumente Nr. 1-6)

·         Weitgehende Integration von Vertretern der früheren Elite.

·         Möglichst streitfreie Entscheidungen.

·         Vorsichtige Systemumstellung.

·         Umfangreiche staatliche Fürsorge, die oft mit dem Begriff „sozial­paternalistisch“ charakterisiert wird.

·         Bei der Rückgabe von Bodenreformflächen wird eher das Interesse des Staates bzw. des Landes Brandenburg berücksichtigt als das Prinzip des Vorrangs von Privateigentum.

·         Schaffung eines Bewusstseins vom „Brandenburger Weg“, bei dem möglichst alle Bürger das Gefühl haben, auf diesem mitgenommen zu werden, und dass dieser Weg eine erstrebenswerte wie erfolgreiche Alternative sei. (Dies bewirkte, dass bei der Untersuchung einer Verstrickung des Ministerpräsidenten Stolpe mit der Stasi ein Gefühl bei vielen Brandenburgern entstand, sie selbst würden mit ihm zusammen beschuldigt. Nach der Untersuchung erreichte Stolpe in einer Wahl die absolute Mehrheit für die SPD im Brandenburger Parlament. (Dokumente Nr. 13-17)

 

Gründe für das Scheitern der DDR und der Anteil der SED und des MfS an der Unterdrückung in der DDR wurden in Brandenburg weniger diskutiert als in den anderen neuen Bundesländern. Beide Ministerpräsidenten, die Brandenburgs seit seiner Gründung hatte, stammen aus diesem Land (Sachsen und Thüringen hatte über viele Jahre hinweg Ministerpräsidenten aus Westdeutschland). Die SPD ist durchgängig Regierungspartei, was bei einigen das Gefühl schuf bzw. bekräftigte, sie sei im guten Sinne „Staatspartei“, und dies trotz des Scheiterns fast aller Großprojekte und anderer wirtschaftlicher Misserfolge,.

 

In anderen ostdeutschen Bundesländern war es der Partei „Die Linke“ gelungen, sich als Sprecherin der Zurückgesetzten zu profilieren, derjenigen, die sich als Verlierer der Wiedervereinigung sehen. Zu dieser Gruppe gehören sowohl ehemalige Funktionsträger der DDR als auch viele, die zwar die damalige DDR ablehnten, aber die sich von einer Wiedervereinigung eine massive und anhaltende materielle Verbesserung versprochen hatten, und nun enttäuscht wurden. In Brandenburg fühlten sich die letztgenannten eher von der SPD vertreten, wo man sehr bestrebt ist – trotz Wahlerfolgen der Linken bislang recht erfolgreich – dieses Image beizubehalten.

Deshalb tut man sich hier schwer, eine umfassende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anzugehen; allerdings hängt dies auch mit der brandenburgischen PDS bzw. der Linken zusammen. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass in Berlin, wo die Mauer stand, seit fast zehn Jahren eine Koalitionsregierung zwischen SED und PDS/Linke regiert, ohne dass es zwischen Opferverbänden und den beiden Parteien eine solche Verbitterung gibt wie in Brandenburg. Das liegt an dem offeneren Umgang der Linken in Berlin mit der Vergangenheit und an der Intensität der Gesprächskontakte der SPD mit Opferverbänden. Solche Gesprächsbemühungen stehen in Brandenburg noch immer am Anfang.

 

 

3. Umgang mit der Vergangenheit - Debatten um Mitarbeit/Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit, MfS („Stasi-Überprüfungen“)

 

Die Problematik des Umgangs mit der Vergangenheit hat viel mit der gesamtdeutschen Vorgeschichte zu tun. Im Rahmen der Entspannungspolitik, der Ostpolitik unter Willy Brandt, wurden Anstrengungen unternommen, menschliche Erleichterungen im geteilten Deutschland zu erreichen. Die Teilung war eine Tatsache und ihr Ende war nicht abzusehen. Die DDR schien ein stabiler Staat zu sein, der noch lange bestehen würde, deshalb sollten die schlimmsten Auswirkungen der tödlichen Grenze zumindest reduziert werden, wozu eine Zusammenarbeit mit den Machthabern in der DDR unerlässlich war. Der fortbestehende und praktizierte Schießbefehl an der Grenze und seine Opfer wurden noch immer kritisiert, aber Politiker im Westen wollten nicht als „Kalte Krieger“ erscheinen, sondern als Verständigungspolitiker, denen die Bewahrung des Friedens in Europa oberstes Gebot war.

 

In der Bundesrepublik gab es seit dem November 1961 in dem Ort Salzgitter eine „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen zur Registrierung und Aufklärung von Gewaltakten an der Zonengrenze“, die Tötungen an der Grenze, politische Verurteilungen und Willkürhandlungen an politischen Häftlingen in der DDR registrierte. Die DDR hat stets die Schließung dieser Stelle verlangt und in den 1980er Jahren war sie Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik, als von der SPD regierte Bundesländer ihre finanzielle Unterstützung einstellten. Unter völlig veränderten politischen Bedingungen besuchte im März 1990 eine Delegation des Ministerrats der DDR diese Behörde, um sich über deren Arbeit zu informieren. Bis zu ihrer Schließung im Jahre 1992 waren in der Erfassungsstelle rund 42.000 Gewalttaten registriert worden. (Dokumente Nr. 64-67)

 

Bekannte Politiker der Bundesrepublik sprachen sich noch im Jahre 1989 dafür aus, das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz zu streichen, und andere erklärten die deutsche Frage als „nicht mehr offen“, d. h. sie gingen vom Fortbestand der Teilung und zwei deutschen Staaten aus. Die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten hatten sich „normalisiert“, die vorrangigen Ziele waren Friedenssicherung und der Aufbau Europas. Da störte die Überbetonung nationaler Fragen, auch wenn die Existenz von Berlin (West) mitten auf dem Territorium der DDR weiterhin ein Problem blieb. Deutschland lag und liegt in der Mitte Europas, aber der Blick der Bundesrepublik war primär nach Westen gerichtet, weniger nach Osten. Man hatte sich quasi mit dem Faktum der geschlossenen Grenze und der Teilung abgefunden. In der DDR wiederum hatten weder Regierung noch Opposition umfassend über Alternativen zur Koexistenz zweier deutscher Staaten nachgedacht; bei den Regierenden fehlte das Wollen und bei der Opposition – aus unterschiedlichsten Gründen – das Können. Der Fall der Mauer traf hüben wie drüben die Meisten unerwartet, das Tempo der Veränderung war enorm. Doch vor allem mit der Währungsunion im Juli 1990 war schließlich die Richtung zur Wiedervereinigung vorgegeben, andere Alternativen gab es nun nicht mehr. Beide Seiten, Ost und West, standen unter dem Druck und Tempo der Ereignisse, auf die sie primär nur reagieren konnten.

