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Nora Bischoff

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ʺMein sehnen war ganz for andersʺ – Konstruktion und Praktiken von Wanderschaft als alternativem Lebensentwurf im 20. Jahrhundert

Adresse
Koserstr. 20
14195 Berlin

Dissertationsprojekt

ʺMein sehnen war ganz for andersʺ – Konstruktion und Praktiken von Wanderschaft als alternativem Lebensentwurf im 20. Jahrhundert

Aufgrund seiner scheinbaren Freiheit und Unabhängigkeit avancierte der „Vagabund“ einerseits zu einer Heldenfigur der Moderne, indem er als Gegenbild zur kapitalistischen Bürgergesellschaft massenkulturell in Anschlag gebracht werden konnte. Andererseits formierte sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein spezifisches Netz der Einhegung von „Wanderern“ durch polizeiliche, fürsorgerische und psychiatrische Diskurse und Maßnahmen. Gerade in dieser Zeit erfuhr die „Vagabundage“ als eine Form migratorischer Lebensweise eine Aktualisierung unter den Bedingungen der europäischen Moderne. Anhand von Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten wird danach gefragt, wie im Spannungsfeld gegensätzlicher Fremdzuschreibungen, zunehmend medikal angeleiteter ordnungspolitischer und fürsorgerischer Interventionen, problematischer sozialer Lebenslagen und (vermeintlicher oder tatsächlicher) Herrschaftsflucht die sinnhafte Konstruktion von „Wanderschaft“ als Lebensmodell durch die Personen der „Wanderer“ selbst stattfand. Durch eine sowohl narratologisch als auch praxeologisch orientierte Auswertung soll eine Geschichte der „Vagabunden“ geschrieben werden, die über eine Geschichte der Projektionen von „Vagabundage“ hinausgeht und die „Wanderer“ als handelnde Subjekte sichtbar macht: Wie erschlossen sich „Wanderer“ ihre Räume sowohl durch Narrative als auch durch Praktiken? Welche Effekte von Transtextualität bzw. Wissenstransfer zwischen den verschiedenen Medien und Formaten (wie z.B. Akten, wissenschaftliche Fachliteratur, Zeitungsartikel und Reportagen, Belletristik, Fotografie und Film) und den Erzählungen der „Wanderer“ lassen sich ausmachen? Forschungshypothese ist, dass sich die auto/biographischen Darstellungen aus mehreren, einander überlagernden diskursiven Strängen – wie zum Beispiel dem Motiv der Abenteuerlust, der handwerklichen Tradition des Gesellenwanderns, dem durch erhöhte Mobilität und moderne Technik ermöglichten Tourismus, dem strategischen Ausweichen vor fürsorgerischer oder polizeilicher Intervention, der Übernahme fremder Expertisen in die eigene Identitätskonstruktion – speisen, die in ihrer je spezifischen Aneignung Ausdruck der Handlungsmächtigkeit und Subjektbildung sind. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Ausblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts soll die lange Wirkmächtigkeit des um 1900 entstandenen Diskurskomplexes aufzeigen.


Nora Bischoff, geboren 1982 in Leipzig, studierte von 2002 bis 2010 Mittlere und Neuere Geschichte, Politikwissenschaften und Soziologie an den Universitäten Leipzig und Glasgow. Von 2007 bis 2011 koordinierte sie das von Leipziger Studierenden umgesetzte Projekt Werkstatt Alltagsgeschichte, das mit der Publikation „Du Mörder meiner Jugend. Edition von Aufsätzen männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik“ abgeschlossen wurde. Nach dem Magisterstudium war sie von 2010 bis 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel im Forschungsprojekt „Geschichte der Stadt Kassel in der Moderne“ sowie von 2013 bis 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Innsbruck im Forschungsprojekt „Regime der Fürsorge. Geschichte der Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg (1945-1990)“. Seit 2011 ist sie zudem als freischaffende Gruppenbegleiterin im Museum und als Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin bzw. der Universität Innsbruck tätig gewesen. Ihr Dissertationsprojekt wird seit 2015 durch die Johannes-Rau-Gesellschaft e.V. gefördert.


Nora Bischoff (born 1982) studied History, Political Sciences and Sociology at the Universities of Leipzig and Glasgow from 2002 to 2010. Thereafter, she was a research staff member at the University of Kassel (2010-2011: History of Kassel in the Modern Age) and at the University of Innsbruck (2013-2015: Regime of Care. The history of residential correctional education in Tirol and Vorarlberg 1945-1990). She has been coordinating the project Werkstatt Alltagsgeschichte, that was finished in 2011 with a scholarly edition of juvenile essays from the period of the Weimar Republic. Since 2011, she has been working as a museum guide and has taken over teaching assignments at Freie Universität Berlin and Universität Innsbruck. From 2015 the Johannes-Rau-Gesellschaft e.V. supports her doctoral thesis with a PhD-grant.


Herausgeberschaft

  • Werkstatt Alltagsgeschichte (Hg.): „Du Mörder meiner Jugend“ – Edition von Aufsätzen männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik, Münster: Waxmann-Verlag, 2011.
  • Edition der „Erinnerungen“ von Friedrich Gotthilf von Keußler (1856-1924) (Online-Publikation der Baltischen Historischen Kommission) (Erscheinen für 2016 in Vorbereitung).

