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Akteure der kulturellen Globalisierung, 1860-1930

Institution:

DFG Forschergruppe 925: Akteure der kulturellen Globalisierung, 1860-1930

Förderung:
DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft)
Projektlaufzeit:
01.06.2008 — 01.05.2011

Sprecher

Prof. Dr. Andreas Eckert

Humboldt Universität zu Berlin
Institut für Asien und Afrikawissenschaften
Lehrstuhl Geschichte Afrikas
Unter den Linden 6
10099 Berlin
andreas.eckert@asa.hu-berlin.de
Tel.: +49 30 2093-6670
Fax :+49 30 2093-6607

Übersicht: Beteiligte Personen und Projekte

Projekt-Nr.

Projektleiter

Universität

Fach

Projekttitel

Zentralprojekt A

Prof. Dr. Andreas Eckert

Humboldt-

Universität zu

Berlin

Geschichte Afrikas

„Rassisten“ im Dienste der Emanzipation. Vordenker und Aktivisten des Anti-Rassismus als Akteure der Globalisierung um 1900

B – 1

Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott,
Prof. Dr. Sebastian Conrad

Freie Universität Berlin,

Europäisches Hochschulinstitut Florenz

Japanologie

Geschichte

Translating Asia: „Chinesisches Wissen“ in Japan, 1880-1914

B – 2

Prof. Dr. Harald Fischer-Tiné

International University Bremen

Geschichte Südasiens

Kulturelle Mediatoren zwischen Südasien und ‚dem Westen’: Indische Mitglieder der Theosophical Society und der Austausch von Wissen (1879-1930)

C – 1

Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl,
Dr. Michaela Hampf

Freie Universität Berlin

Geschichte Nordamerikas

Die transatlantische Telegrafenverbindung und die Verkabelung der Welt: Kulturelle Netzwerke und epistemische Gemeinschaften im maritimen Raum

C – 2

Prof. Dr. Natascha Gentz (assoziiert)

University of Edinburgh

Sinologie

Auswirkungen globaler Studentenmigration auf Wissenstransfer und Elitenbildung in China, 1870 – 1930

C – 3

Prof. Dr. Stefan Rinke

Freie Universität Berlin

Geschichte Lateinamerikas

Fußballenthusiasmus: Die Anfänge des Fußballs in Lateinamerika als transnationales Phänomen --- Argentinien, Brasilien und Uruguay im Vergleich, 1867-1930

D – 1

Prof. Dr. Ulrich Mücke

Universität Hamburg

Geschichte Lateinamerikas

Städtische Arbeiterschaft als Träger der Globalisierung im Porfiriat, Mexiko 1876-1911

D – 2

Prof. Dr. Andreas Eckert

Humboldt-

Universität zu

Berlin

Geschichte Afrikas

Globalisierung der westlichen Zeitordnung? Arbeitszeit und Arbeitsdisziplin in Senegal, 1880-1940

1. Zusammenfassung

Kurzzusammenfassung

Die Forschergruppe untersucht die Dynamik kultureller Austauschprozesse in der ersten Hochphase der Geschichte der Globalisierung um 1900. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Akteuren und Vermittlern transnationaler Interaktion. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach den unterschiedlichen Modi der Aushandlung kultureller, politischer und sozialer Differenz. Im Spannungsfeld zwischen homogenisierenden Tendenzen einerseits, der Profilierung und Konstruktion von Abgrenzungen andererseits sollen die komplexen Prozesse des kulturellen und sozialen Wandels unter Bedingungen globaler Verflechtung untersucht werden. Die Arbeit der Forschergruppe basiert auf der Verbindung von regionalwissenschaftlicher Kompetenz und einer globalgeschichtlichen Perspektive. Auf diese Weise will sie einen nicht-eurozentrischen Beitrag zu einer Genealogie der globalisierten Welt leisten.

Beschreibung des Projektes

Die historische Forschung zur Geschichte der Globalisierung hat sich, vor allem im Hinblick auf die Konjunktur globaler Interaktionen um 1900, bislang auf politische und weltwirtschaftliche Fragen konzentriert. Im Rahmen der Forschergruppe sollen hingegen kulturgeschichtliche Fragestellungen eine wichtige Rolle spielen, ohne zugleich den Bezug zu politischen Prozessen und ökonomischen Strukturen aus dem Auge zu verlieren. Auf diese Weise soll ein komplexerer Beitrag zur Geschichte der Globalisierung geleistet werden. Dabei stehen soziale Akteure sowie außereuropäische Perspektiven im Vordergrund. Im Hintergrund steht die Frage, ob die unterschiedlichen Formen kultureller Aneignung einen Ausgangspunkt für die Herausbildung „multipler Modernen“ dargestellt haben könnten.

Im Einzelnen stehen folgende Fragen im Vordergrund:

  • (1) Wie sah die Logik der globalen Interaktion konkret aus? Welche Strategien der Aneignung und kulturellen Übernahme spielten dabei eine Rolle? Welche Bedeutung hatte die Diskussion über „West“ und „Ost“ für die Dynamik dieser Verflechtung?
  • (2) In welchem Maße waren kulturelle Interaktionen mit der Herausbildung eines globalen Bewusstseins verbunden? Welche Rolle spielten weit entfernte Vorbilder oder Schreckensvisionen für die Reformdiskussion in den unterschiedlichen Gesellschaften? Wie weit reichten transnationale Öffentlichkeiten, und wo waren ihre Grenzen? Lässt sich die Entstehung regionaler Interaktionen und eines regionalen Bewusstseins (wie im Falle der Pan-Bewegungen) als Reaktion auf Globalisierungsvorgänge verstehen?
  • (3) Welche Bedeutung hatte die Rhetorik der Zivilisierungsmission für die Globalisierung um 1900? Führte die Zunahme von Austauschbeziehungen zu einer kulturellen Homogenisierung – oder eher zur Profilierung von Unterschieden? Welche Logik der Differenz strukturierte die globale Verflechtung im späten 19. Jahrhundert?