 

Die DDR wollte ihrem sozialistischen Anspruch nach eine Gesellschaft von Gleichen sein. Eine Forderung nach der Wiedervereinigung war die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Ost und West. Die materielle Gleichstellung ist noch nicht völlig erreicht, und zusätzlich wird über politisch-juristische Ungleichbehandlung geklagt. Es hat den Anschein, bzw. er ist relativ leicht zu erwecken, dass vorrangig Ostdeutsche bezüglich Stasi-Belastung untersucht werden, während Westdeutsche nur selten solche Nachforschungen über sich ergehen lassen müssen. So sind zum Beispiel die Stasi-Akten über Helmut Kohl nicht veröffentlich worden, denn er beruft sich darauf, nicht informeller Mitarbeiter, sondern direktes Opfer, Angriffsziel der Stasi gewesen zu sein. Juristisch hat sich der ehemalige Bundeskanzler durchsetzen können, atmosphärisch wird das von Vielen in Ostdeutschland als Ungleichheit empfunden, bzw. es gelingt linken politischen Kräften, es als solche darzustellen. Die „Mauer steckt noch in vielen Köpfen“, allerdings in Ost und West mit unterschiedlicher Wirkung. Grob verallgemeinert: zur Zeit der Mauer waren Deutsche in Ost und West materiell entfernter von einander, sich aber gedanklich näher; nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung wurde es oft umgekehrt.

 

3.1 Offenlegung von Stasi-Akten und Überprüfungen

Eines der vielen wichtigen Ereignisse der Übergangszeit von 1989/90 ist die Entscheidung der Volkskammer, die Akten des MfS zugänglich zu machen. Bürgerrechtsgruppen setzten sich für die unbeschränkte Öffnung der Stasi-Akten ein, ein Motto war: „Meine Akte gehört mir!“ Andere rieten zu größter Vorsicht und waren für die Vernichtung von Personendossiers, denn sie fürchteten, es könnte zu Mord und Totschlag kommen, sollten die unzähligen Opfer die „aktenkundliche“ Wahrheit erfahren. Im Westen gab es bei führenden Politikern die Angst, durch die Veröffentlichung von Abhörprotokollen des MfS könnten karriereschädliche Informationen bekannt werden. (Dokument Nr. 44)

 

Christian Booss, Historiker und mehrjähriger Pressesprecher der Stasi-Unterlagenbehörde, hat zur damaligen Entscheidung geschrieben, es sei eine Sternstunde des deutschen Parlamentarismus gewesen. Am 24. August 1990 beschlossen die rund 200 Abgeordneten der frei gewählten DDR-Volkskammer nahezu einstimmig das „Gesetzt über Sicherung und Nutzung“ der Stasi-Akten. Booss betont, dass nie zuvor ein Volk selbst in derart kurzer Zeit so radikal die Geheimpolizei einer Diktatur lahmgelegt habe, um ihre Dokumente offenzulegen. Oberster Zweck des Gesetzes war die politische, historische und juristische Aufarbeitung. Damit entstand ein Modell der Diktaturüberwindung, das fortan neben anderen, wie der südafrikanischen Wahrheitskommission oder der Entnazifizierung diskutiert wurde. Booss hebt aber auch hervor, dass die Akteneinsicht kein ausschließlich revolutionäres Produkt der DDR gewesen sei, sondern die Folge von gesamtdeutschen Diskussionen und Kompromissen. Die Debatten um eine Überprüfung von Personen wegen früherer Tätigkeit für das MfS und das Recht auf Akteneinsicht beeinflussen noch immer Politik und Gesellschaft im wiedervereinigten Deutschland. (Dokumente Nr. 38, 42, 43, 49-58)

 

 

3.2 Langzeitwirkung der Problematik

Wegen vieler ungeklärter Fälle wird aktuell – mehr als zwanzig Jahre nach der deutschen Vereinigung – vor allem in Brandenburg darüber gestritten, ob eine Stasi-Überprüfung des öffentlichen Dienstes (Verwaltung, Justiz, Polizei) notwendig und möglich sei. Die Hoffnung, mit dem „Brandenburger Weg“ der Versöhnung die Vergangenheit ruhen lassen zu können, hatte sich nicht erfüllt. Die damals versäumte oder nur unzureichend durchgeführte Aufarbeitung wurde nun Anlass zu verbittert geführten politischen Auseinandersetzungen.

 

Dieser Streit ist noch nicht beendet, er wird u. a. von folgenden Argumenten dominiert:

·         Die Debatten sollten wegen des inneren Friedens in Brandenburg beendet werden.

·         In dem Versuch, erneut Überprüfungen durchzuführen und Fristen zu verlängern sehen zahlreiche Juristen, auch in Westdeutschland „ein Plädoyer für einen Überprüfungs- und Überwachungsstaat.“ (Zu Fristenverlängerung und Über­prüfungserweiterung siehe Dokumente Nr. 7-11, 49-58)

·         Ohne eine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit kann es keinen inneren Frieden in Brandenburg geben. Nach Meinung der Landesbeauftragten Ulrike Poppe sind Überprüfungen nicht Ausdruck von Misstrauen, sondern sie würden das Vertrauen in demokratische Gremien stärken. Der Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, äußerte dazu: „Überprüfung schafft Klarheit, das hat nichts mit Generalverdacht zu tun“. (Zum aktuellen Bericht, „Zehnter Tätigkeitsbericht“, des Bundesbeauftragten siehe Dokument Nr. 48)

·         Die Täter sollten von sich aus ihre damaligen Aktivitäten öffentlich machen.

