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Band 40: Umgestaltung der Justiz im deutschen Vereinigungsprozess (2015)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee

Titel
Band 40: Umgestaltung der Justiz im deutschen Vereinigungsprozess
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee
Mitwirkende
Alexander Pfennig / Arne Bartzsch, Jean Yhee, Daniel Schumacher, Dung Vu Tien, Hanan El-Asmer, Katharina Müller, Hoon Jung
Art
Text

Umgestaltung der Justiz im deutschen Vereinigungsprozess

 

 

Alexander Pfennig

in Zusammenarbeit mit Arne Bartzsch, Jean Yhee, Daniel Schumacher,

Dung Vu Tien, Hanan El-Asmer und Katharina Müller

 

 

 

Für diesen Band, der die Umgestaltung der Justiz als Teil des deutschen Vereinigungspro-zesses als Thema hat, wurde die Zusammenarbeit zwischen Ost und West als Schwerpunkt gewählt. Als Beispiel dient die Hilfe beim Auf- und Umbau des Justizwesens, die Ost-deutschland durch das westdeutsche Bundesland Nordrhein-Westfalen zuteil wurde – das bevölkerungsreichste Bundesland, auf dessen Gebiet Bonn, damals Sitz der Bundesregierung und provisorische Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, liegt (Dokumente Nr. 11, 12, 14-17, 19 und 22). Zur Verdeutlichung der Schwierigkeiten dieses Unterfangens soll in der Einleitung zunächst das Wesen des Rechtssystems der DDR kurz beschrieben werden. Im zweiten Teil der Einleitung soll aufgezeigt werden, wie das Rechtssystem der Bundesrepublik auf die Menschen in Ostdeutschland mitunter wirkte. Hierfür werden Beschreibungen wieder-gegeben, die meist der Mitte der 1990er Jahre zuzuordnen sind – also ein halbes Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung. Einige Dokumente dieser Sammlung hingegen geben Beobach-tungen von Praktikern aus Politik und Justiz mit etwas größerem zeitlichem Abstand, 20 bzw. 25 Jahre nach der Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands, wieder (Dokumente Nr. 9 und 10).

 

 

Ausgangslage in der DDR

 

In der DDR galt die folgende Definition des sozialistischen Rechts: „Das sozialistische Recht ist das System allgemeinverbindlicher Normen, die den letztlich von den Produktionsverhält-nissen bestimmten staatlichen Willen der Arbeiterklasse und der von ihr geführten Werk-tätigen ausdrücken, vom Staat festgelegt oder sanktioniert und garantiert werden – wenn nötig auch mit staatlichem Zwang – und als Instrument (Regulator) die Entwicklung der gesell-schaftlichen Verhältnisse mit dem Ziel der Errichtung des Sozialismus und Kommunismus fördern und schützen.“[1]

 

Es ähnelt der sowjetischen Definition: „Das sozialistische Recht ist der staatliche Wille, der die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen (des ganzen Volkes) ausdrückt und durch die materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft bestimmt wird, dieser Wille wird vom Staat im System der Normen (Verhaltensregeln) objektiviert, die auf die Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit dem Aufbau des Sozialismus und Kommunismus gerichtet sind, durch das System der organisatorischen und ideologischen Mittel gewährleistet und durch staatlichen Zwang geschützt werden.“[2]

Der Aufbau der sozialistischen Rechtspflege in der DDR habe den „entschiedenen Bruch mit den überkommenen Institutionen und Praktiken der bürgerlichen bzw. imperialistischen Justiz“ verlangt. „Nicht der Glaube an ein über dem Staat stehendes, zeitloses, klassen-neutrales Recht, sondern die Erkenntnis, daß das sozialistische Recht ein Instrument zur Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus ist, befähigt die Werktätigen, auch mittels der Rechtspflege ihre Interessen und damit die Gerech-tigkeit der Menschlichkeit zu verwirklichen. (…) Die in den meisten bürgerlichen Verfas-sungen fixierte ‚Teilung der Gewalten‘ in Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung als angeblich eigenständige, weitgehend voneinander unabhängig, sich wechselseitig kontrollie-rende und ausbalancierende Träger der Staatsmacht ist mit dem sozialistischen Staatsmecha-nismus unvereinbar. Die Machtvollkommenheit der Volksvertretung darf durch keine anderen Staatsorgane eingeengt werden, weil über die Volksvertretungen die Souveränität des Volkes verwirklicht wird.“[3]