Die drei leitenden und mit einander in Beziehung stehenden Forschungsfragen werden in allen Projekten aufgenommen; gleichwohl ist eine Schwerpunktsetzung und Clusterbildung beabsichtigt:

Leitende Fragestellung

Projekt Nr.

Projektleiter

Querschnittthema des Zentralprojekts

A

A. Eckert

Modi der Übersetzung, Aneignung,

Modifikation

B – 1

B – 2

V. Blechinger-Talcott/ S. Conrad

H. Fischer-Tiné

Globales Bewusstsein und transnationale

Öffentlichkeit

C – 1

C – 2

C – 3

U. Lehmkuhl/ M. Hampf

N. Gentz

S. Rinke

Standardisierung und Differenz

D – 1

D – 3

U. Mücke

A. Eckert

Quer zu diesen drei Forschungsfragen steht ein übergreifendes Anliegen der Forschergruppe:

Lässt sich eine Landkarte kultureller Verflechtungen im globalen Maßstab rekonstruieren, die der unterschiedlichen regionalen Dynamik Rechnung trägt? Welche Knotenpunkte, welche Hierarchien, welche Asymmetrien strukturierten Interaktionen im globalen Maßstab?

Die Forschergruppe will einen Beitrag zur Historisierung der Globalisierung leisten. Der Fokus auf der kulturgeschichtlichen Dimension der Austauschprozesse ermöglicht es, die Untersuchungen an die Frage nach der Pluralisierung von Modernisierungspfaden anzuknüpfen. Trug die Logik der kulturellen Verflechtung dazu bei, eine Welt der multiple modernities entstehen zu lassen, deren Dynamik auch die Gegenwart noch prägt?

Die Forschergruppe bringt Wissenschaftler unterschiedlicher disziplinärer und regionaler Spezialisierungen zusammen, die sich in ihrem theoretischen Ansatz sowohl von der nationalstaatlichen Perspektive als auch von Vorstellungen begrenzter (Kultur-)räume lösen. Stattdessen sollen exemplarisch Problemstellungen in den Mittelpunkt der Forschungsinteressen gerückt werden, die zwischen den Regionen, Kulturen, Nationen, Kontinenten (und auch akademischen Disziplinen) zu finden sind. Die einzelnen Forschungsvorhaben richten sich gleichwohl auf konkrete Gegenstände und Räume; die sprachlichen und kulturellen (häufig regionalwissenschaftlichen) Kompetenzen sind das Fundament der einzelnen Projekte.

Thema

Kulturgeschichte der Globalisierung

Gegenstand

Akteure, Vermittler, Übersetzer

Zeitraum

1860-1930 (Kern: 1880-1914)

Regionen

Südasien, Ostasien, Naher Osten, Europa, Nordamerika, Lateinamerika, Afrika

Forschungszusammenhänge

  • Multiple modernities
  • Geschichte der Globalisierung
  • Kulturelle Transfers

Fragestellungen der einzelnen Projekte

  • 1) Modi der Übersetzung, Aneignung, Modifikation
  • 2) Globales Bewusstsein und transnationale Öffentlichkeit?
  • 3) Standardisierung und Differenz

Zusätzlich: Fragestellung des Gesamtprojektes

  • 4) Mapping der Globalisierung um 1900

2. Problemstellung, Forschungsziele und -fragen

2.1 Problemstellung und Relevanz

Die Geschichte der Globalisierung wird erst seit wenigen Jahren systematisch erforscht. Im Mittelpunkt stehen dabei in der Regel die ökonomischen und politischen Aspekte der Vernetzung der Welt. Hingegen sind die kultur- und sozialgeschichtlichen Dimensionen nur wenig in den Blick genommen worden – und wenn, dann häufig einseitig als Prozess der ‚Verwestlichung’. Was fehlt, ist eine intensive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Mechanismen, durch die transnationale Prozesse in den jeweiligen Kulturen angeeignet und übersetzt wurden – und mit der Frage, wie diese Formen der Aneignung wiederum auf jene transnationalen Prozesse zurückwirkten. Die Verflechtung der Welt hat keineswegs eine uniforme und homogene Welt hervorgebracht, sondern alternative kulturelle Ausprägungen moderner Gesellschaften entstehen lassen. Die Untersuchung der jeweils lokalen/ regionalen Modifikationen, Verschiebungen und Hybridformen im Kontext miteinander verflochtener Modernisierungsprozesse gehört zu den spannendsten Aufgaben, die sich eine empirisch grundierte Forschung der Geschichte der Globalisierung heute stellen kann.