·         Es muss mehr für die Opfer getan werden. (Siehe Dokument Nr. 47)

·         Im Rahmen der damaligen Möglichkeiten waren Personen in der Verwaltung auf eine Zusammenarbeit mit dem MfS überprüft worden, in vielen Fällen sei eine Entlassung aber am Beamtenrecht gescheitert. (Zur arbeitsrechtlichen Problematik siehe Dokument Nr. 58)

·         Im Bereich der Justiz (Richter, Staatsanwälte) sei jeder Fall überprüft worden, es habe Versetzungen, Rückstufungen und Entlassungen gegeben, wo dies möglich war.

·         Ein allgemeiner Verdacht gegen ganze Berufsgruppen, zum Beispiel Richter, sei ungerecht, und ein neues, umfassendes Überprüfungsverfahren bei Führungs­positionen und bei 843 Richtern sei nicht durchführbar.

·         Jedes Ministerium hatte nach 1990 eigene Regeln für die Überprüfung entwickeln können. Die Überprüfungen waren uneinheitlich und ihre Praxis „brandenburgische Anarchie.“ Es sei vom Zufall abhängig gewesen, ob jemand seinen Arbeitsplatz behielt. In der Regierung gab es kaum Prüfungen, Lehrer wurden hingegen genauestens überprüft, während Polizisten ihre Stelle meist behielten.

·         Der ehemalige Ministerpräsident Manfred Stolpe begründete die großzügige Übernahme früherer MfS-Mitarbeiter in den Polizeidienst nach 1990 mit dem Hinweis darauf, Berater aus dem Westen hätten dies wegen der wachsenden Kriminalität empfohlen. (Bei der Polizei Brandenburgs wurden nur 20 Prozent der früheren MfS-Mitarbeiter entlassen, im ostdeutschen Durchschnitt waren es 46 Prozent).

·         Die Überprüfungen müssten von unabhängigen Personen durchgeführt werden, die Selbstüberprüfung des Landtages im Jahre 1990 sei völlig unzureichend gewesen. (zur Debatte im brandenburgischen Landtag siehe Dokument Nr. 12) Am Anfang war sie eine schlichte Empfehlung und die aus zwei Kirchenvertretern bestehende Kommission hielt sich nicht an die Vorgaben. (Dokumente Nr. 30, 36) Zwischen 1992 und 2009 erfolgten dann keine Überprüfungen mehr. Da immer wieder neues Material des MfS entdeckt wurde, gab es in allen anderen Bundesländern eine fortgesetzte Überprüfung von Parlamentariern. (Zur Überprüfung auf der kommunalen Ebene siehe Dokumente Nr. 59-63)

 

 

3.3 Enquete-Kommission des Landtags von Brandenburg

Nach Bildung einer Regierungskoalition aus SPD und Die Linke im Herbst 2009 verschärften sich die Diskussionen um die Stasi-Vergangenheit erneut, weil bei einigen Mitgliedern der neuen Führung (in Parlament und Regierung) eine frühere Verstrickung mit dem MfS bekannt wurde. Die Opposition im Landtag erzwang die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs“, die sich aus Politikern und Wissenschaftlern zusammensetzt. Ihre Berichte und Gutachten bewirkten in der Folge heftige Auseinandersetzungen. (Dokumente Nr. 21-26; 28-41)

Im Zusammenhang mit der Diskussion über Gutachten der Enquete-Kommission kündigte Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck (SPD) im Juli 2011 Verbesserungen an, lehnte aber eine umfassende Überprüfung ab. Er griff damit Vorschläge auf, die die am 1. März 2010 neu ins Amt gekommene, erste Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur, Ulrike Poppe, gemacht hatte:

·         Bessere Beratung von SED-Opfern

·         Angemessene Förderung von Gedenkstätten (z. B. ehemalige Büros und Gefängnisse des MfS),

·         Landesentschädigung für vom SED-Regime verfolgte Schülerinnen und Schüler.

 

Es wird oft in der politischen Auseinandersetzung um die Vergangenheitsaufarbeitung versucht, mit Zahlen unterschiedliche Dinge zu beweisen, entweder die Gründlichkeit oder die Nachlässigkeit der Überprüfungen.

 

Tabelle: Anteil der bis 1997 Entlassenen an der Gesamtzahl der „Stasi-belasteten“ Landesbeschäftigten

 

Bundesland

Prozentsatz

Zahl der Belasteten

Brandenburg

32 %

4.342

Sachsen-Anhalt

34 %

5.446

Berlin

50 %

3.806

Sachsen

50 %

 

 

In Brandenburg hatten von 850 Richtern nur 13 vor 1989 mit dem MfS zu tun, sie waren trotzdem eingestellt worden. In Brandenburg seien 43 Prozent der früheren DDR-Richter übernommen worden, in Sachsen 48 Prozent, so der Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck im Juli 2011. Insgesamt stellte er fest, Brandenburg sei angemessen mit der Vergangenheit umgegangen. Um die Vorwürfe einer zu lückenhaften Überprüfung zu entkräften nannte im Juli 2011 der Innenminister Brandenburgs (SPD) Zahlen:

·         Im höheren Dienst des Landes sind noch mindestens 39 ehemalige Mitarbeiter des MfS beschäftigt.

·         Im höheren Dienst im Polizeipräsidium sind es 16 Personen. Hier ist anzumerken, dass im Gutachten von Gisela Rüdiger und Hanns-Christian Catenhusen für die Enquete-Kommission steht, dass von den 1.200 ehemaligen MfS-Mitarbeitern bei der Polizei niemand aus dem Dienst entfernt wurde. (Das Gutachten ist in Dokument Nr. 36 zu finden.)

·         Seit 1990 wurde rund 400 Beschäftigten im Bildungsministerium gekündigt und 200 Arbeitsverträge wurden aufgelöst.

·         Im Innenministerium gab es 500 Entlassungen,

·         im Umweltministerium 61,

·         86 Richter und 37 Staatsanwälte hatten 1990 ihre Bewerbung zur Übernahme in den Landesdienst wegen der Überprüfungen zurückgezogen.

