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Band 23: Wandlungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (2011)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig

Titel
Band 23: Wandlungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Mitwirkende
Arne Bartzsch, Alexander Pfennig / Florian Schiller, Hoon Jung
Schlagwörter
Partei, Politik, Vergangenheitsaufarbeitung


Wandlungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Von der Staatspartei der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Partei neben anderen in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.[1]

 

Werner Pfennig

In Zusammenarbeit mit Alexander Pfennig und Florian Schiller

 

 

Bei dem Zusammenbruch eines Regimes, ob durch Niederlage im Krieg, wie 1945 Deutsch-land und Japan, durch eine friedliche Revolution 1989/90 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und anderen Staaten Osteuropas, oder durch fehlgeschlagene Reformen, wie 1992 in der Sowjetunion, stellt sich immer auch die Frage: Was geschieht mit Repräsentanten des Regimes? Diese Frage besteht aus vielen Komponenten, so z. B.:

·         Wer ist wegen bestimmter Kompetenzen unverzichtbar; unverzichtbar für eine Übergangszeit, für einen längeren Zeitraum, oder auf Dauer?

·         Wer ist in welchem Maße (strafrechtlich, politisch, moralisch) belastet und soll nach welchen Kriterien überprüft, nach welchen Gesetzen angeklagt werden? Wer übernimmt die Überprüfung, die Anklage und Verurteilung?

·         Wem wird unter welchen Bedingungen Amnestie gewährt?

·         Wem wird Anpassungs- und ehrliche Wandlungsfähigkeit zugetraut, d. h. wie steht es um die individuelle und die kollektive Lernfähigkeit?

·         Welche Langzeitwirkung kann eine nur halbherzige oder gar versäumte Aufarbeitung haben?

·         Es geht nicht nur um Personen, sondern auch um Materialbestände (Archive, Karteien) von Institutionen (z. B. Staatspartei, Geheimdienst) des früheren Regimes, denn deren selektive Veröffentlichung kann in späteren politischen Auseinandersetzungen genutzt werden. (Diese beiden letzten Punkte sind auch in dem Band Nr. 24 thematisiert: „Politische Brisanz und Langzeitwirkung von Bemühungen um Vergangenheits-aufarbeitung“).

 

Bei Zusammenbrüchen von Regimen können Angehörige der Führungsspitze in einigen Fällen ins Ausland, ins Exil gehen. Aber mit Repräsentanten eines Regimes ist nicht nur die Führungsspitze gemeint, sondern auch die Funktionselite: also Tausende von Kadern, Beamten, Fachleuten und Technokraten.

 

Sollte es zu grundlegenden Veränderungen im Norden Koreas kommen, die eventuell eine Wiedervereinigung ermöglichen oder sie gar schnell notwendig machen, dann wird auch diese Frage eine große Rolle spielen, allein schon aus quantitativen Gründen, denn die Funktions-elite Nordkoreas und andere Kader dürfte vermutlich mehrere Millionen umfassen.

Eine Vielfalt von Entwicklungen ist denkbar, zumindest zwei haben einige Wahrscheinlich-keit für sich:

·         Bei einer weitgehenden Normalisierung der Beziehungen zwischen Süden und Norden geht es um Kooperation.

·         Bei einer Wiedervereinigung ähnlich der in Deutschland wird es um Kooptation, aber auch um rechtliche Sanktion gehen.

In beiden Fällen ist eine Zusammenarbeit von Eliten notwendig, bei einer Wieder-vereinigung eine Übernahme von Teilen der Elite in ein völlig anderes System. Angesichts bisheriger Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel wird dies in allen Fällen mit großen Schwierigkeiten verbunden sein. Es ist nicht nur ratsam, sondern unerlässlich, sich auf diese Problematik frühzeitig vorzubereiten.

 

 

1.  Das Überleben einer ehemaligen machtvollen Staatspartei, der SED

 

Namen und politische Praxis haben sich geändert, aber trotz aller Wandlungen erstrebt die Partei nach eigener Aussage eine sich an sozialistischen Prinzipien orientierende freie und gerechte Gesellschaft (zur Entwicklung der SED siehe auch die Einleitung in Band 5, Teil 1, „Strukturveränderungen“).

 

Zeitraum

Name

1946 bis 1989

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)

1989/1990

SED-Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS)

1990 bis 2005

Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

2005 bis 2007

Linkspartei.PDS

Seit Juni 2007

Die Linke

 

Formal war die DDR kein Einparteienstaat, aber die führende Rolle der SED in Staat und Gesellschaft war bis zum 1. Dezember 1989 in der Verfassung. Bis dahin war es nur schwer möglich, zwischen Partei, d. h. SED, und dem Staat, der DDR, zu unterscheiden. Der gefürchtete Kontroll- und Unterdrückungsapparat, das Ministerium für Staatsicherheit (MfS, bzw. Stasi), verstand sich als und war in der Tat „Schwert und Schild der Partei“. Ende 1989, Anfang 1990 war die SED weitgehend abgewirtschaftet und sich als reformunfähig erwiesen.

Die Partei verlor „ihren Staat“ und die meisten ihrer Mitglieder; sie musste sich reformieren und in einen neuen Staat, den sie früher bekämpft hatte, einfügen. Viele im Westen waren der Überzeugung, in einem System mit freien Wahlen würde diese Partei kaum überleben können. Dennoch überlebte sie, wandelte sich und spielt über 20 Jahre nach der deutschen Einigung eine politische Rolle. Vermutlich auch für beide Teile Koreas interessante Fragen sind deshalb:

·         Wie hat die SED überlebt und welchen eigenen Wandlungen sowie veränderten politischen, ökonomischen Rahmenbedingungen verdankt sie hauptsächlich dieses Überleben?

·         Wie ist es ihr gelungen, nicht nur zu überleben, sondern in einigen Bundesländern in Koalitionen Regierungsverantwortung zu übernehmen? (Letzteres ist wohl für viele Menschen in Südkorea eine abenteuerliche, wenn nicht gar absurde Vorstellung.)

2.  Alternative: Auflösung oder Anpassung

 

Eine erste Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass sich ab Ende 1989 in der DDR ein neues Parteiensystem zu etablieren begann. Für die SED war die Alternative klar: entweder auflösen oder anpassen. Ein Sonderparteitag entschied sich im Dezember 1989 gegen eine Auflösung und für eine Reorganisation; die Partei nannte sich nun SED-PDS, gab sich ein neues Statut und wählte eine neue Führung (vgl. hierzu die in diesem Band abgedruckten Referate und Reden des außerordentlichen Parteitags der SED am 8./9. und 16./17. Dezember 1989, Dokumente 1-7).