Eine solche historische Perspektive verspricht, auch einen Beitrag zur gegenwärtigen Globalisierungsdiskussion zu leisten. Die enger werdende Verflechtung der Welt und die Zunahmen grenzüberschreitender Mobilität haben Wissenschaftler an vielen Orten dazu herausgefordert, vorherrschende Auffassungen von Modernität neu zu interpretieren. Diese Ansätze hinterfragen die Zentralität Europas und Amerikas für die Entstehung der modernen Welt, betonen Kräfte des Widerstands und autonome Formen der Entwicklung in Gesellschaft, die bislang in erster Linie als Objekte westlicher Modernisierung wahrgenommen wurden. Vor allem der Begriff der multiple modernities dient hier dazu, die Vielschichtigkeit kultureller Austauschprozesse systematisch zu fassen. Das Konzept ist als Kritik an der Vorstellung formuliert worden, dass das kulturelle Programm der Moderne, wie es in Europa entwickelt wurde, notwendigerweise auch in anderen modernisierenden Gesellschaften Bestand haben würde. Stattdessen betont es die Vielfalt der kulturellen Muster der Moderne. In diesem Modell wird die kulturelle Eigenständigkeit der außereuropäischen Welt ausdrücklich anerkannt; Modernität erscheint hier nicht ausschließlich als Produkt der Diffusion westlicher Ideen und Institutionen.

Das Konzept der multiple modernities suggeriert eine kulturelle Varianz des Globalisierungsprozesses. Um die Plausibilität und Erklärungskraft dieses Konzepts systematischer zu überprüfen, ist es notwendig, das Phänomen bis in das späte 19. Jahrhundert zurück zu verfolgen. Es ist inzwischen Konsens in der Forschung, dass die Zeit zwischen etwa 1860 und 1930 (mit einer Verdichtung in den Jahren zwischen 1880 und 1914) als eine frühere Hochphase der Vernetzung der Welt betrachtet werden kann. In dieser Phase haben sich grundlegende Muster der Interaktion herausgebildet, die zum Teil auch die Dynamik der heutigen Globalisierung noch bestimmen. Welche Formen der kulturellen Aneignung, der kulturellen Verflechtung spielten hier eine Rolle? Inwiefern waren sie Ausgangspunkt für Vorstellungen einer kulturellen Pluralisierung von Modernisierungsprozessen? Wie wurde Wissen übersetzt, angeeignet, modifiziert? Welche Begriffe wurden geschaffen, um andere Wissensordnungen zu appropriieren? Wie entstand Neues im Zuge der Interaktion und gegenseitigen Beeinflussung? Welche regionalen Vernetzungen spielten dabei eine Rolle? Wie waren kulturelle Austauschbeziehungen, ökonomische Strukturen und politische Macht miteinander verbunden?

Die Arbeit der Forschergruppe zielt darauf, die gegenwärtig hochaktuelle Frage nach der Pluralisierung der Moderne auf eine historische, empirisch abgesicherte Grundlage zu stellen. Sie ist auch als Beitrag zur Auseinandersetzung über den Dialog bzw. Kampf der Kulturen und über die Dynamik kultureller Verflechtung zu verstehen. Zugleich leistet die Forschergruppe einen Beitrag zur institutionellen Verzahnung von Fragestellungen, die üblicherweise getrennt von einander diskutiert werden. Die disziplinäre Arbeitsteilung zwischen ‚systematischen’ und ‚regionalwissenschaftlichen’ Fächern an deutschen und europäischen Universitäten vermag es nicht, den Verflechtungen von Gesellschaften und Kulturen in der heutigen Welt gerecht zu werden. Globale und lokale Veränderungen stellen die disziplinäre und nationale Ordnung des Wissens zunehmend in Frage. Die Forschergruppe will mit empirisch gesättigten, auf regionalwissenschaftlicher Kompetenz beruhenden Untersuchungen, die zugleich einer globalgeschichtlichen Perspektive verpflichtet sind, einen interdisziplinären Austausch befördern – über Fächergrenzen hinweg, die der sozialen Praxis in Zeiten der Globalisierung immer weniger gerecht werden.

2.2 Gegenstand und Fragestellungen

Diese Thematik soll anhand der Akteure der kulturellen Globalisierung untersucht werden. Im Vordergrund der einzelnen Projekte stehen daher die Akteure und Vermittler, die Makler der kulturellen Globalisierung um 1900: Experten und Wissenschaftler, Reisende, Lehrer und Übersetzer, Mediatoren des Wissens und kultureller Konzepte. Diese Schwerpunktsetzung erlaubt a) eine sozialgeschichtliche Einbettung der Transferprozesse: Soziale Herkunft, regionale und geschlechterspezifische Aspekte, die Rolle von Eliten, die Ökonomie des kulturellen Transfers sowie soziale Interessen spielen eine wichtige Rolle; b) darüber hinaus ist die institutionelle Verankerung von Transferprozessen eine ganz wichtige Dimension: Staatliche und private Delegationen und Gesandtschaften, internationale Kongresse, Verlage, aber auch Schulen, Akademien und Universitäten gehörten zu den institutionellen Strukturen, die kulturelle Interaktionen prägten; c) ein großer Teil der globalisierungshistorischen Literatur beschreibt vor allem Makrostrukturen und suggeriert so den Eindruck eines unaufhaltsamen, gleichermaßen naturgesetzlichen Prozesses. Die Projekte der Forschergruppe zielen hingegen auf die Verbindung einer akteurszentrierten Perspektive mit übergreifenden Strukturen. Auf diese Weise sollen die Widerstände, die Spielräume und Handlungsoptionen stärker in den Blick geraten.