 

3.4 Justizwesen als besonders schwieriger Bereich

Gerade im Bereich der Justiz gibt es ungelöste Personalprobleme in Brandenburg. Hier handelt es sich nicht nur wegen der Bedeutung von Unabhängigkeit und Vertrauen um einen sensiblen Bereich, es gibt auch die Erinnerung an die versäumte Personalreform im Justizwesen nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele ehemalige Richter, die in das NS-Regime verstrickt waren, in Westdeutschland im Amt blieben.

Alle Richter und Staatsanwälte, die 1990 älter als 18 Jahre waren, wurden einer Überprüfung wegen möglicher Zusammenarbeit mit dem MfS unterzogen. Im Frühjahr 2011 gab es Hinweise darauf, dass 82 Bedienstete der brandenburgischen Justiz früher hauptamtlich oder inoffiziell für das MfS tätig waren: 54 an Brandenburgs Gerichten, 11 in Staatsanwaltschaften und 17 in anderen Einrichtungen, dem Justizministerium, in Haftanstalten und der Richterakademie in Wustrau. Der Justizminister Volkmar Schöneburg (Die Linke) erklärte dazu, dass es sich um Mitarbeiter handele, deren Belastung seit Jahren bekannt sei, die nach einem aufwendigen Prüfverfahren als Grenzfälle ein gestuft worden seinen und die keine hohen Positionen bekleideten. (Bei den Kriterien für Überprüfungen, die 1990 durchgeführt wurden, gab es keine Kategorie „Grenzfälle“.)

 

Tabelle: Übernahme von Richtern und Staatsanwälten aus dem DDR-Justizapparat in den Justizdienst der neuen Bundesländer.

 

 

Richter

in Prozent

Staatsanwälte

in Prozent

Brandenburg

129

42 %

112

55 %

andere ostdeutsche Bundesländer

 

38 %

 

32 %

Berlin

 

11 %

 

4 %

 

Im Jahre 1992 hatte das Justizministerium Brandenburgs einen Abschlussbericht zu den Überprüfungen vorgelegt. Ausschlussgrund für eine Tätigkeit im Landesdienst (d. h. die als Rechtsanwalt war hiervon nicht betroffen) war eine „nicht offizielle, über die normalen Dienstpflichten hinausgehende Zusammenarbeit“ mit dem MfS. Die Beweispflicht lag beim Ministerium; fast alle Bewerber leugneten in den Fragebögen eine Zusammenarbeit mit der Stasi, bis ihnen das Gegenteil nachgewiesen werden konnte. Diese Beweise zu erbringen war oft schwierig, denn z. B. im ehemaligen Bezirk Cottbus verschwanden 1989/90 viele Akten der Stasi. Insgesamt, so der Abschlussbericht, seien rund ein Siebentel der Bewerber Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS gewesen. Nachdem ihnen diese Tätigkeit nachgewiesen wurde, zogen fast alle die Bewerbung zurück.

 

Eine erneute Überprüfung aller Richter wird von der Enquete-Kommission, der Landesbeauftragten, von dem Bundesbeauftragten und von Opferverbänden gefordert, dagegen vom Justizminister und dem Präsidenten des Landesverfassungsgerichts abgelehnt. Die Gutachter der Enquete-Kommission empfehlen angesichts der gesetzlich eingeschränkten Regelanfrage nach MfS-Kontakten wenigstens die verbliebenen Möglichkeiten zu nutzen, um Inhaber von Führungspositionen im Öffentlichen Dienst Brandenburgs zu überprüfen. Diese Auseinandersetzung ist noch nicht entschieden. Die Arbeit der Kommission sollte eine sachliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bewirken, aber anstatt politische Debatten in Brandenburg über das DDR-Erbe durch neue Erkenntnisse sachlicher zu gestalten, wurde ihre Arbeit Teil dieses Streits.

 

Überprüfungen wegen einer früheren Zusammenarbeit mit dem MfS wurden in Brandenburg großzügiger bewertet als in allen anderen Bundesländern. Nur 21 Prozent der belasteten Mitarbeiter wurden entlassen, in anderen Bundesländern lag die Quote zwischen 39 und 75 Prozent.

Diese Komponente des „Brandenburger Weges“ scheint alle Parteien zu betreffen. In einem von drei Historikern erstellten Gutachten der Enquete-Kommission des Landtages vom Sommer 2011 mit der Überschrift „Personelle Kontinuität und Elitenwandel in den Parteien“ wird festgestellt, dass zwar in unterschiedlicher Weise alle Parteien in Brandenburg sich an einem „Schweigekartell“ beteiligten und somit eine „Ära vergangenheitspolitischer Friedhofsruhe bis 2009“ geherrscht habe. (siehe Dokumente Nr. 39-41)

 

3.5 Haltung der Parteien im brandenburgischen Landtag

SPD

Die SPD, so die Gutachter, habe wegen der Vorwürfe gegen Ministerpräsident Stolpe wenig Interesse an einer Aufarbeitung der SED-Diktatur. Besonders in den Jahren ab 1994, als die SPD allein regierte, wurde die Aufklärung bewusst nicht vorangetrieben. Die Kritik an Ministerpräsident Stolpe, den das MfS als IM „Sekretär“ geführt hatte, wurde als westdeutsche Kampagne dargestellt und von Vielen als Angriff auf Brandenburg insgesamt empfunden. Stolpe erschien somit als Opfer, der in der DDR nicht anders habe handeln können, aber gerade mit seinem Handeln dem MfS gegenüber das damals Mögliche erreicht und vielen Menschen geholfen hätte.

