Springe direkt zu Inhalt

Teilprojekt B4. Ästhetische Diversifikation als Zukunft der Musik?

Max Ernst: Saint Cécile ou Le piano invisible, Öl auf Leinwand, 1923, Staatsgalerie Stuttgart

Max Ernst: Saint Cécile ou Le piano invisible, Öl auf Leinwand, 1923, Staatsgalerie Stuttgart

Leitung

Prof. Dr. Albrecht Riethmüller

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Dr. Frédéric Döhl / Franziska Kollinger, M.A. / Dr. Julia Schröder

Studentische Hilfskräfte

Christoph Weyer

Projektbeschreibung

Ziel des Teilprojekts B4 ist es, die Auswirkungen der ästhetischen Diversifikation auf die gegenwärtige Erfahrung von Musik zu erarbeiten. Die Untersuchung wird im Spannungsfeld von ästhetischer Erfahrung und Urteilsbildung anhand von drei paradigmatischen Gegenständen durchgeführt: In UP 1 wird eine signifikante Strömung heutigen referenziellen Komponierens auf Verfahren und Folgen befragt. In UP 2 werden die aktuellen Veränderungen in der Positionierung des Konzertbesuchers untersucht, und UP 3 befasst sich mit dem Dirigenten Gustavo Dudamel zwischen Kunst, Medien, Gesellschaft und Politik.

Unterprojekt 1: Referenzielles Komponieren heute: Verfahren und Folgen

(Dr. Frédéric Döhl)

Die Arbeit des UP1 ist einer signifikanten Strömung zeitgenössischen referenziellen Komponierens gewidmet. Basis der Art referenziellen Komponierens ist die Nutzbarmachung präexistenten Musikmaterials Dritter für einen eigenen Schaffenskontext. Dem UP1 liegt die Beobachtung zugrunde, dass die dabei eingesetzten, ebenso althergebrachten wie kunstübergreifend anzutreffenden Verfahren der Bezugnahme bzw. Referenz (Zitat, Analogie, Adaptation, Allusion, Fusion, Parodie etc.) gegenwärtig im Musikalischen exponentiell zugenommen haben. Dadurch ergibt sich ein Umschlag vom Quantitativen ins Qualitative, der sowohl im Blick auf seine verwendeten künstlerischen Verfahren als auch seine beträchtlichen Folgen (hier voran in rechtlicher Hinsicht) zu erörtern ist. Eine Reihe entsprechend operierender Komponisten verbinden diese Verfahren mit einer, immer wieder auch explizit gemachten kreativen Haltung. Diese Haltung beansprucht alle bisher entstandene Musik als potentiellen Bestandteil der eigenen musikalischen Sprache und verlangt freien Zugriff auf Werke Dritter. Das den Fremdwerken entnommene musikalische Material soll sich dabei so verselbstständigen, dass sein die Wahrnehmung prädeterminierendes Potential der Referenzstiftung in der Erfahrung solcher Musik so weit wie nur irgend möglich zurücktritt. Angestrebt ist also die Neubestimmung eines Bereichs kompositorischer Verfahren durch Relativierung ihrer vielleicht signifikantesten Eigenart. Die Aufdeckung der im Spannungsfeld zwischen diesen kompositorischen Verfahren und ästhetischen Haltungen sowie ihren theoretischen und rechtlichen Beurteilungen entstehenden Interaktionen im Lichte des spezifischen Erfahrungsraums solcher Musik bildet das Ziel der Untersuchung.Das UP1 ist zweigliedrig angelegt. Zum einen widmet es sich der Beschreibung jener Strömung referenziellen Komponierens in ihren Verfahrensweisen, Konzeptualisierungen und Verbreitungsformen. Zum anderen wird die Reaktion des Rechts, d.h. der sich mit Musik beschäftigenden Juristen, auf diese Praxis analysiert, da deren Auswirkungen in diesem Komplex am Folgenschwersten sind.

Unterprojekt 2: Die Position des Hörers im Konzert

(Dr. Julia Schröder)