Die Arbeit der Forschergruppe wird von drei sich ergänzenden und partiell überlagernden Fragestellungen geleitet:

  • (1) Logik des Transfers: Wie sahen die Prozesse der Aneignung und kulturellen Übersetzung konkret aus? Lange Zeit sind kulturelle Interaktionen im 19. Jahrhundert in erster Linie als Diffusion westlicher Konzepte und Institutionen wahrgenommen worden. In diesem Paradigma des Einflusses erschienen kulturelle Transfers als Einbahnstraßen, und die vorherrschende Frage war die nach dem Verhältnis von bereits vorhandenen ‚Traditionen’ und importierter ‚Moderne’. Dabei ist in den Hintergrund geraten, dass sich zirkulierende Begriffe, Vorstellungen und kulturelle Güter nicht verpflanzen und transferieren lassen, als ob ihnen die Reise nichts antun könnte. Tatsächlich veränderten sich in Transferprozessen nicht nur die aufnehmende Gesellschaft, sondern auch die Gegenstände des Transfers selbst. In welchem Maße waren Strategien der kulturellen Aneignung mit Modifikationen und Transformationen verbunden, die auf die spezifischen Konstellationen der beteiligten Gesellschaften reagierten? Welche Formen der ‚Rückwirkungen’ ließen sich beobachten, welche Spuren haben globale Verflechtungen auch in den Herkunftsgesellschaften hinterlassen? Die Austauschbeziehungen prägten das Selbstverständnis moderner Metropolen ebenso wie das der sogenannten Peripherie, auch wenn die Art und Weise des Austauschs in hohem Maße asymmetrisch blieb. Kulturelle Transfers unter Bedingungen von Kolonialismus und Globalisierung waren keineswegs einseitige und auch nicht lediglich reziproke Beziehungen, sondern multidirektionale Prozesse. Welche Rolle spielten Mobilität und intellektuelle Flexibilität der beteiligten Akteure für die Dynamik der Aneignungsprozesse? Wie lassen sich transnationale Interaktionen jenseits der Dichotomie von Westen und „Rest“ beschreiben? Wie läßt sich die Logik kultureller Transfers im Spannungsfeld von lokaler Spezifik, regionalem Kontext und globalen Strukturen angemessen beschreiben?
  • (2) Globales Bewusstsein: In welchem Maße waren kulturelle Interaktionen mit der Herausbildung eines globalen Bewusstseins verbunden? Die zunehmende Integration der Welt ermöglichte die Verbindung von Prozessen, die sich bis dahin hauptsächlich in regionalen Kontexten ereignet hatten. Soziale und politische Akteure bezogen sich immer häufiger auf vergleichbare Ereignisse in anderen Gesellschaften. Soziale Phänomene und vor allem wirtschaftliche Entwicklungen in anscheinend weit entfernten Gesellschaften wurden als Modelle und Maßstab herangezogen; gleichzeitig wuchs darüber hinaus das Bewusstsein, dass selbst entfernte Ereignisse Einfluss auf die eigene Gesellschaft entfalten würden. Selbst wenn die zunehmende Vernetzung der Welt nicht alle Gesellschaften und Menschen auf die gleiche Art einschloss, so hatte sie doch Auswirkungen auf Prozesse, die sich bis dahin in relativer Abgeschlossenheit vollzogen hatten.

Die Voraussetzung für ein Bewusstsein von transnationalen Zusammenhängen war die Zunahme grenzüberschreitender Austauschbeziehungen. Der Geograph David Harvey hat von der „Zeit-Raum-Kompression“ gesprochen, die am Ende des 19. Jahrhunderts den technologischen Wandel begleitete. Grundlage dafür war die Informationsrevolution seit den 1850er-Jahren. Das Dampfschiff, die Ausweitung der Postverbindungen und vor allem der Telegraph trugen zum Eindruck einer schrumpfenden Welt bei. Die technologischen Neuerungen waren ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung von Öffentlichkeiten in Lateinamerika, Süd- und Ostasien oder dem Osmanischen Reich. Häufig griffen sie dabei auf bestehende Diskussionsforen und Teilöffentlichkeiten zurück. Aber vor allem in den urbanen Zentren und Hafenstädten bildeten sich rasch neue Formen der öffentlichen Kommunikation, häufig getragen von neu formierten metropolitanen Eliten, die sich über die neu entwickelten Bildungssysteme rekrutierten. Vor allem die Ausbreitung des Pressewesens und die entstehende Zeitungskultur trugen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur raschen Verbreitung von Ideen bei. Inwiefern waren kulturelle Aneignungen von einem Bewusstsein globaler Strukturen und Zusammenhänge geprägt? Unterschied sich das Verständnis von „Welt“ an unterschiedlichen Orten? Welche Rolle spielten hier sich herausbildende transnationale Öffentlichkeiten? Wie weit reichten diese Interaktionszusammenhänge – und wohin nicht?