 

PDS/Linke

Diese Partei hatte 27 Vertreter im Parlament Brandenburgs, die in dem Gutachten als „Nomenklaturkader, Partei- und Staatsfunktionäre oder systemtreue Intellek­tuelle“ bezeichnet werden, was bei der Geschichte der Partei nicht verwundern kann. Im Jahre 1991 fasste sie einen „Offenlegungsbeschluss“, d. h. forderte ihre Mitglieder auf, vor der Kandidatur für öffentliche Ämter ihr etwaiges Zusammenwirken mit dem MfS publik zu machen. Mindestens zwei Landtagsabgeordnete taten das nicht, und als sie im Jahre 2009 enttarnt wurden, mussten sie die Landtagsfraktion verlassen (Frau Adolph verließ das Parlament, Herrn Hoffmann wurde fraktionsloser Abgeordneter). Im Oktober 2009 stimmte erstmals auch die Linke für eine Überprüfung der Landtagsabgeordneten, und sie gab ihre Zustimmung zur Schaffung eines „Landesbeauftragten.“ (Siehe Dokumente Nr. 7-11 bzw. Nr. 1-6)

Die Linke hat mit mindestens elf der 57 seit 1990 im Landtag vertretenen Abgeordneten den höchsten Anteil an Spitzeln für das MfS, allerdings bescheinigen ihr die Verfasser des Gutachtens eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vor 1989. Als exemplarisch positiv gilt hier der Fall vom Thomas Nord, der für das MfS gearbeitet hat und nach der friedlichen Revolution von 1989/90 schnell seine Vergangenheit offenlegte; er tat dies, „als die Stasi-Akten noch nicht sortiert und für journalistische Rechenchen zugänglich waren.“ (Dokumente Nr. 25) Thomas Nord ist Landesvorsitzender der Linkspartei in Brandenburg und direkt gewählter Bundestagsabgeordneter. (Dokument Nr. 26)

 

CDU

Erhebliche Probleme hatte auch die Christlich Demokratische Union (CDU), die in den ersten Jahren ein „völliges Ausbleiben“ einer Diskussion ihrer eigenen Rolle als Blockpartei in der DDR praktizierte. Erst ab 1997 erfolgte ein „klarer Anti-Stasi-Kurs“, und seit 2009 gibt es in der Landtagsfraktion sowie dem Landesvorstand der Partei keine Mitglieder der früheren Blockpartei, was diese Gruppierungen anbelangt also ein erfolgreich abgeschlossener Elitenwechsel.

Wie in anderen Fällen auch, so zeigte sich bei der CDU, dass die Vergangenheit nach einem längeren Zeitraum der Ruhe quasi wiederbelebt wurden, wenn dies für innerparteiliche Auseinandersetzungen nützlich schien. Ulrich Junghanns hatte noch im Jahre 1989 die „Berliner Mauer“ verteidigt, konnte dennoch Landesvorsitzender der CDU und Wirtschaftsminister von Brandenburg werden. Erst Jahre später, 2007, wurde ihm seine damalige Einstellung vorgehalten, als Anschuldigung bei einem innerparteilichen Streit.

 

Bündnis 90/Die Grünen

Während der friedlichen Revolution (1989-90) hatten die Demokratiebewegungen massiv gegen das System der DDR und seine Repräsentanten opponiert. Im Jahre 1991 wurden zwei ehemalige Mitarbeiter des MfS in der Landtagsfraktion entdeckt, die betreffenden Personen mussten zurücktreten. Die Partei verfolgte keine klare Linie bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit, allerdings handelten einige prominente Mitglieder entschlossen. Die Bildungsministerin Marianne Birthler verfügte eine rigorose Überprüfung aller Lehrer und Lehrerinnen und trat zurück, als Manfred Stolpe trotz Anschuldigungen wegen seiner Stasi-Kontakte im Amt blieb. (Frau Birthler war später von 2000 bis 2011 Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Zum Bundesbeauftragten siehe Tätigkeitsbericht, Dokument Nr. 48) Der Landesvorstand von Bündnis 90 hat seine Mitglieder nie auf Stasi-Zusammenarbeit überprüfen lassen, es gab eine Reihe von Personen, die zur Funktionselite der DDR gezählt werden können. Solche Personen sind seit 2009 weder in der Landtagsfraktion noch im Landesvorstand vertreten.

 

3.6 Neubewertungen und Debatten um den ehemaligen Ministerpräsidenten Brandenburgs Manfred Stolpe

Anfang der 1990er Jahre häuften sich Anschuldigungen gegen Prominente (Gysi, de Maizière, Stolpe) der ehemaligen DDR wegen angeblicher Kontakte zum oder Zusammenarbeit mit dem MfS, außerdem wurden einige sehr erfolgreiche Sportler und Sportlerinnen des Dopings überführt. Hauptsächlich in westdeutschen Medien wurde immer mehr belastendes Material präsentiert. Diese Stasi-Diskussionen verschärften sich zu einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und sozialer Probleme im Osten Deutschlands, und große Teile der dortigen Bevölkerung hatten das Gefühl, vom Westen ungerecht behandelt zu werden. In der damaligen Stimmung war den Menschen die Lösung ihrer gravierenden ökonomischen Probleme viel wichtiger als zum Beispiel die angebliche Stasi-Verstrickung des Ministerpräsidenten von Brandenburg.

Fast Alle in der DDR waren stolz auf die sportlichen Leistungen ihrer Spitzensportlerinnen und Sportler, nun wurden viele von ihnen des Dopings überführt, was indirekt den Eindruck erweckte, westdeutsche Athleten hätten nie unerlaubte leistungssteigernde Mitteln eingenommen. Die Anschuldigungen richteten sich gegen konkrete Personen, es entstand aber ein Klima, wo sich Ostdeutsche von Westdeutschen diffamiert und angegriffen fühlten. Diese gesellschaftliche Stimmungslage wirkte wie ein Schutzschild für Manfred Stolpe, der im Jahre 1992 eine persönliche Zustimmungsrate von 85 Prozent in der Bevölkerung Brandenburgs hatte.

 

Der Ministerpräsident Brandenburgs rechtfertigte sein früheres Wirken in der DDR mit der Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, so auch dem MfS, und dass er während und nach der friedlichen Revolution nicht auf Rache aus gewesen sei. Die Arbeit der Enquete-Kommission beurteilte er 2011 negativ, denn sie betreibe Missbrauch und es tobe ein Kampf um die Meinungshoheit, all das würde die DDR-Geschichte auf die Stasi reduzieren, Vorurteile bedienen und neue Bewohner von Brandenburg verunsichern.