Aufsätze

  • Über den heuristischen Wert der Konzepte ‚Selbstzeugnis’ und ‚Ego-Dokument’ am Beispiel schlesischer Selbstzeugnisse 1550-1650, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 17/2009, S. 87-117.
  • „Mit Reförmchen ist hier nichts getan!“ - Jugend und Kino im Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Kenkmann, Alfons / Schmieding, Leonard (Hg.): Kanu, Kohte, Kino und Kassette. Jugend zwischen Wilhelm II. und Wiedervereinigung. Leipzig 2012, S. 33-58.
  • Die Modernisierung der Provinz – die Stadt Kassel zwischen Varieté und Tonfilmtheater, in: Flemming, Jens / Krause-Vilmar, Dietfrid (Hg.): Kassel in der Moderne. Zum Historischen Gedächtnis der Stadt, Marburg 2013, S. 648-677.
  • In Verteidigung der (Geschlechter)Ordnung. Arbeit und Ausbildung im Rahmen der Fürsorgeerziehung von Mädchen. Das Landeserziehungsheim St. Martin in Schwaz 1945–1990, in: ÖZG Jg. 25/2014/1+2, S. 220-247. (gemeinsam mit Flavia Guerrini und Christine Jost).
  • Das System der Fürsorgeerziehung. Zur Genese, Transformation und Praxis der Landeserziehungsheime in Tirol und Vorarlberg, Innsbruck, 2015. (gemeinsam mit Michaela Ralser, Flavia Guerrini, Christine Jost, Ulrich Leitner und Martina Reiterer, Forschungsbericht) Online-Publikation http://www.uibk.ac.at/iezw/heimgeschichteforschung/
  • Edition der „Erinnerungen“ von Friedrich Gotthilf von Keußler (1856-1924) (Online-Publikation der Baltischen Historischen Kommission) (Erscheinen für 2016 in Vorbereitung).
  • Flucht aus dem Heim: Das 'enfant vagabond' im Raum der Erziehungsanstalt zwischen Nichtsesshaftigkeits- und Verwahrlosungsdispositiv (1950er bis 1980er), in: Leitner, Ulrich (Hg.): Corpus intra Muros. Eine Kulturgeschichte räumlich gebildeter Körper (Erscheinen für 2017 in Vorbereitung).
  • „Da sehen Sie schon, daß es mit der Großen Freiheit nicht weit her ist“ Das Berliner Landerziehungsheim Struveshof in den 1920er Jahren aus der Perspektive der Zöglinge, in: LISUM (Hg.): Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Struveshofs (gemeinsam mit Martin Lücke; Erscheinen für 2016 in Vorbereitung).

Referate

  • Arbeitsgruppenvortrag zum Thema „Narrative Sinnbildung und Männlichkeit in Lebensläufen und Erfahrungsberichten männlicher Fürsorgezöglinge in der Weimarer Republik“ (Konzeption gemeinsam mit Martin Lücke) auf der Jahrestagung der Sektion Biographieforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Flensburg 2008.
  • Vortrag im Rahmen des Studienkurses des Deutschen Historischen Instituts in Rom zum Thema „Die jüdische Gemeinde von Rom 1870 bis 1945. Kontroversen in der aktuellen Forschung zur Geschichte Italiens im 19./20. Jahrhundert.“, September 2009, Rom.
  • Präsentation zum Thema „Erinnerungskulturelle Kommunikationsräume am Beispiel der Heimgeschichte/-forschung in Tirol und Vorarlberg“ im Rahmen des Forschungsforums „Heimkindheiten in Österreich: Fragen an eine Geschichte der Fürsorgeerziehungsregime nach 1945. Überlegungen zur Neubewertung von (öffentlicher) Erziehung und Gewalt“ auf dem DGfE-Kongress „Traditionen und Zukünfte“, März 2014, Berlin.
  • Projektpräsentation: „Diese Thatsache hat mich [...] zu dem Ergebnis geführt, daß ich einer 'neuen Zeit' angehörte“. Die „Erinnerungen“ des Historikers und Lehrers Friedrich Gotthilf von Keußler (1856-1924) im Rahmen des 67. Baltischen Historikertreffens, Juni 2014, Göttingen.
  • Vortrag zum Thema „'Ich war so Dumm und ging mit.' - Darstellungen von Fluchten aus Erziehungsheimen in Selbstzeugnissen von Fürsorgezöglingen“ im Rahmen des Symposiums „Corpus Intra Muros. Eine Geschichte räumlich gebildeter Körper“, Juli 2014, Bruneck.
  • Vortrag zum Thema „Negotiating masculinities in care homes: correctional education in Kleinvolderberg (Tirol/Austria)“ im Rahmen des internationalen Panels „Impact of Shifting Cultural Representations of the Child on Foster-Homes Educational Methods and Practices (1950-1980)“ bei der 37. International Standing Conference for the History of Education „Culture and Education“, Juli 2015, Istanbul.
  • Vortrag zum Thema „'...bekomm ich ein Trieb der mich veranlasst abzuhauen.' – Affirmative, widerständige und subversive Handlungsstrategien in Selbstzeugnissen von Fürsorgezöglingen in der Zweiten Republik“ im Rahmen des Panels „Bedrohliche Unstetigkeit? – Über die Fixierung unerwünschter Bewegungen im Spannungsfeld von Bevölkerungsdiskurs und individueller Aneignung“ beim Österreichischen Zeitgeschichtetag „Konstruktive Unruhe“, Juni 2016, Graz.
queerhistory@fu-berlin
Arbeitskreis Geschichtsdidaktik theoretisch
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