  • (3) Homogenisierung und Fragmentierung: Führte die zunehmende globale Verflechtung zu einer Anpassung und kulturellen Homogenisierung der Welt, wie viele Zeitgenossen annahmen? Oder gingen Kontakte und Austauschbeziehungen mit der Herausbildung und Profilierung von Abgrenzungen einher? Was waren die Modi der Aushandlung kultureller Differenz im späten 19. Jahrhundert? „Broad forces of global change strengthened the appearance of difference between human communities”, so hat Chris Bayly in seinem globalgeschichtlichen Überblick diesen Prozess kürzlich zusammengefasst, „but those differences were increasingly expressed in similar ways” (Bayly 2004). Diese These könnte als Ausgangspunkt dienen, um die Mechanismen kultureller Aneignung innerhalb eines globalgeschichtlichen Paradigmas zu diskutieren. Welche Formen der Anpassung und Vereinheitlichung lassen sich beobachten, und in welchen Bereichen? Insbesondere seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich eine zunehmend standardisierte Ordnung der Dinge heraus, in der regionale und nationale Verschiedenheiten eingeebnet werden sollten. Die weltweite Diffusion universeller Normen spielte sich innerhalb höchst asymmetrischer Machtstrukturen ab. Die Mechanismen der Standardisierung bezogen sich zunächst auf Aspekte technologischer Entwicklung, aber auch die Sphäre der Kultur wurde von Prozessen der Angleichung erfasst, beispielsweise die Ausbreitung der Form des Romans. Standardisierungsprozesse sind jedoch nicht einfach mit „Verwestlichung“ gleichzusetzen; Strategien der Vereinheitlichung wurden auch in regionalen Kontexten verfolgt. Wie groß waren die Chancen auf Durchsetzung regionaler und kulturell spezifischer Normen und Standards? In welchem Maße waren Prozesse der Standardisierung wechselseitig aufeinander bezogen? Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Zentralisierung und Einebnung von Differenz einerseits, der Etablierung von Grenzen und Gegenstandards andererseits systematisch beschreiben?

Zusätzliche Fragestellung des Gesamtprojekts:

(4) Mapping der Globalisierung: Neben diesen drei leitenden Gesichtspunkten und Fragestellungen sollen die einzelnen Projekte auch Aussagen zu den räumlichen und kulturellen Unterschieden der Integration in den Globalisierungsprozess ermöglichen. Hier geht es einerseits um die sozialhistorischen bzw. territorialen Einheiten (und keineswegs nur um mental maps bzw. diskursive Raumbestimmungen), die im Zuge der Verflechtung der Welt für soziale Akteure handlungsrelevant wurden. Andererseits ist nach den Netzwerken zu fragen, die Handlungsträger in unterschiedlichen Kontexten miteinander verbanden.

Wie lassen sich die räumliche Ordnung und die asymmetrischen Strukturen dieser kulturellen Globalisierung situieren? Welche strukturellen Faktoren haben die Formen der transnationalen Interaktion am nachhaltigsten geprägt? Lässt sich eine Landkarte kultureller Verflechtungen im globalen Maßstab rekonstruieren, die der unterschiedlichen regionalen Dynamik Rechnung trägt? Der Begriff der Globalisierung darf nicht dazu führen, dass die ungleiche regionale Logik transnationaler Beziehungen aus dem Blick gerät. Welche „Löcher in den Netzen“ (Osterhammel) der Globalisierung waren um 1900 zu beobachten? Welche Interaktionszusammenhänge waren besonders dicht? Wo lassen sich Knotenpunkte regionaler und transkontinentaler Beziehungen verorten? In einer ersten typologischen Annäherung sind vor allem vier Dimensionen zu berücksichtigen:

(1) Welche Rolle spielten die Beziehungen außereuropäischer Regionen zum ‚Westen’? In welchen Fällen läßt sich innerhalb Europas, aber auch zwischen Europa und den Vereinigten Staaten sinnvoll differenzieren? Wie hoch war der „Anpassungsdruck“ (Osterhammel), dem sich modernisierende Gesellschaften ausgesetzt sahen?

(2) Wie prägend war der Kontext des Kolonialismus für die Logik kultureller Interaktion? Wie groß waren die Unterschiede zwischen Gesellschaften, die vom Kolonialismus unterschiedlich betroffen waren – formal kolonisierte Gesellschaften in Afrika oder Indien; das semikoloniale China; das unter kolonialem Druck stehende Japan; formal unabhängige Staaten in Lateinamerika? Welche Rolle spielte umgekehrt die Form des Kolonialbesitzes? Oder lassen sich kulturelle Transformationen – etwa im Bereich der modernen Kunst – eher als Ausdruck einer allgemeinen ‚kolonialen Erfahrung’ deuten, die über Ländergrenzen hinweg alle westlichen Gesellschaften betraf?

(3) Wie lässt sich kultureller Austausch mit den Konjunkturen ökonomischer Verflechtung zusammendenken? In welchem Maße beeinflussten die Asymmetrien des Weltmarktes auch die grenzüberschreitende Aneignung kultureller Produktion? Welche Rolle spielten Märkte und die strukturellen Bedingungen des globalen Kapitalismus für die Wege des Transfers?

(4) Welche regionalen Bezüge blieben jenseits der Prozesse der ‚Verwestlichung’ wichtig? Oder entstanden neue Kontaktzonen, neue Formen sogenannter ‚Süd-Süd-Beziehungen’? Regionale Zusammenhänge behielten auch in Zeiten globaler Bezüge ihre Relevanz. Wie unterschieden sich, beispielsweise, die islamische Welt, Lateinamerika, Ostasien oder die Region des Indischen Ozeans im Hinblick auf die Mechanismen des Transfers, die Herausbildung überregionaler Öffentlichkeiten und die Herausbildung von Standardisierungen?