 

Die Rechtspflege in der DDR diente an erster Stelle der Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit, zweitens dem Schutz und der Entwicklung der Staats- und Gesellschafts-ordnung der DDR, und schließlich hat sie „die Freiheit, das freiheitliche Leben, die Rechte und Würde der Menschen“ (Artikel 90 der Verfassung der DDR) zu schützen. Die von der Verfassung gewählte Reihenfolge ist nicht zufällig; in ihr kommt der Vorrang der Kollektiv-interessen zum Ausdruck. Als teils eigenständige, teils vorgelagerte Instanz wird Recht-sprechung in der DDR auch von gesellschaftlichen Gerichten ausgeübt. Sie sind ausschließ-lich mit juristischen Laien der jeweiligen Wohn- bzw. Produktionseinheit (Schieds- bzw. Konfliktkommission) besetzt, die neben- und ehrenamtlich tätig werden. Mit dem infor-melleren Verfahren und den erzieherisch akzentuierten Sanktionsmöglichkeiten soll bei den Betroffenen vor allem eine Bewusstseins- und Verhaltensänderung bewirkt werden. Weniger geht es um die Bestrafung vorangegangenen Unrechts.[4]

 

 

Problem der Komplexität der Rechtsordnung der Bundesrepublik

 

Vier Jahre nach der Wiedervereinigung stellte der sächsische Justizminister, Steffen Heitmann (1990–2000), fest: „(…) die Menschen in unserem Lande [finden] angesichts der Regelungs-dichte und der Kompliziertheit der Rechtsordnung einfach keine Antwort (…) auf einfache Fragen des Alltags. Sie fühlen sich von der Rechtsordnung überfordert, kapitulieren vor dem ihnen undurchschaubar erscheinenden Rechtsgewirr. Die daraus entstehende innere Distanz zu dem so glücklich wiedergewonnenen Rechtsstaat fördert die Staatsverdrossenheit und gefährdet damit den Staat selbst. Der im überzogenen Gerechtigkeitsstreben für jeden einzelnen alles regelnde Rechtsstaat schafft Ungerechtigkeiten auch dadurch, daß nicht wenige aus Unkenntnis oder Überforderung auf die Wahrnehmung ihrer Rechte verzichten, verzichten müssen. Dieser Zustand wird ja auch im Westen Deutschlands seit langem beklagt. Nur ist er dort nicht so deutlich spürbar wie bei uns. Man hat dort im Laufe der Jahrzehnte Routine und auch einen gewissen Fatalismus entwickelt gegenüber den Verhältnissen. In den neuen Ländern haben der Einigungsvertrag und die ihm nachfolgende Gesetzgebung, die Lücken schließen und Unstimmigkeiten beseitigen sollte, noch zu einer weiteren Verkom-plizierung geführt. Übergangsbestimmungen, Sonderregelungen, Spezialgesetze haben dem Recht der neuen Länder den zweifelhaften Ruf eingebracht, noch komplizierter, noch unverständlicher zu sein, als es das Recht der Bundesrepublik ohnehin schon war.“[5]

 

Gerhard Lüke gab zu bedenken: „Wenn die Menschen das Recht nicht mehr verstehen, was z.B. für Teile des Familienrechts zutreffen dürfte, wird die Gefahr heraufbeschworen, daß der Rechtsstaat zu einem abstrakten Gebilde, zu einer dem Staatsvolk gleichsam übergestülpten Glocke wird. Große Sorgen bereitet der Befund, daß der Rechtsstaat bisher nicht nur nicht in den Herzen der Menschen im Osten angekommen ist, um eine Formulierung von Steffen Heitmann aufzugreifen, sondern daß er – anders als in den Jahren nach 1949 – überhaupt nicht mehr in den Herzen der Menschen ist, folglich auch nicht mehr aus ihren Herzen kommt.“[6]