 

Als führender Vertreter der evangelischen Kirche in der DDR hatte Stolpe zwangsläufig Kontakt mit dem MfS und dies über einen Zeitraum von über 20 Jahren. Er sagt dazu: „Ich habe getan, was ich für meine Pflicht hielt – in der DDR und auch danach“. Von seiner Registrierung durch das Ministerium als Informeller Mitarbeiter, „IM Sekretär“, will Stolpe erst 1989 erfahren haben, und er betont, er habe nie eine Verpflichtungserklärung unterschrieben und niemandem geschadet. Das MfS hatte ihn für die Zusammenarbeit mit der Verdienstmedaille der DDR ausgezeichnet und ihn auch anderweitig bedacht, doch nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2005 darf Manfred Stolpe nicht als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter bezeichnet werden. (Dokumente Nr. 13-16) Im Jahre 2011 vertraten Gutachter der Enquete-Kommission die Meinung, dass der Ministerpräsident Stolpe Anfang der 1990er Jahre zusammen mit rund 12 anderen Abgeordneten sein Mandat hätte zurückgeben müssen. (Dokument Nr. 17)

 

Etwa zeitgleich, d. h. ab 1992, mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage und dem rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland wurden zahlreiche Fälle von Zusammenarbeit mit dem MfS aufgedeckt. Es wurde fortwährend neues Material entdeckt und selektiv veröffentlicht, worin viele im Osten politische Motive vermuteten. (Dokumente Nr. 21-26) Die überwiegende Zahl dieser Enthüllungen betraf Menschen in Ostdeutschland. Zu der unleugbaren Tatsache der materiellen Benachteiligung kam nun noch das Gefühl der politischen Verfolgung. Die Zusammenarbeit von Manfred Stolpe mit dem MfS wurde als damals notwendig sowie unvermeidbar dargestellt und die Anschuldigungen gegen den populären Ministerpräsidenten als Angriff auf Brandenburg insgesamt gewertet; es gab eine parteienübergreifende Solidarität, die noch heute Wirkung hat. (Dokument Nr. 15) Die Meldungen über eine mögliche Zusammenarbeit mit der Stasi wurden hauptsächlich in Medien Westdeutschlands publiziert, aber auch der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen veröffentlichte Material. In den Jahren 1991-92 war diese angebliche Verstrickung Stolpes ein häufig diskutiertes Thema und der Landtag von Brandenburg setzte einen Untersuchungsausschuss ein, dessen Vorsitz Lothar Bisky hatte. Diese Personalentscheidung wirkt im Rückblick zumindest bemerkenswert, denn Bisky war damals Vorsitzender der PDS, der „Nachfolgepartei“ der SED, und deren „Schwert und Schild“ war das MfS. Der „Stolpe-Untersuchungsausschuss“ tagte von 1992 bis 1994. Er untersuchte 30 Jahre Tätigkeit von Manfred Stolpe, der in diesem Zeitraum über 1.000 Gespräche mit Vertretern der SED, des MfS und anderer Organe des Staatsapparats der DDR geführt hatte, soll sich mit 10.000 Akten bzw. Dokumenten beschäftigt haben und der Ausschuss befragte 50 Zeugen. Er kam um zu dem Ergebnis: Manfred Stolpe sei wegen seiner Kontakte zum MfS nichts vorzuwerfen. (Dokumente  Nr.13, 14)

 

Abgesehen von den Details des Falles und der Interpretation des verfügbaren Materials aus Archiven des MfS ist der „Fall Stolpe“ typisch dafür, wie es gelingen kann, ein prominentes Einzelschicksal als Beschuldigung Vieler darzustellen und einen juristischen Vorgang zur emotionalen Solidarisierung, zur Sympathiefrage werden zu lassen und zum Thema politischer Debatten zu machen.

 

 

 

3.7 Der Fall Axel Hilpert

Ein besonders interessanter Fall von früherer Mitarbeit im MfS, Korruptionsvorwürfen und späterem privatwirtschaftlichem Unternehmertum, das dann juristisch überprüft wurde, ist der von Axel Hilpert. (Dokumente Nr. 19, 20) Hilpert, geboren 1947, brachte es in der DDR bis zum Oberst im MfS, als Informeller Mitarbeiter (IM „Monika“) gehörte er zur Hauptabteilung HA II/, Spionageabwehr. Als Chefhändler für Kunst und Antiquitäten der „KoKo“, Kommerzielle Koordinierung, ein Bereich des DDR-Geheimdienstes, war er für Devisengeschäfte zuständig, außerdem Chefkoordinator für Geschäfte (z. B. Waffen­lieferungen, Kunstfälschungen) mit Kuba, das ihn zum Ehrenoberst der kubanischen Armee ernannte.

Hilpert hatte vielfältige Erfahrungen, verfügte über zahlreiche Kontakte, besaß Informationen, die für Betroffene hätten gefährlich werden können, und er war mit viel Selbstvertrauen sowie Tatendrang ausgestattet, alles gute Voraussetzungen für jemanden aus dem Osten für eine Karriere in der Privatwirtschaft nach der Wiedervereinigung. (Dokument Nr. 18)

 

In landschaftlich schöner Lage, an einem Brandenburger See südwestlich von Berlin (nahe Potsdam), war Axel Hilpert die treibende Kraft für den Bau einer weitläufigen Anlage, dem „Resort Schwielowsee“, dessen Betreiber und Mitinhaber er ist.

Früher befand sich dort ein „Jugendtouristhotel“ der DDR, das nicht nur baufällig, sondern auch höchst unattraktiv und unrentabel war. Axel Hilpert ergriff entschlossen und ideenreich die Initiative zur Veränderung. Die Hotelanlage ist eine Attraktion, sie schuf direkt 120 Arbeitsplätze und es gibt zahlreiche Zulieferer und andere Geschäftspartner in der Region. Die mehr als 110.000 Gästen pro Jahr sind ein wesentlicher Beitrag zur Kaufkraft. Im „Resort Schwielowsee“ fanden prominente Veranstaltungen statt. Die Anlage wurde durch politisches Wohlwollen gefördert, so fand z. B. im Jahre 2007 eine Tagung der Finanzminister der G-8-Staaten dort statt.