3. Forschungsstand

Die Aktivitäten der Forschergruppe stützen sich auf eine Vielzahl von meist regionalwissenschaftlich differenzierten Forschungszusammenhängen, auf die in den einzelnen Projekten verwiesen wird. Die übergreifende Fragestellung steht im Schnittpunkt verschiedener Forschungsansätze und -literaturen. Es ist a) auf die Diskussionen über kulturelle Transfers zu verweisen; b) steht das Vorhaben im Kontext der breiten Literatur zur Geschichte der Globalisierung; c) eng damit verbunden, will es einen Beitrag zur Debatte über multiple modernities und die Pluralisierung der Modernisierungswege leisten; d) schließlich knüpft die Fragestellung der Forschergruppe an die Literatur zur Entstehung eines globalen Bewusstseins und der Herausbildung transnationaler Öffentlichkeiten an.

(1) Die Diskussion über historische Transfers hat in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen. Die nicht immer produktive Dichotomie zwischen systematischem Vergleich einerseits und Beziehungsgeschichte andererseits ist dabei inzwischen in den Hintergrund getreten und hat einer Aufmerksamkeit für die komplexen Strategien kultureller Aneignung Platz gemacht (Haupt/ Kocka 1996; Kaelble 1999; Middell 2000; Paulmann 1998).

Die neuere Transferforschung fragt nicht mehr in erster Linie nach „Einflüssen“, nach „Übernahmen“ und eventuellen kulturellen „Missverständnissen“. Stattdessen stehen die unterschiedlichen Formen der Appropriation, der agency, der Hybridisierung im Vordergrund (Liu 1995; Howland 2002). Unter dem Stichwort „histoire croisée“ ist der Versuch gemacht worden, die Logik dieser Transferbeziehungen systematisch zu fassen und dabei auch die Verflechtungen der Beobachterpositionen mitzudenken und bis in die Begriffe hinein mitzureflektieren (Werner/ Zimmermann 2002).

Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen sind in den letzten Jahren zahlreiche avancierte Studien erschienen. Gleichwohl bleiben eine Reihe grundsätzlicher Fragen, die nur im Rahmen empirischer Forschung weiter entwickelt werden können. Vor allem zwei Probleme spielen in unserem Zusammenhang eine Rolle:

Zum einen geht es um die Relevanz des geographisch-kulturellen „Ursprungs“. Partha Chatterjee hat den Eurozentrismusverdacht auf den Punkt gebracht: Kultureller Transfer produziere außerhalb des ‚Westens’ lediglich „abgeleitete Diskurse“. Am Beispiel des indischen Nationalismus hat er die Mechanismen der Appropriation einer fundamentalen Kritik unterzogen. Das Argument: Unabhängig davon, wie sehr die Vorstellung von ‚Nation’ in Indien Modifizierungen unterworfen war; und vor allem unabhängig davon, dass das Konzept der Nation politisch zur Formierung des Widerstands gegen den imperialistischen „Westen“ beigetragen hat – bleibe dieser Diskurs gleichwohl epistemologisch ein Produkt eben jenes „Westens“, gegen den er sich richte (Chatterjee 1993). Diese Perspektive bleibt jedoch unbefriedigend. Gewiss: Es bleibt die Einsicht, dass kulturelle Transfers nicht ‚unschuldig’ sind, dass sie Machtasymmetrien verkörpern und durch den Transfer bestimmte kulturelle Alternativen nicht mehr im Raum des Sag- und Denkbaren verbleiben. Zugleich aber geht es darum, und darauf richtet sich zunehmend die Aufmerksamkeit, welche politischen Strategien mit dem Transfer verfolgt werden, durch welche Veränderungen und Modifikationen die agency der historischen Akteure ihren Ausdruck findet. Diese Diskussion könnte von einer Fokussierung auf die frühe Hochphase der Globalisierung und ihre komplexe Logik kultureller Appropriation weiter profitieren.

Zum anderen steht auch die räumliche Einheit von Transferprozessen zur Diskussion. Man hat ausführlich darüber diskutiert, ob Nationen die geeigneten Untersuchungseinheiten sind oder nicht vielmehr Regionen oder lokale Handlungsfelder. Darauf hin hat man die Einheiten dynamisiert: Kulturelle Beziehungen haben immer auch „Rückwirkungen“ auf die Herkunftsgesellschaften. Gleichwohl bewegt sich die Transferforschung weiterhin in der Regel innerhalb eines Paradigmas der Bilateralität. Angesichts der Realität globaler Vernetzung um 1900 bleibt diese Perspektive jedoch reduktionistisch. Es geht um multidirektionale Prozesse, die sich im engen Bezugsrahmen von Beziehungsgeschichten – sei es innerhalb der kolonialen ‚Kontaktzone’ oder einer imperial cultural formation (also der Betrachtung von Kolonie und ‚Mutterland’ als mehr oder minder geschlossene Bezugsgröße) – allein nicht sinnvoll beschreiben und analysieren lassen. Diese Prozesse der Wissenszirkulation sind hingegen gekennzeichnet durch die hohe Mobilität und intellektuelle Flexibilität der beteiligten Akteure; durch regionale Interaktionsräume; sowie durch globale und asymmetrische Strukturen, welche die Bilateralität von „Sender“ und „Empfänger“ transzendieren.

(2) Die Geschichte der Globalisierung ist erst seit wenigen Jahren zu einem wichtigen Gegenstand historischer Forschung geworden. Diese Perspektive unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von älteren Beiträgen zur Weltgeschichte, die häufig eurozentrische Fragestellungen verfolgten und voneinander getrennte ‚Zivilisationen’ miteinander verglichen (Osterhammel 2001; Osterhammel 2005). Die jüngere Globalisierungsforschung hingegen interessiert sich vor allem für grenzüberschreitende Verflechtungen und die Zunahmen globaler Interaktionen, aber auch für gegenläufige Prozesse und Widerstände (Hopkins 2002; Mazlish/ Buultjens 1993; Bender 2002; Conrad/ Osterhammel 2004).