 

Das am 17. Dezember 1989 beschlossene Statut macht die Notwendigkeit eines Übergangs deutlich, aber auch die Bedeutung und Vorläufigkeit der Entscheidungen:

·         Die Partei versteht sich als marxistisch und sozialistisch; sie sieht ihre Hauptwurzeln „in der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sowie auch in sozialistischen, antifaschistischen, pazifistischen und internationalen linken Traditionen, besonders denen Lenins. Theoretische Grundlage der Partei ist der Marxismus.“

·         Hier ist wenig Anpassung bzw. Veränderung zu erkennen. Aber der Monopol-anspruch wird aufgegeben: „Die Partei wirkt im politischen System gleichberechtigt neben anderen.“

·         Ziele und Methoden haben sich verändert. Die Partei will um demokratische Mehr-heiten ringen und sich für einen neuen, menschlichen, demokratischen Sozialismus einsetzen und für den sozialistischen Rechtsstaat DDR wirken. „Die neue Partei sagt sich vom repressiven bürokratischen Zentralismus los, steht aber zu ihrer historischen Verantwortung vor dem Volk.“ (Dokument 8).

 

Vom Anspruch her war es also eine „neue Partei“, in der aber noch viel Altes steckte. Es gab zumindest die Absichtserklärung, sich der einen Vergangenheit zu stellen. Die Notwendigkeit für Veränderungen wurde gesehen, aber die Reformen sollten auch nicht den Tod der Partei bewirken. In einer Erklärung betonte der Parteivorstand die Schwierigkeit der damaligen Situation mit ihren schnellen Veränderungen: „Spätestens Anfang nächsten Jahres werden wir ein Parteiengesetz bekommen, das die rechtlichen Grundlagen für solche Fragen regelt. Wir werden dieses Gesetz abwarten“ (Dokument 8, S. 445). Zu den Fragen wurde auch die Namensgebung gezählt, zu der der Parteivorstand hervorhob, dass sie vorläufig sei und dass es sich nicht um einen neuen Namen, sondern um eine Ergänzung des alten handele. Die damaligen Vorgänge in der SED-PDS machten deutlich, dass die Notwendigkeit für Reformen durchaus gesehen wurde, diese Partei allerdings Mühe hatte, sich den schnellen Veränderungen in der DDR anzupassen und dass es ihr insgesamt schwer fiel, demokratische Spielregeln einzuüben sowie sie zu praktizieren.

 

Die Etablierung eines neuen Parteiensystems schien nicht nur notwendig, sondern durchaus sinnvoll, denn fast alle Akteure in Ost- und Westdeutschland gingen damals davon aus, dass für einige Zeit (vermutlich mindestens zwei Jahre), zwei deutsche Staaten bestehen würden. Bei einer Auflösung hätte es komplizierte Rechtsfragen bezüglich Eigentums, Besitz und Finanzen geben; auch aus diesem Aspekt schienen ein Fortbestehen und ein kontrollierter Wandlungsprozess ratsam.

 

Wie andere gesellschaftliche Kräfte auch, so wurde die SED-PDS von den Ereignissen ab November 1989 überrascht und sie konnte oft nur auf die sich zunehmend beschleunigende Entwicklung reagieren. Die Zeitumstände werden im „Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus“ vom 25. Februar 1990 als „eine Zeit ungeahnter Chancen und unkalkulierbarerer Risiken beschrieben. Eine Zeit des Umbruchs, der Neubestimmung von Werten und Wegen.“ (Dokument 9, S. 88) Die Idee des Sozialismus gilt noch immer als „eine der größten humanistischen Ideen der Menschheitsgeschichte.“

 

Dieser Text drängt die Vermutung auf: Das Prinzip war und ist richtig, nur die praktische Ausführung war falsch, denn in dem Programm steht, diese Idee wurde durch den administrativ-zentralistischen Sozialismus in den Schmutz gezogen. Während des Aufbruchs, aber auch der Verunsicherung im Jahre 1990 waren solche Formulierungen wohl für die Orientierung und das Selbstwertgefühl derer, die noch in der Partei verblieben, notwendig. Die Frage, ob eine Entwicklung hin zu einem administrativ-zentralistischen Sozialismus nicht systembedingt zwangsläufig sein könnte wurde nicht diskutiert.

 

Das Dokument macht auch die Vorstellung deutlich, dass für einen gewissen Zeitraum zwei deutsche Staaten existieren würden, die sich beide wandeln müssten. „In der DDR muß der Bruch mit dem administrativ-zentralistischen Sozialismus bis zu Ende geführt werden: zu einer tatsächlichen Demokratie der Bürger, zu einer neuen humanistischen Moral, zu einer Marktwirtschaft, die den sozialen und ökologischen Interessen der Bevölkerung verpflichtet ist und nicht erst durch ein Tal der Verarmung vieler Menschen führt. Die Bundesrepublik kann ihr gegenwärtiges politisches und parlamentarisches System der DDR nicht einfach aufzwingen.“ (Dokument 9, S. 104) Ein Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten wird nicht ausgeschlossen, aber dabei sollten sie „ihre Vorzüge bewahren.“

 

In einem Ausblick, „Unsere Vision als Bestandteil des Menschheitsfortschritts“, steht in dem Programm: „Das Bündnis der DDR mit der Sowjetunion betrachten wir als eine entscheidende Bedingung ihrer Existenz- und Entwicklungsfähigkeit und als Faktor der europäischen Stabilität in der gegenwärtigen Umbruchphase. Wir bekräftigen nachdrücklich unsere Solidarität und Unterstützung für eine sozial progressive und demokratische Erneuerung der Gesellschaften in der Sowjetunion und in anderen Ländern. Diesem Ziel dienen die engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen der KPdSU und der PDS“ (Dokument 9, S. 107). Das Programm stammt vom Februar 1990. Etwas mehr als sieben Monate später gab es keine DDR mehr; rund 22 Monate später, am 26. Dezember 1991, wurde die Sowjetunion aufgelöst.