 

Im Sommer 2011 wurde Hilpert verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, durch gefälschte, d. h. mit überhöhten Kostenbelegen förderfähige Investitionen in Höhe von 36 Millionen Euro dargestellt zu haben. Wegen dieser angeblichen Kosten erhielt er unrechtmäßig von der Landesinvestitionsbank 9,2 Millionen Euro, außerdem gab es eine Kofinanzierung von der Europäischen Union, vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Ein Verdacht wurde bereits 2009 von einer Prüfbehörde, dem Landesrechnungshof Brandenburgs geäußert, was aber noch keine ernsthafte Untersuchung bewirkte, obwohl klar war, dass die Investitionsbank des Landes und das Wirtschaftsministerium die Finanzierung des Projekts nicht sorgfältig genug geprüft hatten. Hilpert hatte glänzende Kontakte und war in den 1990er Jahren Berater der Landesregierung; Viele waren froh, dass ein solches Projekt in Brandenburg verwirklicht wurde.

 

Der Fall Hilpert ist ein Beispiel dafür, wie ein Mitwirkender eines untergegangenen Regimes durch spezielle Kenntnisse, gute Verbindungen und Wagemut besonders im Immo­bilienbereich eine neue, glänzende Karriere machen kann. Das Beispiel zeigt aber auch, welche verschlungenen Wege der Zusammenarbeit und Protektion begangen werden, um ein solches Projekt zu realisieren, das wirtschaftlich ein Erfolg für das Land Brandburg ist, dessen Entstehungsgeschichte aber durchaus problematische Züge haben kann.

Der Fall ist noch nicht abgeschlossen, offiziell wurde noch keine Anklage erhoben, Stand August 2011, aber Axel Hilpert, der frühere „IM Monika,“ ist weiterhin in Haft, Mitarbeiter der Deutschen Kreditbank (DKB) und eine Anzahl von Bauunternehmern stehen unter Verdacht.

 

3.8 Einfluss Brandenburgs auf eine anhaltendende Aufarbeitung in der Bundesrepublik

Die Situation in Brandenburg hatte Signaleffekt für die gesamte Bundesrepublik. Die Enthüllungen der Stasi-Mitgliedschaft einiger Mitglieder des brandenburgischen Landtags besonders ab 2009 legten offen zutage, dass die Aufarbeitung keinesfalls abgeschlossen war, und dass weiterhin Personen mit Stasi-Vergangenheit in öffentliche Positionen gelangten. Große Empörung wurde hierüber vor allem von Seiten der Geschädigten und Opferverbände laut, sowie von denen, die einen allgemeinen Vertrauensverlust beklagten. Vielfach war dies motiviert durch Parteistrategie, da die meisten Enthüllungsfälle die Partei Die Linke betrafen, und da ebenso die Rolle der SPD in Brandenburg mit ihrem „Brandenburger Weg“ dafür verantwortlich gemacht werden konnte. Die pro-forma Überprüfung des Bundestags­abgeordneten Thomas Nord auf Stasi-Mitarbeit, obwohl dieser sich längst öffentlich dazu bekannt hat, ist hierbei bezeichnend.

 

Im Bundestag waren die Fälle in Brandenburg jedenfalls mit Anlass, dass man auch hier das Problem Aufarbeitung der SED-Diktatur wieder anhaltend und verschärft diskutierte, so zum Beispiel bei den Debatten um die 8. Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Dies fand parallel zur Enquete-Kommission in Brandenburg und der dortigen 11. Änderung des Abgeordnetengesetzes statt. Bei den öffentlichen Diskussionen im Bundestag waren teilweise dieselben Sachverständigen mit eingebunden. Man bezog sich häufig auf die Zustände in Brandenburg, und sah sich bestätigt, dass eine Verlängerung der Überprüfungsfristen und sogar eine erneute Ausweitung der Überprüfungsmöglichkeiten notwendig sei. (Dokumente Nr. 49-58 bzw. 7-11).

 

Die erneute Sensibilisierung für das Thema Vergangenheitsaufarbeitung zeigt sich außerdem in Diskussionen in den anderen Bundesländern sowie auf kommunaler Ebene, wo man besonders bei den öffentlichen Ämtern eine bessere und anhaltende Überprüfungsmöglichkeit anstrebt.

 

 

3.9 Abschließende Bemerkung

Brandenburg ist ein spezieller Fall, aber er wurde hier behandelt, weil er bezeichnend ist für die bleibende politische Brisanz des Themas Aufarbeitung der SED-Diktatur in der gesamten Bundesrepublik. Zum anderen verdeutlicht dieser „Brandenburger Weg“, wie wichtig nach einem Regimewechsel die Mitwirkung von Teilen der Funktionselite ist, genauso wie die Aufarbeitung der Vergangenheit. Hier muss ein Mittelweg gefunden werden, der vielen Kadern die realistische Möglichkeit einer Alternative offeriert, die glaubhafte Verfügbarkeit einer zweiten Chance. Wichtig ist die offene Vermittlung dieser Vorgehensweise, denn sie muss von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden.

 

Brandenburg zeigt aber auch, wie nach einem Regimewechsel Leute mit speziellen Kenntnissen, sensiblen Informationen und guten Kontakten zu Politikern in der Privatwirtschaft Karriere machen können. Viele dieser Fälle haben sich in der Baubranche und im Immobiliensektor ereignet, nicht alle waren juristisch einwandfrei. Das ist bei aller Unterschiedlichkeit ein Aspekt, der für Korea relevant sein könnte.

 

 

4. Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern Brandenburg und Berlin

 

In Brandenburg verlief die Vergangenheitsaufarbeitung nicht so wie in anderen Bundesländern. Der „Brandenburger Weg“ hat einige Probleme gelöst, andere aber nur hinausgeschoben. In Berlin wurde rigoroser agiert, aber aus geografischen, historischen und ökonomischen Gründen ist eine enge Kooperation zwischen Brandenburg und Berlin notwendig.

 

Das dünn besiedelte Brandenburg ist das einzige ostdeutsche Bundesland, dass an kein westdeutsches grenzt, abgesehen von Berlin (West). Beide Gebiete profitieren voneinander, aber es herrscht auch ein Spannungsverhältnis. Aus diesen Gründen war von Politik und Wirtschaft nach der Wiedervereinigung überlegt worden, auch die Länder Berlin und Brandenburg zu vereinen. Der ausgehandelte Vertrag fand im Mai 1996 aber nicht die erforderliche Zustimmung:

·         In Berlin stimmten 53,4% mit ja,

·         in Brandenburg hingegen 62,7% mit nein.