Bislang liegen vor allem programmatische Entwürfe (Mazlish/ Iriye 2005), aber nur wenige Überblicksdarstellungen und Gesamtdeutungen der Globalisierungsgeschichte vor (zu den wenigen Ausnahmen zählt Osterhammel/ Petersson 2003). Stattdessen sind vor allem Teilgebiete des Globalisierungsprozesses behandelt worden. Für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert weist die Forschungsliteratur bislang drei Schwerpunkte auf: a) Zum einen gibt es zahlreiche Studien zur ökonomischen Verflechtung der Welt und zur Herausbildung eines Weltmarktes seit etwa 1850. Vor allem Kevin O’Rourke und Jeffrey Williamson haben viel dazu beigetragen, die Verflechtung von Arbeitsmärkten, die Anpassung von Preis- und Lohnstrukturen und die Ströme transnationaler Finanzmärkte historisch zu rekonstruieren (Williamson 1995; O'Rourke/ Williamson 1999; Williamson 1996; Aghion/ Williamson 1998). Neben diesen stark quantitativ orientierten Arbeiten liegen inzwischen Studien vor, die auch die gesellschaftliche und politische Einbettung wirtschaftlicher Transaktionen stärker berücksichtigen (Fischer 1998; Torp 2005). Daneben b) hat vor allem das Feld der Migrationsgeschichte eine weitere Konjunktur erfahren. Während lange Zeit Migration vor allem im transatlantischen Raum wahrgenommen wurde, sind in den letzten Jahren zunehmend globale Wanderungsströme in den Blick genommen worden: Chinesische Migration, koloniale Mobilität, unfreie Arbeit und die Debatte über ‚neue Sklaverei’ haben das Feld der Migrationsgeschichte zu einem Schwerpunkt der Globalisierungsforschung gemacht (vgl. vor allem (McKeown 1999; McKeown 2004; Wang 1997; Hoerder 2002; Northrup 1995). Schließlich hat auch c) im Feld der internationalen Beziehungen das Interesse für Globalisierungsprozesse zugenommen (Gienow-Hecht/ Schumacher 2003; Conze 2004; Loth/ Osterhammel 2000; Iriye 1997; Lehmkuhl 2001). Zu den privilegierten Themen gehören die Entstehung internationaler Verbände und Organisationen und die Debatte über ein Regime des „Internationalismus“ um 1900 (Geyer/Paulmann 2001). Aber auch die Debatten über die Formierung einer globalen Ordnung, etwa am Beispiel des Völkerbundes, hat in den letzten Jahren erneut Beachtung gefunden (Steigerwald 1999; Manela 2001; Conrad/ Sachsenmaier 2007).

Es ist deutlich, dass die Geschichte der Globalisierung zu einem der interessantesten Forschungsfelder geworden ist. Allerdings liegt der Schwerpunkt der meisten Untersuchungen auf dem Feld der Wirtschafts-, Migrations- und Politikgeschichte. Die kulturgeschichtliche Dimension der globalen Verflechtung ist bislang kaum im Zusammenhang untersucht worden – mit wenigen Ausnahmen, wie beispielsweise in C.A. Baylys Werk zur Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts (Bayly 2004). Hier besteht somit ein dringendes Desiderat. Überdies sind bislang viele Untersuchungen ganz makrohistorisch ausgerichtet und stellen die Akteure der Globalisierung nur selten in den Vordergrund. Schließlich ist der vorherrschende Blick auf die Geschichte der Globalisierung häufig noch ein westlicher; außereuropäische Standpunkte kommen meist nur am Rande vor.

(3) Der Begriff der multiple modernities gehört zu den einflussreichsten Stichworten in den Kulturwissenschaften in den letzten Jahren. Anders als der Kern der Globalisierungsliteratur legt das Konzept den explanatorischen Schwerpunkt auf kulturelle Faktoren. Im Anschluss an den funktionalistischen Ansatz des amerikanischen Soziologen Talcott Parsons hat Shmuel N. Eisenstadt eine regional übergreifende Analyse der Muster sozialer Ordnung und Integration entworfen, ohne dabei jedoch den Prozess der Modernisierung mit ,Verwestlichung’ gleichzusetzen (Eisenstadt 1986). Seine neueren Versuche, den Eurozentrismus herkömmlicher Globalisierungsdiskussionen zu überwinden, zielen auf eine Pluralisierung der Entwicklungslinien der Moderne. Multiple Modernities impliziert eine Kritik an der Vorstellung, dass das kulturelle Programm der Moderne, wie es in Europa entwickelt wurde, auch in anderen modernisierenden Gesellschaften Bestand haben würde. Stattdessen betont Eisenstadt die Vielfalt der kulturellen Muster der Moderne (selbst innerhalb der westlichen Moderne, wie die Kristallisierung einer neuen Zivilisation in Amerika beweist) (Eisenstadt 2001).