 

Zu einer etwas längeren Reformphase der (alten) DDR und einem allmählichen Vereinigungs-prozess zwischen den beiden deutschen Staaten kam es nicht. Ab März 1990 beschleunigte sich die Entwicklung und durch die Wiedervereinigung im Oktober desselben Jahres gab es im Beitrittsgebiet für das reformierte, neue Parteiensystem veränderte Rahmenbedingungen, denn die deutsche Einigung vollzog sich als ausgehandelte Systemübertragung. Allerdings konnten sich jene in der DDR vorhandenen Einheitsparteien schnell den Parteien im Westen anschließen, die eine ähnliche politische Ausrichtung hatten – christdemokratisch, liberal, sozialdemokratisch. Der SED-PDS stand eine solche Möglichkeit nicht zu Verfügung. Sie blieb auf sich allein gestellt und musste sich in das westdeutsch dominierte Parteiensystem einfügen.

 

Die am 2. Februar 1990 in PDS umbenannte Partei war lange Zeit mit der Diskussion der Frage beschäftigt, ob sie sich als gesamtdeutsche Partei profilieren oder primär als Regionalpartei-Ost präsentieren sollte. Besonders im Jahre 1990 waren die Anpassungs-schwierigkeiten groß. Es kam zu einem erheblichen Mitgliederschwund (siehe Schaubild nächste Seite) und zu finanziellen Problemen, denn das Vermögen der Partei stand weit-gehend unter Kontrolle der Treuhandanstalt. Aber die Partei hatte noch immer eine gute Organisation und verfügte über eine gewisse Verankerung in der ostdeutschen Gesellschaft.

 

Nach der Wiedervereinigung war der Umgang der PDS mit den anderen Parteien schwierig; diese hatten aber auch ihrerseits große Probleme mit der ehemaligen Staatspartei der DDR. Es gab unterschiedliche Lern- und Gewöhnungsprozesse:

·         Machtverlust – das Gefühl der Demütigung und ein gravierender Mitgliederschwund erschwerten der PDS Akzeptanz und Gewöhnung an die Regeln des neuen Systems.

·         Der PDS stand nicht mehr der Propaganda- und Medienapparat zur Verfügung, den die SED in der DDR noch bis 1989 hatte; außerdem gab es nicht mehr die von ihr dirigierten Massenorganisationen.

·         Die PDS war in Parlamenten nun mit ehemaligen „Klassenfeinden“ zusammen und musste freie Wahlen und demokratische Spielregeln befolgen.

·         Die PDS hatte es auch mit „Abtrünnigen“ zu tun, d. h. mit Angehörigen früherer Blockparteien (Nationale Front der DDR), die sich selbständig gemacht und Parteien des Westens angeschlossen hatten.

·         Das Demokratieverständnis und die Bereitschaft zu Fairness der meisten anderen Parteien (weniger vielleicht bei den „Grünen“) war gefordert, d. h. sie mussten die PDS als formal gleichrangig ansehen, mit allen Konsequenzen und Möglichkeiten. Für im Westen etablierte Parteien, besonders in Berlin (West), war es anfänglich schwierig, Vertreter bzw. „Nachkommen“ eines „Unrechtsregimes“, das die Mauer gebaut hatte, in einem demokratischen Parlament zu akzeptieren. Später, im Oktober 2001, erzielte die PDS bei Wahlen in Berlin 22 %, im Ostteil der Stadt sogar fast 50 % und seit 2002 ist sie zusammen mit der SPD Mitglied einer Koalitionsregierung der Stadt.[2]

 

Anfang Februar 1990 wurde der alte Name, SED, gestrichen und die Partei hieß nun nur noch PDS (Dokument 9). Sie sprach sich für eine grundlegende Reform der DDR und gegen eine Wiedervereinigung aus; Positionen, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung der DDR nicht geteilt wurden. Eine Folge davon war das schlechte Abschneiden bei Wahlen im Jahr 1990.

Tabelle: Stimmenanteil der PDS bei Wahlen im Jahr 1990

 

Monat

Art der Wahl

Stimmenanteil in Prozent

März 1990

Volkskammerwahl

16,4

Mai 1990

Kommunalwahl

14,6

Oktober 1990

Landtagswahlen

12,7

Dezember 1990

Erste gesamtdeutsche Bundestagswahl

2,4 insgesamt;

(11,1 % in Ostdeutschland und 0,3 % im Westen)*

 

* Wegen der negativen Erfahrungen der Weimarer Republik (1919-1933) mit einer starken Zersplitterung der Parteienlandschaft gibt es in der Bundesrepublik die sogenannte „Fünf-Prozent-Klausel“. Parteien, die bei Zweitstimmen nicht über diese Fünf-Prozent-Hürde kommen, sind im Parlament (Bundestag) nicht vertreten, es sei denn, sie erringen bei den Erststimmen Direktmandate. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1990 entschieden zwei getrennte Wahlgebiete in Deutschland einzurichten, also keine solche Hürde im Osten. Am 4. Oktober 1990 verabschiedete der Bundestag das geänderte Wahlgesetz (siehe Dokumente Nr. 10–12) für die ersten gesamtdeutschen Wahlen. Die getrennten Gebiete mit unterschiedlichen Sperrklauseln in Ost und West sowie die Möglichkeit von Listenverbindungen verhalfen der PDS zu Sitzen im Bundestag, obwohl sie insgesamt nur einen Zweitstimmenanteil von 2,3 Prozent erreichte. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts und die entsprechende Änderung des Wahlgesetzes waren wichtige Übergangsbestimmungen.

 

Fortwährend setzte sich die PDS mit Vergangenheit und Zielsetzungen auseinander, wobei zu erkennen ist, dass die Partei sich nur schrittweise von alten Denkmustern lösen konnte. Im Programm vom Januar 1993 wird eine „würdige Auseinandersetzung mit der Vergangen-heit“ gefordert und werden die Fragebögen, mittels derer Verstrickungen mit der Stasi untersucht wurden, als diskriminierend verurteilt. „Durch die Politik der etablierten Parteien werden die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte zu Menschen mit eingeschränkten Grundrechten.“ (Dokument 13, S. 7) Diese grobe Verallgemeinerung scheint anzudeuten, dass die Partei sich noch immer als Sprecherin der DDR-Bevölkerung fühlte, deren Mehrheit sich im Jahre 1989 von ihr durch eine friedliche Revolution befreit hatte.



