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Teilprojekt B9. Poetiken des Unwahrscheinlichen

Mark Lombardi, Industries Carlos Cardoen of Santiago, Chile c. 1982-90 (2nd Version), 2000, pencil on paper, 45.7 x 61 cm [The Judith Rothschild Foundation Contemporary Drawings Collection Gift. © 2011 Estate of Mark Lombardi]

Mark Lombardi, Industries Carlos Cardoen of Santiago, Chile c. 1982-90 (2nd Version), 2000, pencil on paper, 45.7 x 61 cm [The Judith Rothschild Foundation Contemporary Drawings Collection Gift. © 2011 Estate of Mark Lombardi]

Leitung

Prof. Dr. Joseph Vogl

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Mark Potocnik, M.A. / Dr. Dirck Linck

Studentische Hilfskraft

Marcel Nouvertne

Projektbeschreibung

Das Teilprojekt beschäftigt sich mit Poetiken des Unwahrscheinlichen, die den Zusammenhang von Darstellungsweisen und Wissensordnungen auf Irritationspotentiale hin überprüfen. Am Beispiel der Werke von Alexander Kluge und Hubert Fichte, in denen Tendenzen einer modernen politisch-dokumentaristischen Literatur ihre je spezifische Ausprägung finden, werden Erzählweisen untersucht, die das Unglaubliche gegen das Bekannte, den Eigensinn gegen das Geschick, das Singuläre gegen das Immer-Schon-Gewußte ausspielen. Sie optieren damit für einen anderen Verlauf von Geschichten und Geschichte und bringen – in der Darstellungspraxis wie im Dargestellten – eine ästhetische Erfahrung ins Spiel, die sich am Unerwarteten oder Unverhofften, am Übertriebenen oder schlicht Kontingenten entzündet. Die damit verbundene Überlagerung von fiktionalen und dokumentarischen Elementen setzt Urteilsprozesse in Gang, die sich auf die unscharfen Grenzen zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Kompetenzbereichen beziehen und zwei weitere Frageperspektiven eröffnen. Einerseits geht es um komplexe Transfers poetischer und medialer Strategien, die sich durch eine Migration ästhetischer Formen unterschiedlicher Herkunft auszeichnen und Gattungskonventionen unterlaufen. Dies führt anderseits zu Verwerfungen und Brüchen, die den Blick von Darstellungsobjekten auf die repräsentative Kraft von Darstellungsformen lenken. Ästhetische Erfahrung wird damit auf ein reflexives Potential verpflichtet, das Darstellungsevidenzen auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht suspendiert. Das Teilprojekt nähert sich dieser Problemstellung zum einen durch die Untersuchung des Zusammenspiels von Techniken und Elementen unterschiedlicher Medien bzw. Genres im Werk Alexander Kluges und fokussiert dabei die Dramatisierung von Kontingenz sowie die damit verbundenen ästhetischen und historischen Urteils- und Entscheidungsszenen (UP 1). Zum anderen soll das ethnopoetische Verfahren im Werk Hubert Fichtes rekonstruiert werden, dessen poetische Anthropologie einer intermedialen Verschränkung von Autofiktion und Dokumentarismus sowie einem Prozess ständiger ,Umschriften‘ folgt und damit ihren diskursiven Status ambiguiert (UP 2).

Unterprojekt 1: Von Fall zu Fall. Alexander Kluges Poetik der Geschichte

(Prof. Dr. Joseph Vogl und Mark Potocnik, M.A.)

Das Unterprojekt ist als historische Diskurs- und Medienanalyse von Alexander Kluges Arbeiten angelegt. Ins Zentrum der Fragestellungen werden die Arbeiten gestellt, in denen die „Gattung Kluge“ (Reemtsma) die Grenzen zwischen Literatur, Film, Fernsehen und Theorie brüchig werden lässt und mit den Verschränkungen von Dokumentation und Fiktion die Problematik ästhetischer Urteilsbildungen offen legt. Eine Poetik des Unwahrscheinlichen soll in vier Arbeitsschwerpunkten verhandelt werden. So geht es erstens all jene Korrespondenzen zwischen Ästhetik und Geschichte, in denen über die verschiedenen Werkeinheiten hinweg poetologische Problemstellungen als Reflexionsfiguren historischen Wissens ausgewiesen werden und historiographische und ästhetische Verfahren und Formen zur Sondierung des historischen Feldes beansprucht werden. Zweitens geht es um Figuren des Unwahrscheinlichen, die sich – etwa in Gestalt des Anekdotischen – über markante Überschneidungen zwischen ‚historischer’ und ‚literarischer’ Narration konstituieren. Drittens werden dabei nicht nur ‚para-literarische’ Verfahren wie Interview, Investigation, Reportage und Ermittlung investiert; die Konkurrenz, Kombination oder Ergänzung unterschiedlicher Medien ruft auch die Frage nach den Mitteln zur Herstellung darstellungslogischer Evidenz auf den Plan. Sofern Kluges Poetik schließlich an den Motiven eines historischen Möglichkeitssinns und an den Verfahren einer Unterscheidungskunst orientiert ist, stellt der damit verbundene Begriff der Kritik – bezogen auf Dargestelltes wie auf Darstellungsweisen – viertens die Frage nach dem Verhältnis zwischen praktischen und theoretischen, pragmatischen und ästhetischen Urteilen bzw. Entscheidungen.

Unterprojekt 2: „Forschungsbericht. Roman.“ Hubert Fichtes Ethnopoesie zwischen Autofiktion und poetischer Anthropologie

(Dr. Dirck Linck)

Das Unterprojekt 2 nimmt eine Literatur in den Blick, die am Unwahrscheinlichen als einer politischen Option interessiert ist und an der Schnittstelle von Dokumentation und Fiktion operiert. Sein Gegenstand ist die sich in der Verschränkung von autofiktionalem Erzählen, queerer Gegengeschichtsschreibung und Ethnografie entfaltende Ethnopoesie Hubert Fichtes, vor allem der nachgelassene und erst seit 2006 vollständig edierte Zyklus Die Geschichte der Empfindlichkeit, der als Produkt eines Schreibens verstanden wird, das dem Versuch abgewonnen wurde, Unwahrscheinlichkeiten und „Wunder“ zu thematisieren, ohne sie darstellungslogisch wieder zu kassieren. Mit der Fokussierung auf das Ereignis sowie die Umstände unwahrscheinlicher kultureller Praktiken und politischer Interventionen setzt sich Fichtes parteilicher Dokumentarismus sowohl zu den dokumentierenden Verfahren der Wissenschaften wie zu den Dokumentarismen der anderen Künste in eine Beziehung, die unter produktions- und rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten untersucht werden soll. Zur Konturierung von Fichtes Poetik als einer „Poetik des Unwahrscheinlichen“ ist es vorgesehen, die Korrelation von erstens unwahrscheinlichen Stoffen und Sujets, zweitens bestimmten Formen, Genres und Figuren (etwa das Hyperbolische und der Klatsch) sowie drittens dem Verfahren des Prozessualisierung des Schreibens darzulegen, einem ästhetisch ebenso wie politisch motivierten Verfahren der permanenten „Umschrift“, das Kohärenz- und Schließungseffekte immer neu destruiert.