Viele in Brandenburg fürchteten damals, finanziell benachteiligt und politisch dominiert zu werden und in Berlin (West) gab es den Wunsch, nicht „zum Osten“ zu gehören. Trotz veränderter Stimmungslage, d. h. wachsender Zustimmung in Bevölkerung und Wirtschaft ist kein erneuter Versuch einer Länderfusion unternommen worden.

 

Statt eines Zusammenschlusses wurde die Zusammenarbeit verstärkt. Es gibt „gemeinsame Landesplanung“ in den Bereichen:

·         Öffentlicher Personennahverkehr,

·         Justiz,

·         Polizei,

·         Bildung,

·         Öffentliche (staatliche) Medien, d. h. Rundfunk und Fernsehen,

·         Wirtschaftsförderung.

 

Auch auf der individuellen Ebene haben sich Formen der Kombination ergeben, so zum Beispiel, in einem Bundesland zu wohnen und im anderen zu arbeiten.

 

Tabelle: Berufspendler zwischen Berlin und Brandenburg

Zeitraum

Wohnen in Berlin,

arbeiten in Brandenburg

Wohnen in Brandenburg,

arbeiten in Berlin

2003

57.000

 

2010

70.000

179.000

 

Ein Beispiel: Im Süden von Berlin hat die Firma Rolls-Royce ein Werk für Triebwerksfertigung, rund die Hälfte der 2.000 Mitarbeiter wohnt in Berlin. Besonders Speditionen und Logistikunternehmen siedeln sich aus Platzmangel und wegen guter Autobahnanschlüsse in Brandenburg an, aber in der Nähe von Berlin. (Eine Entwicklung, die später auch in Korea stattfinden wird.) Die zuständigen Stellen sehen wegen der Berufspendler kein Konkurrenzverhältnis zwischen Berlin und Brandenburg, sondern sprechen von einem „wirtschaftlichen Verflechtungsraum.“ Zur Attraktivität des Arbeitsplatzes in Brandenburg kommen die Lebensqualität und das vielfältige kulturelle Angebot Berlins.

 

Tabelle: Arbeitssituation in Berlin und Brandenburg

 

Berlin

Brandenburg

Arbeitslosenzahl (Juli 2011)

13,5 %

10,5 %

Arbeitsmarkt, sozial-

versicherungspflichtig

Beschäftigte

1,1 Millionen

757.000

 

Die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze stieg in Brandenburg im Vergleich zum Vorjahr um fünf Prozent (Stand Juli 2011). Bei der Wirtschaftspolitik wird zwischen Berlin und Brandenburg vermehrt Vernetzung betrieben. Vielen scheint dies eine geradezu notwendige Vorgehensweise zu sein in einer Region ohne Großindustrie, ohne Geld aber mit hoher Arbeitslosigkeit. Da keine Länderfusion erreicht werden konnte, soll versucht werden, einen einheitlichen Innovationsraum zu schaffen. Diese Form enger Zusammenarbeit wird in sogenannten „wirtschaftlichen Clustern praktiziert.“ Das sind in erster Linie:

·         Gesundheitsbranche,

·         Energietechnik,

·         Verkehr, Mobilität und Logistik,

·         geplant für die Zukunft ist optische Industrie.

 

Im Cluster Verkehr, Mobilität und Logistik gibt es fünf „Handlungsfelder“:

·         Automobilindustrie,

·         Schienennahverkehr,

·         Luft- und Raumfahrt,

·         Logistik,

·         Verkehrstelematik.

 

Die Aktivitäten des vorstehenden Clusters werden von der Leiterin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt koordiniert, das sich in dem Technologiepark Berlin Adlershof befindet, einem Gebiet im Südosten Berlins, das nahe dem Flughafen gelegen ist und wo früher schon Industrie und Forschung angesiedelt waren. Produzierende Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen in diesem Bereich sollen in beiden Ländern rund 54.000 Beschäftigte umfassen, weitere 50.000 arbeiten bei den großen Verkehrsbetrieben (hauptsächlich Bahn) und rund 180.000 bei Logistik Dienstleistern.

In allen Clustern wird besonders die Zusammenarbeit zwischen den Bereichen Forschung und praktische Umsetzung gefördert. Ein besonders expandierender Bereich ist Elektromobilität.

 

 

5. Schlussbemerkungen

 

Die Zusammenarbeit einer großen Stadt mit ihrem Umland folgt hauptsächlich ökonomischen, politischen und ganz allgemein praktischen Erwägungen. Beim Beispiel Berlin-Brandenburg kommen noch historische Faktoren hinzu. Die Koordinierung zwischen beiden Bundesländern ist eine Notwendigkeit, und sie intensiviert sich, wobei meist von der Wirtschaft die Impulse ausgehen.

Nach einer Normalisierung auf der koreanischen Halbinsel werden sich vielfach Möglichkeiten für Zusammenarbeit ergeben, und ähnlich Berlin-Brandenburg werden grenzüberschreitende „Wachstums- und Kooperationsdreiecke“ entstehen bzw. sich ausweiten. Hier ist in erster Linie an Seoul, Inchon, Gaesong und Haeju zu denken. Eine Normalisierung/Wiedervereinigung böte die Chance, die Fünfte Vereinbarung des Gipfeltreffens vom Oktober 2007 in Pyongyang aufzugreifen, wo von einer „Sonderzone zur friedlichen Zusammenarbeit am Westmeer“ die Rede ist. Auch hier gibt es ähnlich der Berlin-Brandenburg-Situation (wo allerdings keine Lage am Meer gegeben ist) eine Kombination von Wissenschaft, Forschung durch Universitäten und andere Institutionen, vorhandene Anlagen (Industrie, Hafen, Flughafen), große Flächen mit niedrigen Bodenpreisen und kompetente Arbeitskräfte, alles zueinander in räumlicher Nähe: Also rein theoretisch große Möglichkeiten für Süd-Nord-Kooperation.

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