Zur eigenen Vergangenheit ist zu lesen, dass der Sozialismus in Osteuropa und der DDR nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Er handelte sich um einen von vielen Fehlern behafteten Versuch. Alle Bemühungen „zur Erneuerung und Rettung des Sozialismus wurden letztlich blockiert“ (Dokument 13, S. 10). Dieser Satz liest sich etwas wie der Hinweis auf Fremdverschulden und er ist wenig konkret bezüglich derjenigen, die blockiert hatten; waren es Mitglieder der eigenen Partei oder andere? Aber in dem Programm werden Fehler aufgeführt und es wird deren Konsequenz benannt: „Eine demokratische sozialistische Gesellschaft, nicht bestimmt vom Profitprinzip, kann nur auf den gemeinsamen Anstrengungen unterschiedlicher sozialer und politischer Kräfte basieren, oder sie muß untergehen. Sie braucht die Austragung der realen Widersprüche, Kompromiß und Konsens, Toleranz und demokratische Offenheit in einem pluralistischen Prozeß der Willensbildung“ (Dokument 13, S. 10).

 

Der Sozialismus in der DDR scheiterte, so das Fazit, weil es der Versuch war, Sozialismus ohne Demokratie zu begründen, deshalb seien eine sozialistische Erneuerung und der Einsatz für alternative Entwicklungswege nun umso wichtiger.

 

 

3.  Verschlechterung der Wirtschaftslage und Verbesserung der Wahl-ergebnisse

 

Eine Verbesserung der Situation ergab sich durch die rapide Verschlechterung der Wirtschaftslage 1993/1994. Die erste Phase des auch durch massive staatliche Investitionen geförderten Aufbaubooms war vorbei; die weitgehende Deindustrialisierung Ostdeutschlands, verbunden mit Massenarbeitslosigkeit, Anpassungsschwierigkeiten und frustrierten Hoff-nungen führten zu Protesten sowie zur Enttäuschung der Wählerschaft mit anderen Parteien. Die PDS hatte zwar kein realistisches Alternativprogramm, konnte aber darauf hinweisen, dass sie solche Entwicklungen vorausgesehen und von Beginn an vor den negativen Folgen der Vereinigung gewarnt habe. Wegen der allgemeinen Unzufriedenheit im Osten, der hohen Arbeitslosigkeit und der nach Meinung vieler Ostdeutschen nur langsamen Anpassung des Lebensniveaus zwischen Ost und West konzentrierte sich die PDS auf das Gebiet der ehemaligen DDR und stellte die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund. Die Bemühungen, sich als Anwalt ostdeutscher Interessen zu profilieren, aber gleichzeitig zu vermeiden, eine reine Regionalpartei-Ost zu sein, bewirkten besonders in der ersten Hälfte der 1990er Jahre starke Spannungen in der Partei. Es gelang der PDS aber, ihre Wahlergebnisse kontinuierlich zu verbessern; dennoch blieb sie im Westen Deutschlands schwach.


 

Tabelle: Ergebnisse der PDS bei den Bundestagswahlen, auf der nationalen Ebene und in den ostdeutschen Bundesländern (in Prozent)

 

1990

1994

1998

2002

Bundesgebiet

4,2

4,4

5,1

4,0

Westdeutschland

0,3

0,9

1,2

1,1

Berlin

9,7

14,8

13,4

11,4

Brandenburg

11,0

19,3

20,3

17,2

Mecklenburg-Vorpommern

14,2

23,6

23,6

16,3

Sachsen

9,0

16,7

20,0

16,2

Sachsen-Anhalt

9,4

18,0

20,7

14,4

Thüringen

8,3

17,2

21,2

17,0

Tabelle erstellt von Florian Schiller, unter Nutzung von: Neugebauer, Gero. 2005. PDS: Gestern, heute und morgen. Berlin: Otto-Stammer-Zentrum.

 

Tabelle:   Zweitstimmenergebnisse der PDS in den Bundestagswahlen 1994-2002 in sozialen Gruppen in der BRD und in Ostdeutschland (in Prozent)

 

1994

1998

2002

 

BRD

OST

BRD

OST

BRD

OST

Berufsgruppe

Arbeiter

5

15

6

17

4

15

Angestellte

6

26

6

25

4

19

Beamte

3

35

3

15

3

24

Selbstständige

3

17

4

17

3

13

Landwirte

3

10

3

8

4

13

Gewerkschaften

Ja

6

24

7

22

5

20

Nein

4

20

5

*

4

16

Arbeiter + Gewerkschaften

Mitglied

5

17

6

17

4

16

Kein Mitglied

5

14

6

*

5

15

Angestellte + Gewerkschaften

Mitglied

10

29

8

25

7

24

Kein Mitglied

5

26

6

25

4

18

Insgesamt

4,4

19,8

5,1

21,6

4,0

16,9

Tabelle erstellt von Florian Schiller, unter Nutzung von: Neugebauer, Gero. 2005. PDS: Gestern, heute und morgen. Berlin: Otto-Stammer-Zentrum.

 

Ein entscheidender Einschnitt erfolgte im Jahr 2005, als Listenverbindungen mit der „Wahl-alternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) praktiziert wurden, einer Gruppierung, die aus ehemaligen Mitgliedern der SPD und Angehörigen von Gewerkschaften entstanden war. Sie markiert den Beginn einer Zusammenarbeit, der zwei Jahre später, im Juni 2007, ein Zusammenschluss folgte.


 

Tabelle: Wahlergebnisse der Linkspartei.PDS (Zweitstimmen) bei der BTW 2005

Ebene

Prozentanteil

2005/2002

absolut

2005/2002

Bund

8,7

+ 4,7

4.118.194

2.201.492

Ostdeutschland

25,3

+ 8,4

2.243.797

769.231

Westdeutschland

4,9

+ 3,8

1.874.397

1.432.261

Tabelle erstellt von Florian Schiller, unter Nutzung von: Neugebauer, Gero. 2005. PDS: Gestern, heute und morgen. Berlin: Otto-Stammer-Zentrum.

 

Tabelle:   Soziale Zusammensetzung der Wählergruppen der PDS

(Zweitstimme 2005, in Prozent) und das Verhältnis zur Gesamtmenge

Geschlecht

Gesamt

Linkspartei.PDS

Männlich

49

54

Weiblich

51

46

Alter

18-29 Jahre

13

12

30-44 Jahre

30

32

45-59 Jahre

25

30

60 Jahre und Älter

32

26

Erwerbsstatus

Berufstätig

50

49

Rentner

27

24

Arbeitslose

5

14

Berufsgruppe

Arbeiter

28

38

Angestellte

43

43

Beamte

7

4

Selbstständige

9

5

Landwirte

2

1

Gewerkschaften

Ja

15

21

Nein

79

73

Schulbildung

Hauptschule

31

24

Mittlere Reife

34

40

Hochschulreife

16

15

Hochschule, Uni

15

17

 

Tabelle erstellt von Florian Schiller, unter Nutzung von: Neugebauer, Gero. 2005. PDS: Gestern, heute und morgen. Berlin: Otto-Stammer-Zentrum.

