Kunst, Risiken & Nebenwirkungen
Organisation: Teilprojekt B2 "Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung" (Leitung: Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte)
Ästhetische Erfahrungen sind stets mehrdimensional. An Kunsterzeugnissen, seien es Werke, Diskurse oder Aufführungen, werden vielfältige und in sich häufig widersprüchliche Erfahrungen gemacht. Oft sind es gerade die "Nebenwirkungen", das Unbeabsichtigte, die von niemandem gewollten Effekte, die ästhetische Erfahrung mehr als alles andere kennzeichnen und dafür sorgen, dass Kunst eine Spur hinterlässt. In der Vielfalt ihrer Ausprägungen und Ausmaße entziehen sich die Wirkungen von Kunst einer trennscharfen, einhegenden Bestimmung. Offen gehaltene Konzepte wie Schwelle und Grenze bieten die Chance, neue Beschreibungssprachen zu finden und sich dem Phänomen des Ästhetischen von dessen Rändern aus auf andere Weise zu nähern. Komparatistisch soll gefragt werden, wo es Berührungspunkte gibt zu Modellen ritueller und religiöser Erfahrung, auch und gerade aus außereuropäischen Kontexten. Emotion - Aktion - Läsion: In den Mittelpunkt rückt, was in der Theoriebildung sonst häufig als Nebenwirkung der Kunstwahrnehmung übersehen wird. Gesucht wird in drei einander überlagernden Dimensionen:
1. Ästhetische Erfahrung im Handeln
2. Ästhetische Erfahrung als Emotion
3. Ästhetische Erfahrung als Läsion
Ästhetische Erfahrung ist an Handeln gebunden, und wer handelt, riskiert etwas. Anstatt der Betriebsamkeit der modernen Lebens- und Arbeitswelt ein Refugium der Kontemplation entgegenzusetzen, fordert die Kunst vermehrt den explizit handelnden Zuschauer und zwingt zur Aktion. Längst ist man in der Kunst nicht mehr vom Handeln entlastet, im Gegenteil: Gerade in künstlerischen Prozessen wird man für das eigene Handeln haftbar gemacht, und Aktionen zeigen tatsächlich Wirkung.
Ästhetische Erfahrung verlangt emotionale Teilnahme. Aktuell diskutierte Erfahrungsbegriffe berücksichtigen dies und beschreiben Prozesse der Selbst- und Fremdwahrnehmung in ihrer ganzen Breite: Affektive und kognitive, physische und psychische, synästhetische wie fokussierte Erfahrungen sind integriert. All diese Ebenen des Empfindens interagieren in der Wahrnehmung des Ästhetischen, die keineswegs auf einen intellektuellen Prozess reduziert werden darf.
Ästhetische Erfahrung hinterlässt Spuren. Oft sind ästhetische Wirkungen in Verletzungen, Verwundungen und Verunsicherungen erkennbar, die bei den Beteiligten zurückbleiben. Es wird zu fragen sein, inwiefern derartige Prozesse als Schwellenzustände mit transformativem Potenzial zu beschreiben sind.
Sektion 1: Ästhetische Erfahrung im Handeln
Mit der Möglichkeit, (im Theater) an einer Aufführung teilzunehmen oder (in Museen und Galerien) Objekte zu benutzen, wird nicht nur die tradierte Betrachterrolle aufs Spiel gesetzt. Eine Teilhabe durch eigene körperliche Handlungen, die im Geschehen oder an einem Werk Spuren hinterlassen, provoziert auch andere ästhetische Erfahrungen als die distanzierte Betrachtung. Sofern das Publikum zu einer 'Antwort' herausgefordert wird, wird es vor die Entscheidung gestellt, etwas zu tun oder zu lassen. Schon diese Entscheidungssituation kann krisenhaften Charakter annehmen. Wer für das aktive Handeln optiert, muss in Kauf nehmen, vor anderen als Akteur exponiert zu werden, was zu einer irritierenden Veränderung der (Selbst-)Wahrnehmung aber auch der Affekte führen kann.
Jenseits qualitativer Unterscheidungskriterien ist deshalb zu untersuchen, inwiefern eine aktive Teilhabe im Gegensatz zu einer distanzierten Betrachtung eine ästhetische Erfahrung markiert, die sich als liminale Erfahrung beschreiben lässt. In diesem Zusammenhang ist außerdem zu fragen, welche Risiken ein handelndes Publikum (im Sinne interventionistischer Akteure) auf sich nimmt. Oder umgekehrt: Welchen Risiken und Nebenwirkungen es Andere – Darsteller und Zuschauer und also eine Aufführung, ein Werk – durch und mit seinen Handlungen aussetzt? Inwiefern expliziert also eine eingreifende Handlung Fragen nach der Verantwortung für den oder das Andere in spezifischer Weise? Und welche konkreten Auswirkungen haben eingreifende Handlungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung?