Der Begriff ist weit rezipiert und insgesamt weitgehend zustimmend aufgenommen worden. Allerdings liegen bislang kaum Untersuchungen vor, die das Konzept systematisch verwenden oder auf seine Reichweite überprüfen; die Literatur ist bislang ganz programmatisch geblieben (Multiple Modernities 2000; Sachsenmaier et al. 2002). Zugleich ist mittlerweile auch substantielle Kritik an dem Konzept formuliert worden. Beschreibt multiple modernities etwas anderes als kulturelle Varianten eines im Kern doch gleichgerichteten Modernisierungspfades (Schmidt 2004)? Wo liegt der analytische Kern des Anspruchs auf Alternativen zur westlichen Erfahrung der Moderne? Ist die Vorstellung von Moderne, die dem Eisenstadtschen Begriff zugrunde liegt, überhaupt noch analytisch griffig (Cooper 2005)? Um die Plausibilität und Erklärungskraft dieses Konzepts zu überprüfen, ist es notwendig, das Phänomen bis in das späte 19. Jahrhundert zurück zu verfolgen. Welche Formen der kulturellen Aneignung, der kulturellen Verflechtung spielten hier eine Rolle? Inwiefern waren sie Ausgangspunkt für Vorstellungen einer kulturellen Pluralisierung von Modernisierungsprozessen? Welche Rolle spielte, umgekehrt, das Modell der westlichen Modernisierung für Reformbewegungen in der außereuropäischen Welt? Gab es Ansätze, alternative Universalismen zu formulieren, die sich auf andere kulturelle Grundlagen stützten? Eine solche Perspektive könnte den Begriff der multiple modernities selbst historisieren. Wer erhob um 1900 den Anspruch auf kulturelle Pluralisierung – und wer erhebt ihn, unter Hinweis auf langfristige historische Kontinuitäten, in der Gegenwart (Dirlik 2006)?

(4) Die Formierung transnationaler Öffentlichkeiten gehörte zu den grundlegenden Entwicklungen, die die globale Vernetzung um 1900 begleiteten und in mancher Hinsicht erst ermöglichten. Der grenzüberschreitende Fluss von Nachrichten und Informationen erlaubte es sozialen Akteuren, auf weit entfernte Ereignisse und Vorbilder Bezug zu nehmen und auf diese Weise lokale und nationale Anliegen mit übergreifenden Prozessen zu verbinden. Die Forderung nach alternativen Modernisierungsverläufen war schließlich erst denkbar vor dem Hintergrund guter Kenntnisse der gesellschaftlichen und kulturellen Dynamik in anderen Gesellschaften.

Der technologische Wandel im 19. Jahrhundert gehörte zu den Voraussetzungen der öffentlichen Kommunikation und der räumlichen und personellen Erweiterung ihrer Reichweite. Er ermöglichte die Entstehung überregionaler und nationaler Öffentlichkeiten. Vor allem die Herausbildung einer modernen Presselandschaft ist in unterschiedlichen Kontexten mittlerweile recht gut untersucht (vgl. Untersuchungen für Europa [Requate, 2002]; Japan [Huffman 1997]; China [Judge 1996; Vittinghoff 2002]; Lateinamerika [Sacristán/ Piccato 2005; Rinke 2002]). Wenige Arbeiten gibt es hingegen zu der Frage, in welchem Maße die moderne Presseöffentlichkeit auf früheren Formen kollektiver Kommunikation aufsetzte (Bayly 1996). Es wäre weiter zu untersuchen, welche Rolle Formen vormoderner Öffentlichkeit weiterhin spielten, die nicht an Grenzen der Religion, Kaste oder Sekte gebunden waren.

Die allmähliche Vernetzung dieser Öffentlichkeiten wurde durch die Verbesserung der Transportwege und den Telegraphen erleichtert. Sie war jedoch auch das Produkt sozialer Akteure, die Foren des Austausches institutionalisierten. Dazu gehörten beispielsweise die internationalen Vereinigungen und Organisationen – von den wissenschaftlichen Kongressen und Weltausstellungen bis hin zu den ersten Nichtregierungsorganisationen (Greenhalgh 1988; Boli/ Thomas 1999). Aber auch die transnationale Vernetzung politischer Bewegungen – man denke an den Liberalismus, an die Anarchisten und Sozialisten sowie die Pan-Bewegungen – schuf die sozialen Bedingungen für die Vernetzung von Öffentlichkeiten (Osterhammel 2004; Esenbel 2004; Aydin 2007; Duara 2001).

Inwiefern auf dieser Grundlage Formen eines globalen Bewusstseins entstanden – oder eines Bewusstseins von globalen Zusammenhängen – gehört zu den vielversprechenden Aufgaben zukünftiger Forschung. Neben der allgemeinen Transformation von Raum- und Zeitvorstellungen (Kern 1983; Schlögel 2003) haben hier auch transnationale Medienereignisse eine Rolle gespielt, die in unterschiedlichen Kontexten rezipiert und auf verschiedene Weise angeeignet wurden. Dazu gehörten beispielsweise die Weltausstellungen, die jedoch in erster Linie an ein westliches Publikum gerichtet waren; auch die Nachwirkungen des Börsenkrachs in Wien 1873 waren vor allem im „Westen“ spürbar, aber auch beispielsweise in Lateinamerika, das von europäischem Kapital abhängig war (Marichal 1982). Andere Ereignisse wurden hingegen beinahe weltweit verfolgt und (mit charakteristischen Unterschieden) gedeutet. Dazu gehörte beispielsweise der russisch-japanische Krieg, der auch in Südostasien oder der arabischen Welt als Fanal verstanden wurde, dass die Zeit der westlichen Vorherrschaft sich ihrem Ende entgegenneigte (Aydin 2007).

4. Literatur

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