Schon vorher war die PDS wichtig auf Landesebene, denn sie tolerierte Koalitions-regierungen, die keine eigene parlamentarische Mehrheit hatten, bzw. sie wurde selbst Mitglied einer Koalitionsregierung.


 

Tabelle:   Regierungsbeteiligungen der PDS bzw. ihre Tolerierung von Koalitions-regierungen, an denen sie nicht beteiligt war

Bundesland

Wahlperiode

Wahlergebnis in %

Art und Partei

Sachsen-Anhalt

1994-1998

19,9

Tolerierung von SPD/Grüne

1998-2002

19,6

Tolerierung der SPD

Mecklenburg-Vorpommern

1998-2002

24,4

Koalition mit SPD

2002-2006

16,4

Koalition mit SPD

Berlin

2002-2006

22,6

Koalition mit SPD

Seit 2006

13,4

Koalition mit SPD

Brandenburg

Seit 2009

27,2

Koalition mit SPD

Tabelle erstellt von Florian Schiller, unter Nutzung der Onlinearchive der Landeswahlleiter der jeweiligen Bundesländer.

 

 

4.  Gründung einer neuen Linken

 

Die von der SPD geführte Koalitionsregierung (mit den „Grünen“) unter Kanzler Gerhard Schröder (1998-2005) rückte politisch in die Mitte und verunsicherte bzw. verärgerte viele traditionelle Wählerschichten mit Programmen zur Flexibilisierung der Arbeitswelt (Agenda 2010 und Hartz IV). Die PDS hoffte, durch klassisch „linke Themen“ verunsicherte und enttäuschte SPD-Wählerschaft für sich gewinnen zu können, das wollte aber auch die WASG. Beide standen zueinander in Konkurrenz, erkannten dies und für die Bundestagswahl im Jahre 2005 kam es zu taktischen Absprachen in Form von Wahlbündnissen. Erst ab diesem Zeitpunkt gelang eine längerfristige Existenzsicherung der PDS – weniger wegen eigener Erfolge, als durch schlechte Wirtschaftslage und veränderte politische Rahmenbedingungen begünstigt. Die „Linkspartei.PDS“ brauchte einen Partner, denn alle Versuche, auch im Westen eine Rolle zu spielen, waren so gut wie erfolglos geblieben. Mit Gründung der Partei Die Linke im Juni 2007 (Dokument 22) konnte die vormalige „Linkspartei.PDS“ vor allem zwei ihrer Ziele verwirklichen:

·         langfristige Etablierung im Parteiensystem der Bundesrepublik,

·         Zugewinne (bei Wahlen) auch im Westen Deutschlands.

 

Das Zusammengehen begann im Jahre 2005; vorausgegangen war eine erneute Namens- und Programmänderung. Aus der PDS wurde die Linkspartei.PDS. Die Partei mit dem neuen Namen stellte sich in ihrem Programm vom Oktober 2003 bzw. Juli 2005 den alten Fragen:

·         Wie ist die Vergangenheit zu bewerten?

·         Welche Ziele gilt es im vereinten Deutschland zu erreichen?

 

Bei der Beantwortung der ersten Frage sind die Formulierungen nun etwas selbstkritischer, bei der zweiten fallen sie im Vergleich zu früheren Programmen/Statuten präziser und umfangreicher aus.


 

Vergangenheit:

Die Partei will eine neue Politik betreiben, zu der sie sich neben deren Richtigkeit und Notwendigkeit auch wegen der Vergangenheit veranlasst sieht. „Wir tun dies aber auch in rückhaltloser Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kommunismus begangen wurden, und in Ablehnung jedes Versuchs, mit Mitteln der Diktatur Fortschritt zu erreichen. Uns eint der unumkehrbare Bruch mit der Missachtung von Demokratie und politischen Freiheitsrechten, wie sie in und von nicht wenigen linken Parteien, darunter der SED, praktiziert worden ist.“ (Dokument 18, S. 2)

 

Die aus diesen Fehlern zu ziehende Lehre hat Konsequenzen für die im vereinten Deutschland zu betreibende Politik. „Die SED war als herrschende Partei aufgrund der konkreten historischen Bedingungen von Anfang an auf das in der Sowjetunion entstandene Sozialismusmodell und auf Linientreue zur Politik der Sowjetunion fixiert. Sie war weder fähig noch bereit, Sozialismus mit Demokratie und Freiheit zu verknüpfen. Ihren Weg kenn-zeichneten daher auch schmerzliche Fehler, zivilisatorische Versäumnisse und Verbrechen. Es bleibt für uns eine bittere Erkenntnis, dass nicht wenige Mitglieder der SED Strukturen der Unterdrückung mitgetragen und Verfolgung Andersdenkender zugelassen oder sogar unter-stützt haben. Dafür sehen wir uns mit anderen in einer moralischen Verantwortung. Es ist deshalb auch unsere selbstverständliche Pflicht, die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verbürgten Grundrechte zu verteidigen. Es gibt keinen noch so ehrenwerten Zweck, der die Verletzung grundlegender Menschenrechte und universeller demokratischer Grundsätze rechtfertigen könnte.“ (Dokument 18, S. 52)

 

Ziele:

Zusammen mit anderen soll an einer Alternative mitgewirkt werden, „die Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität zum Ziel hat.“ (Dokument 18, S. 1) Sozialismus ist ein notwendiges Ziel. „Sozialismus ist für uns ein Wertesystem, in dem Freiheit, Gleichheit und Solidarität, Emanzipation, Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und Frieden untrennbar miteinander verbunden sind. Die sozialistische Idee ist durch ihren Missbrauch als Recht-fertigung von Diktatur und Unterdrückung beschädigt worden. Die Erfahrungen der DDR einschließlich der Einsicht in die Ursachen ihres Zusammenbruchs verpflichten uns, unser Verständnis von Sozialismus neu zu durchdenken.“ (Dokument 18, S. 3)

 

Probleme:

In dem Programm werden nicht nur Vergangenheit und Ziele erläutert. Vergangenheit bedeutet hier die Bewertung von Erfahrungen. Diese beziehen sich in den Jahren 2003/2005 nicht nur auf die untergegangene DDR, sondern auch auf die Entwicklung im vereinten Deutschland seit 1990.

