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Selbstverständnis der Iranistik

"Iranische Philologie" und "Iranistik", eine auf Originaltexten basierende Kulturwissenschaft

Nach internationalem Verständnis befaßt sich die Iranistik mit den Sprachen und Schriftzeugnissen, der Geschichte und Gesellschaft sowie der geistigen und materiellen Kultur iranischsprachiger Völker von der Antike bis zur Gegenwart. Sie versteht sich sowohl als philologisch-sprachwissenschaftliches Fach mit dem Ziel der Erforschung der über zwanzig alt-, mittel- und neuiranischen Sprachen als auch als historische sowie sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Geschichte, den sozialen Ordnungen, Religionen und Literaturen der Iraner von den Anfängen schriftlicher Zeugnisse an bis zur Gegenwart beschäftigt.

Der Untersuchungsgegenstand der Iranistik ist keineswegs geographisch auf den Raum des heutigen Iran beschränkt (sie ist keine Regionalwissenschaft!), sondern erstreckt sich auf alle Gebiete, die historisch unter iranischem Einfluß standen, in denen iranische Sprachen gesprochen und geschrieben werden und Schriftzeugnisse gefunden wurden. Dieses Einflußgebiet erstreckt sich in der Antike und im Mittelalter von Chinesisch-Turkestan im Osten bis einschließlich Ägypten im Westen. Heute umfaßt es außer Iran Afghanistan, Uzbekistan, Tadschikistan, Teile des Irak und der Türkei (Kurdistan). Der zeitliche Rahmen der Iranistik umfaßt ca. 3000 Jahre, die gewöhnlich in zwei große Arbeitsgebiete, Iran in vorislamischer Zeit (bis zum 7.Jh. n.Chr.) und Iran in islamischer Zeit, einschließlich der Moderne, geteilt werden. Ein besonderes Anliegen des hiesigen Faches besteht darin, den künstlichen Bruch, der durch die Trennung dieser beiden großen Arbeitsgebiete durch die Erforschung von Teilbereichen in unterschiedlichen Disziplinen (wie z.B. in der Indogermanistik und der Islamwissenschaft) entsteht, zu überwinden, um der Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Geschichte und Kultur Irans besser nachgehen zu können. Viele Spezifika des islamisierten Iran bis einschließlich der Moderne lassen sich nur aus der Kenntnis der Entwicklung seit vorislamischer Zeit erklären, wodurch die Iranistik auch zur Analyse der besonderen "iranischen" Variante des Islam einen wichtigen Beitrag leisten kann.

Die Grundlage der aus der "Iranischen Philologie" hervorgegangenen "Iranistik" ist nach wie vor die Arbeit mit den Selbstzeugnissen der Iraner, mit den in iranischen Sprachen verfaßten Quellen. Obgleich religions- und sozialgeschichtliche sowie literarische Fragestellungen in der Iranistik in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung zugenommen haben und auch in der Außendarstellung des Faches eine zentrale Rolle spielen, bleibt der wichtigste Zugang zu allen diesen Bereichen die Arbeit an Texten, die zuerst linguistisch erschlossen werden müssen. Auf die Primärmethode der Philologie und die damit in Zusammenhang stehenden grammatischen und lexikalischen Arbeiten kann angesichts der noch zahlreichen unbearbeiteten oder in veralteten Editionen vorliegenden Quellen und noch immer fehlenden Hilfsmittel (Grammatiken, Wörterbücher) auch heute keineswegs verzichtet werden. Die hier in den letzten Jahrzehnten geleistete Arbeit hat es jedoch ermöglicht, daß sich aus einem ursprünglich vorwiegend philologisch orientierten Fach eine kulturhistorisch arbeitende Iranistik entwickeln konnte, die sich bemüht, auch die Methoden und Erkenntnisse anderer Fachdisziplinen anzuwenden. Dies gilt im besonderen Maße für Methoden aus den Religions-, Sozial-, Rechts- und Literaturwissenschaften sowie für die im Rahmen ethnologischer Studien und der "Gender Studies" entwickelten theoretischen Modelle, die am iranischen Beispiel auch auf ihre generelle Anwendbarkeit hin überprüft werden können. Für Arbeiten im Bereich des modernen Iran ist die Anwendung dieser methodischen Ansätze ohnehin eine Selbstverständlichkeit geworden.

Weiter zur Geschichte der Iranistik an der FU Berlin