 

Rolf Stober sieht rechtsstaatliche Übersteuerung als Gefahr und den Rechtsstaat in der Recht-setzungsfalle. Als Anzeichen für eine gesetzliche Übersteuerung nennt er vier Aspekte: quantitativ, qualitativ (zu detailliert und zu kompliziert), zeitlich (Schnelligkeit und Häufigkeit von Gesetzesänderungen) und räumlich. Der letzte Punkt verdient hier eine genauere Betrachtung. Es wird kritisiert, die weitgehende Rechtsangleichung und Ersetzung des DDR-Rechts habe manche rechtliche Entwicklung abgeschnitten und Wege selbst-bewusster Gestaltung der neuen Verhältnisse ausgeschlossen. Insbesondere die Plötzlichkeit und Schnelligkeit des Übernahmevorgangs wird miniert.[7]

 

Über Nacht trat, von Ausnahmen abgesehen, am 03.10.1990 um 0.00 Uhr eine neue Rechts-ordnung in Kraft. Hatte der Bürger des Deutschen Reichs noch vom 18.08.1896, dem Zeit-punkt der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, bis zum 01.01.1900, dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens, Gelegenheit, sich mit dessen 2.385 Paragraphen zu beschäftigen, so sollten die ostdeutschen Bundesbürger eine Vielzahl von Paragraphen in viel kürzerer Zeit verinnerlichen. Vor ihnen hatten die Abgeordneten der Volkskammer der DDR und des Deutschen Bundestages dem Einigungsvertrag mit seinen Anlagen nach einer Prüfung von wenigen Tagen zugestimmt.[8]


[1] Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokra-tischen Republik (Hrsg.). 1975. Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Berlin. S. 356. Diese und die folgende Fußnote zitiert nach Lohmann, Ulrich. Zur Staats- und Rechtsordnung der DDR. Juristische und sozialwissenschaftliche Beiträge 1977-1996. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 31.

[2] Institut gosudarstva i prava AN SSSR. Marksistko-leninsjaka obschaja teorija gosurdarstva i prava (Marxistisch-leninistische allgemeine Theorie des Staates und des Rechts). Berlin: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik. Band IV, S. 19.

[3] Minister für Hoch- und Fachschulwesen der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.). 1986. Grundlagen der Rechtspflege. Lehrbuch. Berlin: Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik. S. 16–17, 24.

[4] Lohmann, Ulrich. Zur Staats- und Rechtsordnung der DDR. Juristische und sozialwissenschaftliche Beiträge 1977-1996. Wiesbaden: Springer Fachmedien. S. 60 f.

[5] Zitiert nach Stern Klaus (Hrsg.). 1995. Vier Jahre Deutsche Einheit. Verbesserung der gesetzlichen, administrativen und finanzstrukturellen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland. Fachsym-posium am 17. und 18. Oktober in Dresden, veranstaltet vom Institut für öffentliches Recht und Verwaltungs-lehre der Universität zu Köln und von der Fritz Thyssen Stiftung. Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, Band 58. München: Verlag Franz Vahlen. S. 7

[6] Lüke, Gerhard. 1995. Zur Krise des Rechtsstaats. Neue Juristische Wochenschrift. S. 175. Lüke war Professor für Prozessrecht, Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Universität des Saarlandes.

[7] Zitiert nach Stern, Klaus (Hrsg.). 1995. Vier Jahre Deutsche Einheit. Verbesserung der gesetzlichen, administrativen und finanzstrukturellen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland. Fachsym-posium am 17. und 18. Oktober in Dresden, veranstaltet vom Institut für öffentliches Recht und Verwaltungs-lehre der Universität zu Köln und von der Fritz Thyssen Stiftung. Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, Band 58. München: Verlag Franz Vahlen. S. 65–73. 1992 war Stober Gründungsprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Dresden.

[8] Wolff, Friedrich. 2005. Einigkeit und Recht. Die DDR und die deutsche Justiz. Politik und Justiz vom Schieß-befehl Friedrich Wilhelms IV. bis zum „Schießbefehl“ Erich Honeckers. Berlin: edition ost. S. 73

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