„Eine Vielzahl falscher Entscheidungen hat auf lange Zeit die Grundlagen für einen selbst-tragenden Aufschwung in Ostdeutschland zerstört. Nicht wenige Regionen in Ostdeutschland sind von Unterentwicklung gekennzeichnet. In dem Jahrzehnt nach 1990 haben 1,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter mit ihren Kindern Ostdeutschland verlassen. Ohne einen wirtschafts-, umwelt- und beschäftigungspolitischen Neubeginn werden Teile Ostdeutsch-lands zur Notstandsregion.“ (Dokument 18, S. 19)

An anderer Stelle des Programms wird der notwendige Politikwechsel erneut betont: „Die Einheit Deutschlands ist unvollendet. Die dramatische Abwanderung vor allem junger qualifizierter Menschen in den Westen zeigt, dass die vorwiegend marktwirtschaftliche oder allein auf westdeutsche Erfahrungen gestützte Regulierung die komplizierten Probleme der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung Ostdeutschlands nicht lösen kann – trotz anhaltender enormer staatlicher Geld-Transfers, die vor allem von den Lohnabhängigen finanziert werden.“ (Dokument 18, S. 48)

 

Hier sind etwas längere Passagen aus einem Parteiprogramm zitiert worden. Sie zeigen eine zunehmend selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und benennen Probleme, die durchaus von vielen Menschen in Deutschland ebenso gesehen werden. Wegen der noch immer geringen Akzeptanz dieser Partei in Gesamtdeutschland ist ihr bei teilweise richtiger Politikanalyse noch kein Politikwechsel gelungen. Vielfach wird in Deutschland die Meinung vertreten, Die Linke benenne zwar die drängenden Probleme, sie stelle auch richtige Fragen, aber sie habe darauf keine realistischen Antworten.

 

Dieser Zusammenschluss zur Partei Die Linke hatte auch einen geschichtlichen Aspekt. Die Schwäche der Weimarer Republik (1990-1933) und die Machtergreifung der National-sozialisten und ihrer Verbündeten 1933 beruhten auf vielen Faktoren, von denen einer die Spaltung des linken politischen Lagers war. Es gab keine Einheit der Arbeiterklasse. Dies war auch ein Grund, warum der (erzwungene) Zusammenschluss von KPD und SPD in Ost-deutschland (April 1946) als Vereinigung der Linken dargestellt wurde, symbolhaft aus-gedrückt in der Parteifahne (ein Händedruck vor rotem Hintergrund) und mit dem „E“ im Namen der neuen Partei: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Beim Zusammengehen von PDS und WASG zur Partei Die Linke spielten solche historischen Überlegungen auch eine Rolle. Es war die Bemühung, das linke Lager im vereinten Deutschland zu einen. Die historische Symbolik konnte aber nur begrenzt bemüht werden, denn der Zusammenschluss von 1946 wurde erzwungen und führte zur SED-Herrschaft, die 1989/1990 durch eine friedliche Revolution ihr Ende fand.

 

In der Bevölkerung wurde diese Partei in erster Linie durch Aktivitäten (auch Medienauftritte) ihrer Bundestagsfaktion wahrgenommen; die PDS war keine zentralistische Partei mehr, wie in der DDR. Beim Zusammenschluss zur neuen Partei Die Linke hatte die PDS die stärkere Position, denn sie verfügte über eine aktive Fraktion im Bundestag und war in allen Parlamenten der ostdeutschen Länder vertreten. Im Osten gab es Stammwähler – eine Position, die im Westen erst 2008-2009 errungen werden konnte, wenn auch in kleinerem Ausmaß.

 

 

4.1 Gruppierungen und Fraktionen in der PDS und der neuen Partei Die Linke

Trotz kontinuierlicher Bemühungen, nach außen ein halbwegs geschlossenes Bild zu vermitteln, gab es innerhalb der PDS und gibt es in der Partei Die Linke Gruppierungen mit stark differierenden Politikvorstellungen. Gero Neugebauer unterscheidet bei einer groben Einteilung vier Fraktionen der PDS:

·         Modernisierer,

·         orthodoxe Sozialisten,

·         Pragmatiker und

·         Fundamentalisten.

 

Die Gruppierungen unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern auch durch ihre Größe und ihren Organisationsgrad. In der PDS, Die Linke, gibt es zwei wichtige politische Platt-formen:

·         Kommunistische Plattform (KPF)

·         Marxistisches Forum (MF)

Beide sehen rückblickend Positives in der DDR und SED; sie halten die DDR für einen zwar gescheiterten, aber grundsätzlich richtigen Versuch, den Sozialismus zu etablieren. Die KPF hat eine eigene Monatszeitschrift und rund 500 Mitglieder, die meist ehemalige Angehörige der DDR-Elite und marxistisch-leninistische Linke aus dem Westen Deutschlands sind. Nach der Gründung der neuen Partei Die Linke etablierten sich weitere Gruppierungen:

·         Forum Demokratischer Sozialismus

·         Sozialistische Linke (eine Mehrheitsströmung aus der WASG)

·         Antikapitalistische Linke

·         Netzwerk „Marx 21“ (Trotzkisten)

 

Diese Gruppierungen sind Sammelbecken von linken Kräften, die mehr oder weniger offen agieren; sie bilden Diskussionsforen für die unterschiedlichen Kräfte und Meinungen; ihre Existenz ist keine Bedrohung des politischen Systems. (Im Gegensatz dazu operieren Interessenverbände von ehemaligen Angehörigen der Stasi weniger offen und eher als Geheimbünde, wenn sie auch bei Diskussionsveranstaltungen gut organisiert auftreten.)[3]

 

 

5. Strategie und Taktik

 

Die ehemalige Staatspartei der DDR stand lange Zeit vor einem nur schwer zu lösenden Dilemma:

·         Sie musste sich anpassen, sich von Altlasten befreien, ihre Vergangenheit offen diskutieren und Konsequenzen daraus ziehen.