Sektion 2: Ästhetische Erfahrung als Emotion
Menschliches Handeln, Wahrnehmung und Denkvorgänge sind auf verschiedenste Weisen und vielfältig von Gefühlen bestimmt oder beeinflusst – alle "geistigen" Vorgänge wirken auf "körperlicher" Ebene als signifikante Zustandsveränderungen des Organismus bzw. sind mit diesen verbunden. Während für das 20. Jahrhundert eine Randständigkeit von Gefühlen in den ästhetischen Theorien konstatiert werden kann, gilt dies in einer historischen Perspektive und mit Blick auf die soziale Praxis nicht. Mit der beabsichtigten Thematisierung emotionaler Aspekte ästhetischer Erfahrung soll dabei nicht der Versuch unternommen werden, zeitgenössische (Kunst)-Erfahrungen unter den Oberbegriff eines neuen ästhetischen Gefühls zu stellen, vielmehr sollen die komplexen zeitlichen Transformationen von (Kunst / Selbst-)Wahrnehmung und Emotionen / Gefühlen / Gefühlsveränderungen in den Blickpunkt geraten. Eine Diskussion ästhetischer Erfahrung – verstanden als Prozess komplexer Interaktions- und Aneignungsvorgänge zwischen Kunstereignissen / Kunstwerken und Rezipienten – kann daher unmöglich darauf verzichten, deren emotionale Wirkung zu thematisieren.
Die emotionalen Wirkungen von Kunstereignissen sind im Einzelfall kaum zu kalkulieren, umgekehrt ist in vielen zeitgenössischen Arbeiten aber die Absicht erkennbar, eine spezielle emotionale Wirkung ("Freude", "Wut", "Mitleid", "Scham" etc.) zu evozieren. Lassen sich diese Wirkungen, die Gefühle und Thematisierung von Gefühlsdispositionen, die in einer konkreten ästhetischen Erfahrung spürbar werden, als Schwellenerfahrung beschreiben und verstehen, und wenn ja, in welchem Sinne? Welche Aspekte von Emotionalität werden in ästhetischen Erfahrungen erlebbar und wodurch zeichnen sich diese aus? Wie ist der Prozess einer wechselseitigen Beziehung von ästhetischer Erfahrungen und Emotionalität des Rezipienten zu beschreiben?
Sektion 3: Ästhetische Erfahrung als Läsion
Die Forderung, dass Kunst wehtun müsse, ist in der modernen ästhetischen Theorie ein weit verbreiteter Topos. Das Schöne, Signatur des Ästhetischen noch im 19. Jahrhundert, hat abgedankt zugunsten anderer, spannungsreicherer, nicht selten dissonanter Erfahrungsformen, die wahlweise in Ästhetiken des Erhabenen, Hässlichen, der Negativität, des Schocks etc. verhandelt werden. Über alle Differenzen hinweg besteht hier Konsens, dass Kunst-"Vergnügen" jedenfalls nicht länger in der Kontemplation an einen schönen Schein gründen könne, sondern ihm vielmehr die paradoxe, gleichsam masochistische Bewegung einer Lust an der Unlust eigne. Ästhetische Erfahrung, so hat es den Anschein, ist ohne ein Moment des Schmerzes nicht zu haben.
Ein genauerer Blick in die ästhetische Theorieprosa, aber auch in den kunstwissenschaftlichen Forschungsalltag weist derlei Leiden freilich meist als reichlich kognitive Beschwerden aus, bei denen der Erreger vom intellektuellen Immunsystem immer schon wieder beherrscht, der Schmerz eingedämmt ist. Auf die Gefährdungen, denen Psyche und häufig auch Physis ausgesetzt sind, richtet sich dagegen allzu selten der Fokus der Aufmerksamkeit. Daß Kunst tatsächlich sehr viel mit Verletzungen zu tun haben kann und diese Rede keineswegs nur metaphorisch zu verstehen ist, signalisieren derweil die heftigen, kontroversen Reaktionen, die etwa eine Ausstellung von Damien Hirst, eine Operninszenierung von Calixto Bieito oder ein neuer Roman von Michel Houellebecq immer noch, immer wieder auszulösen vermögen. Häufig totgesagt, ist der Kunstskandal ein ziemlich lebendiges Phänomen und bekundet in den Leidenschaften, die er zu provozieren und aufeinanderprallen zu lassen versteht, dass hier mit der Verschiebung der Grenzen eines herrschenden Kunstbegriffes oftmals auch Grenzerfahrungen des Rezipienten einhergehen.
In diesem Zusammenhang wäre zu untersuchen, wie sich in der Repulsion durch Kunst intellektuelle und emotionale mit physischen Momenten kreuzen; nachzuspüren, was es mit der Attraktion in der Repulsion auf sich hat, worin der Kitzel dieser im Grunde unangenehmen Erfahrung bestehen könnte. Des Weiteren ist zu fragen, inwieweit die dialektische Verknüpfung von Repulsion und Attraktion – etwa im Skandal – inszenierbar ist und der Skandal eventuell als eigenes Genre, als eigene Kunstform angesehen werden muss.
Zeit & Ort
15.09.2005 - 17.09.2005
Vichow-Saal in den Sophiensälen, Berlin