Seit einem halben Jahrhundert, seit Happenings und Wandelkonzerte die Runde machten, wurde auf vielfältige Weise damit experimentiert, die Begrenzungen des traditionellen Konzertrituals aufzubrechen und die Interaktionen von Hörerschaft, Interpreten und dargebotener Musik neu zu bestimmen. Ziel des Unterprojekts ist es, im Ausgang vom reichen Berliner Konzertleben den aktuellen Stand dieser Bestrebungen zu eruieren und von da her zu überprüfen, inwieweit sich die Position des Hörers im Konzert – der reale Ort, an dem er sich befindet, und der Status, der ihm zugemessen wird – inzwischen tatsächlich gewandelt hat. Zu den innovativen Konzertformaten gehört es etwa, wenn die Zuhörer im ersten Konzert umherlaufen, im zweiten beim wiederholten Spiel der gleichen Komposition den Sitzplatz wechseln sollen und das dritte gar nicht mehr im Konzertsaal, sondern im öffentlichen Raum stattfindet. Darin zeigen sich implizit und explizit Veränderungen der Vorstellungen über das Hören von Musik. Insbesondere wird hier die Inszenierung (also der Rahmen und das vormals Akzidentelle) der Aufführung wichtiger. Solche inszenierten Konzerte gehen mit einer Bandbreite von Erlebniskonzepten einher, die vom Einbezug des Visuellen, also von Lichtregie über Positionswechsel der Musiker während des Konzerts bis zu einer ausschließlichen Fokussierung auf das Akustische bei Aufführungen im Finstern reichen. Entgrenzt wird in verschiedener Hinsicht: gegenüber anderen Künsten, wenn beispielsweise die musikalische Geste von ihrer Funktionalität als Klang produzierende umgewertet wird in eine entfunktionalisierte ästhetische Geste, also eine tänzerische Bewegung, im Fall der Adaption von Helmut Lachenmanns Kompositionen durch den Choreographen Xavier le Roy 2005; gegenüber Nicht-Kunst, wenn Konzerte an öffentlichen Orten stattfinden, wie bei der Bespielung des Berliner Hauptbahnhofs im Sommer 2010; unter musikalischen Stilen, wenn ein Konzertprogramm alte und neue Musik vereint oder wenn die Barockmusik nach der Aufführung von einem DJ remixed wird. Analysiert wird dementsprechend die Konzertsituation nach räumlichen Gesichtspunkten unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen mit innermusikalischen Faktoren. Eine Hypothese ist dabei, dass die Neusituierung der Konzerte zu einer Änderung der Programme sowie des Repertoires führt und sich zugleich auf das Schaffen neuer Kompositionen auswirkt. Die analysierten neuen Konzepte sollen mit Hörertypologien aus der musiksoziologischen und musikpsychologischen Forschung verglichen werden.

Unterprojekt 3: Das Projekt Dudamel

(Franziska Kollinger, M.A.)

Der aus Venezuela stammende Gustavo Dudamel gehört heute zu den weltweit gefragtesten Dirigenten. Als musikalischer Leiter des Simón Bolívar Symphony Orchestra, des Gothenburg Symphony Orchestra sowie vor allem der Los Angeles Philharmonic ist er zur Symbolfigur einer neuen Klassik-Generation geworden. Dem gerade einmal 30jährigen Ausnahmetalent gelingt es, mit großem sozialen Engagement und Leidenschaft ein neues, junges Publikum an die Welt der klassischen Musik heranzuführen und diese ästhetisch erfahrbar zu machen. Hierbei spielt die mediale Präsenz des Stars Dudamel eine entscheidende Rolle. Vermarktungsstrategien aus dem Bereich der Popmusik werden auf das Klassik-Segment übertragen, um den Dirigenten entsprechend in Szene zu setzen.Ausgangspunkt der medialen Inszenierung Dudamels ist hierbei sein eigener musikalischer Werdegang. Er erhielt seine Musikerziehung innerhalb des „Sistema de Orquestas Juveniles de Venezuela“ („El Sistema“), einem landesweiten Programm zur Förderung der musikalischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen, die aus sozial schwachen Verhältnissen kommen und denen neue Lebensperspektiven eröffnet werden sollen. Bereits im Alter von 18 Jahren übernahm Dudamel die Leitung des Simón Bolívar Youth Orchestra. Gerade in dieser Funktion war es ihm ein besonderes Anliegen, zwischen traditionellem klassischem Repertoire und anderen Stilrichtungen, wie Folklore oder Jazz zu vermitteln. Ausgehend von seinem sozialen Engagement innerhalb des „El Sistema“ hat er in Los Angeles mit dem Youth Orchestra Los Angeles (YOLA) und Pilotprojekten in Schweden und Schottland seine Jugendarbeit fortgesetzt. Diese Bestrebungen haben auch in Deutschland mit dem Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ Nachahmung gefunden. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, vor welchem kultur- und politikgeschichtlichen Hintergrund diese Förderung von statten geht und inwiefern dabei eine politische Instrumentalisierung von Musik zu beobachten ist. Solche Wechselwirkungen musikalischer Potenziale und medialer Strategien bilden die methodischen Rahmenbedingungen des Unterprojektes.