·         Zur selben Zeit musste sie ihren alten und neuen Mitgliedern sowie Wählern gegenüber glaubwürdig sein bzw. bleiben, was dem Ausmaß der Anpassungen Grenzen setzte.

·         Sie musste sich auf soziale Probleme und den Osten konzentrieren; dafür war es notwendig, auf alte Verbindungen aus der DDR-Zeit und auch teilweise auf alte Politikinhalte zurückzugreifen.

·         Langfristig konnte sie aber nur dann eine gesamtdeutsche Rolle spielen, wenn eine Ausdehnung in den Westen mit entsprechend erfolgreichen Wahlergebnissen gelang.

Die SED-PDS war keine völlige Neugründung; sie konnte sich auf verbliebene SED-Mitglieder, auf eine Organisation im Osten und auf den noch verfügbaren Teil ihrer Finanzen stützen. Wie Gero Neubauer und Richard Stöss charakterisierten, wandelte sich die PDS ab 1993 schrittweise von einem Sammelbecken der Vereinigungsgegner zu einer Interessen-partei des Ostens.

 

Das Verhältnis zwischen anderen Parteien und der PDS/Die Linke war und ist hauptsächlich durch drei Faktoren bestimmt:

·         Wahlergebnisse und Präsenz dieser Partei in den Parlamenten, die zumindest rechnerisch die Tolerierung einer Minderheitsregierung oder die Bildung einer Koalition möglich machen.

·         Ein Mindestmaß an programmatischer Übereinstimmung und vermuteter Disziplin bei Abstimmungen. Neben inhaltlichen Aspekten also auch das Element der Verlässlich-keit, für das es bisher keine Erfahrungswerte gab.

·         Die Bereitschaft bei den in Frage kommenden Parteien, und das betrifft in erster Linie die SPD, solche Formen der indirekten bzw. direkten Zusammenarbeit zu praktizieren.

 

Ab 1998/1999 war die PDS theoretisch für die Schaffung von Mehrheiten auf Ebene der Bundesländer wichtig, was zu Strategiediskussionen innerhalb der Partei führte. Es kam zu personellen Veränderungen an der Spitze und weniger Prominente übernahmen Führungs-ämter; bis zum Jahre 2002 war der Bundesgeschäftsführer der PDS ein Angehöriger der DDR-Elite. In der Praxis stellte sich die Frage von Koalitionen nicht oft, denn die anderen Parteien waren damals noch wenig geneigt, mit der PDS ein Regierungsbündnis einzugehen; auf der Bundesebene wurde dies ohnehin ausgeschlossen. Die sozio-ökonomischen Vorstellungen der PDS waren für andere Parteien nicht kompromissfähig. Zusätzlich dazu lehnte die PDS deutsche Beteiligungen an UN-Friedensmissionen kategorisch ab.

 

Die PDS wollte links von der SPD und den Grünen stehen. Sie profitierte von Wahlnieder-lagen der SPD, so zum Beispiel bei der Wahl zum Bundestag im Jahre 2009; es wechselten im Vergleich zur Wahl 2005 rund 1,1 Millionen Wähler von der SPD zu Die Linke.

 

Die PDS bemühte sich schon früh um vielfältige Kontakte zu unterschiedlichsten gesellschaft-lichen Gruppen; so bot sie Mitarbeit ohne Mitgliedschaft an, allerdings ohne den erhofften Erfolg. Ab 1990 begann die Partei Mieterinitiativen, Beratungs- und Nachbarschaftsbüros sowie Vereinigungen von Arbeitslosen zu unterstützen. Sie tritt vorrangig für bestimmte Themen ein, will aber keine Weltanschauungspartei mit enger Ausrichtung sein. Dieses Ziel zu verwirklichen war bis 2005 schwierig; seit dem Zusammenschluss mit der WASG und der Gründung einer neuen Partei Die Linke (2007) ist dies in geringem Umfang gelungen.

 

Anhänger des Sozialismuskonzepts hielten sich nach der Wende zurück, bis das Überleben der PDS gesichert war. Im Programm vom Februar 1990 findet sich eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der SED. Eine gewisse programmatische Zwei-gleisigkeit wurde dann ab 1994/1995 versucht, was aber zu verschärften Diskussionen und Auseinandersetzungen führte. Die Partei stärkte und konsolidierte ihre Position bis 2002, dann gab es schwache Ergebnisse bei der Bundestagswahl und Rückschritte auf Länderebenen.

 

 

6. Die Linke und ein verändertes Umfeld ab 2009

 

Nach der Bundestagswahl 2009 schied die SPD aus der großen Koalition mit der CDU/CSU aus und wurde vor der „Linken“ die zahlenmäßig stärkste Oppositionspartei im Parlament. Beide profilieren sich mit ähnlichen Themen gegen die Regierung, vornehmlich bei der Innen- und Sozialpolitik, unterscheiden sich aber bei der Außen- und Sicherheitspolitik. Neben partiell ähnlicher Oppositionstätigkeit gibt es kaum Bereitschaft zu einer weitergehenden Zusammenarbeit. In der Linken war noch nicht entschieden, wie es Gero Neugebauer nannte, ob sie insgesamt als konsequente Reformalternative oder System-opposition agieren sollte.

 

Bei der Fusion von PDS und WASG 2007 standen vor allem wahltaktische Überlegungen im Vordergrund, weniger langfristige programmatische Erwägungen; eine Entstehungsgeschichte, die der Linken noch immer Probleme bereitet.

 

Im Osten Deutschlands ist Die Linke eine Volkspartei. Allerdings sind deren Mitglieder dort immer weniger Teil der arbeitsaktiven Bevölkerung. Im Jahre 2004 waren nur 13% der dortigen Mitglieder berufstätig. Im Westen wird sie überwiegend als Protestpartei empfunden, was ihr langfristig keine sichere Perspektive garantiert. Dort ist sie auf kommunaler Ebene noch immer im Aufbau begriffen. Sie hat Schwierigkeiten, über die Fünf-Prozent-Klausel zu kommen und Mandate in Landtagen zu erringen. Trotz neuer Mitglieder ist Die Linke noch stark von der PDS geprägt. Sie ist in dreizehn der 16 deutschen Landes-parlamente vertreten (außer in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern). Die PDS hatte 2002 rund 1.700 Kommunal- und Landespolitiker. Im Osten Deutschlands ist sie mit über 5.000 Mandatsträgern auf kommunaler und regionaler Ebene vertreten.

 

Tabelle: Zusammensetzung von Bevölkerung und PDS-Wählerschaft nach formaler Bildung (1993-2005)

 

Bildungsabschluss/

Hauptschule

Mittlere Reife

Abitur/Studium

Jahr

gesamt

PDS

gesamt

PDS

gesamt

PDS

1993

39

16

30

35

25

45

1995

39

16

32

36

25

44

1997

38

19

32

40

25

37

1999

37

18

35

36

26

42

2001

31

15

31

32

32

49

2003

24

13

32

35

39

48

2005

22

16

32

37

41

44

 

Tabelle erstellt von Florian Schiller, unter Nutzung von: Walter, Franz. 2007. Eliten oder Unterschichten? Die Wähler der Linken. In: Ders. et Al.: Die Linkspartei. Eliten oder Unterschichten? Die Wähler der Linken. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 326.

Nach wie vor stellt sich der Linken überall in Deutschland die wichtige Frage nach der Regierungsbeteiligung und Tolerierung von Regierungen (an denen sie nicht beteiligt ist). Hier sind Bedingungen und Ziele der Partei noch nicht klar genug formuliert, als dass sie für eine interessierte Wählerschaft überzeugend sein könnten (siehe hierzu Dokument 28).

 

7. Ausblick und mögliche Relevanz für Korea

 

Parteien sollen viele Funktionen erfüllen; sie sind z. B. Machtinstrumente, Netzwerke, Informationsquellen und Mobilisierungsinstitutionen. Hat eine Partei das Monopol für diese Funktionen, dann gibt es für andere wenig Entfaltungsmöglichkeiten und kaum Alternativen für Systemvarianten.

 

Parteien haben Mitglieder unterschiedlicher Art. Bei Massenparteien sind die Größen-verhältnisse anders, aber auch in ihnen gibt es fanatische Dogmatiker, Karrieristen, Opportunisten und viele Mitläufer. In der DDR gab es immerhin eine Wahlmöglichkeit; wer wollte, konnte in anderen Parteien Mitglied sein, was allerdings einen weit geringeren Einfluss bedeutete. Diese Wahlmöglichkeit haben Menschen in Nordkorea nicht. Ab einer gewissen Stellung ist Parteimitgliedschaft vermutlich Pflicht, was nicht für alle Mitglieder zwangsläufig bedeuten muss, dass sie völlig von der Richtigkeit der Politik „ihrer“ Partei überzeugt sind.

 

In einem demokratischen System mit Parteienkonkurrenz muss sich jede Partei beweisen und in freien Wahlen bestehen können; sie erhält und behält die Macht nicht automatisch. Demokratie bedeutet auch: Machtausübung auf Zeit und Regierungen können Wahlen verlieren. Die SED/PDS/Linkspartei/Linke hat diese Erfahrung machen müssen. Sie überlebte das Ende der DDR, konnte vorübergehend von Wirtschaftsproblemen und den Fehlern anderer Parteien profitieren, stagniert allerdings etwa seit 2010. Die Zahl ihrer Mitglieder ist rückläufig. Im Osten ist die Partei überaltert, das Durchschnittsalter liegt hier bei 67 Jahren. Die sich verringernde Zahl der Mitglieder, Mitte 2011 waren es 71.000, zieht finanzielle Probleme nach sich. Der Aufschwung durch die Gründung Der Linken ist verebbt und die anhaltenden innerparteilichen Auseinandersetzungen wirken auf potentielle Wähler und Interessenten abschreckend. Diese Entwicklung ist für die Partei selbst zwar unerfreulich, für das demokratische System insgesamt ist es aber eine positive Erfahrung.

 

Auch nach fundamentalen politischen Veränderungen, nach einem Umbruch, werden viele Angehörige der früheren Elite noch immer über einen großen Bekanntheitsgrad, über viel-fältige Verbindungen und auch über eine gewisse Akzeptanz in der Bevölkerung verfügen. Diese Eigenschaften können sie auch unter veränderten Rahmenbedingungen zu wichtigen Akteuren machen. Was Politik in Korea anbelangt, einmal abgesehen vom Systemcharakter, so ist sie stärker personen- und weniger institutionenorientiert.

 

Ein Verbot als Folge der Wiedervereinigung und damit keine Chance für grundlegende Veränderungen einer früheren Staatspartei wäre nicht hilfreich. Nach einem Systemwechsel ist es meist sinnvoll, eine solche Partei in veränderter Form weiterbestehen zu lassen. Für ein Verbot der SED-PDS gab es in Deutschland im Jahre 1990 auch keine rechtliche Grundlage. Allerdings werden Aktivitäten dieser Partei vom Verfassungsschutz beobachtet (siehe hierzu Dokument Nr. 20).

 

Generell ist zu ehemaligen Staatsparteien zu sagen, dass, gerade was die große Zahl ihrer Mitläufer anbelangt, veränderte sozio-politische Bedingungen ein Test für Wandlungs-fähigkeit, Lernbereitschaft, Eigenverantwortung und Mitwirkungswillen sind. Dies sind Eigenschaften, die durchaus positiv genutzt werden können. Nach einer Wiedervereinigung Koreas wird der Süden ohne solche Kenntnisse und Bereitschaft im Norden nicht auskommen können.


[1] Diese Einleitung stützt sich hauptsächlich auf Anregungen und Material von meinen Kollegen aus dem Otto-Stammer-Zentrum für Empirische Politische Soziologie der Freien Universität Berlin, in erster Linie von Gero Neugebauer, Oskar Niedermayer und Richard Stöss.

[2] Dies war bzw. ist nach Mecklenburg-Vorpommern (1998) die zweite Regierungskoalition zwischen SPD und PDS auf Ebene eines Bundeslandes. 2001 wurde im Bundesland Berlin eine Minderheitsregierung aus SPD und den Grünen von der PDS im Berliner Abgeordnetenhaus toleriert („Magdeburger Modell“ 1994-2002).

[3]Das sind z. B. die „Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde“ (GMB), der „Traditions-verband Nationale Volksarmee“ und die „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung.“ Neben anderen Interessenverbänden gibt es noch eine „Initiativgemeinschaft“, die sich bemüht, ehemaligen Staats-beschäftigten der DDR, hauptsächlich Mitarbeitern des MfS („Stasi“), bei der Erlangung einer Rente ohne Abzüge zu helfen. Es wird vermutet, dass die „Initiativgemeinschaft“ über 10.000 Mitglieder hat.

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