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Band 04: Polizei in einer wiedervereinigten Stadt (2010)

Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig

Titel
Band 04: Polizei in einer wiedervereinigten Stadt
Verfasser
Prof. Dr. Eun-Jeung Lee, Dr. Werner Pfennig
Mitwirkende
Hae-Won Choi, Hye-Jin Choi, Sugeen Park, Alexander Pfennig, Richard Pfennig / Christian Schulten, Hoon Jung
Schlagwörter
Polizei, Verwaltung


Polizei in einer wiedervereinigten Stadt.

Der Sonderfall Berlin.

 

Richard Pfennig

 

 

Polizei ist die Institution, durch die Menschen den unmittelbarsten Kontakt mit dem Staat haben.

Polizei muss gleichzeitig Autorität ausüben und Vertrauen erwecken:

·         Autorität hat sie durch Gesetzeskraft und die ihr übertragenen Funktionen, die auch die Anwendung unmittelbaren Zwanges einschließen.

·         Vertrauen ist von dem gesamten Erscheinungsbild der Polizei, aber auch von der Persönlichkeit jedes einzelnen Polizisten und dessen Verhalten abhängig.

Beide Komponenten sind wichtig, besonders in Umbruchsituationen, was bedeutet, dass die Neuordnung der Polizei bei einer Wiedervereinigung schnell und nachhaltig erfolgen muss.

 

 

1. Was war das Besondere an der Situation in Berlin?

 

Polizei ist im föderalen System der Bundesrepublik Ländersache; die Polizeihoheit ging nach dem 3. Oktober an die fünf neugegründeten Bundesländer über.

Was die Polizei anbelangt so wurde fast alles in den Bundesländern individuell geregelt, z. B. Polizeigesetze und Sicherheitsrecht. Eine Schwierigkeit bestand auch darin, dass einerseits Bundesvorgaben einzuhalten waren, andererseits aber jedes Bundesland individuell gestalten wollte.

 

Berlin hatte einen „Vier-Mächte-Status“, d. h. die höchste Autorität waren nicht der Senat im Westen und der Magistrat im Osten, sondern die vier Stadtkommandanten, die „Alliierten“.

 

Im geteilten Berlin repräsentierte die Polizei unterschiedliche, konträre Staatskonzepte und die Akzeptanz bei der Bevölkerung war ebenfalls unterschiedlich.

Menschen aus Berlin-West, die ab 1963 (Passierscheinregelung vom 17. Dezember 1963) den Ostteil besuchen konnten, erlebten die dortige Polizei meist als unfreundliche Kontrolleure und es kann nicht gesagt werden, dass die Polizei bei der Bevölkerung von Berlin-Ost überwiegend beliebt war. Im Westteil der Stadt war die Polizei nicht bei allen beliebt, aber der Grad ihrer Akzeptanz weit größer als der ihrer Kolleginnen und Kollegen in Berlin-Ost.

Es existierten tiefsitzende Feindbilder (Dokument 45). Zusätzlich zu organisatorischen und finanziellen Fragen musste diese schwierige Situation ebenfalls berücksichtigt werden, als abzusehen war, dass Berlin vereinigt wird. Das war auch deshalb bedeutsam, weil die Polizeihoheit in Berlin bereits vor der nationalen Einheit, nämlich schon am 1. Oktober 1990 wechselte (Dokumente 44 und 49). Der Polizeipräsident im Westteil wies in einem Brief vom 18. September 1990 an alle Polizistinnen und Polizisten auf die spezielle Situation der Stadt hin: 42 Jahre Trennung der Berliner Polizei habe tiefe Spuren wechselseitiger Verfremdung hinterlassen (Dokument 18).

 

Größenordnungen:

Berlin-West ist flächenmäßig etwas größer als Berlin-Ost; während der Teilung der Stadt war die Bevölkerung im Westen mehr als doppelt so groß als wie im Osten.

·         Im Westteil der Stadt gab es zur Zeit der Vereinigung 20.466 Polizei-Beamte, deren Auftreten und Organisationsform bewusst zivil sein sollten;

·         im Ostteil gab es 11.797 Polizei-Angestellte; hier war die Organisation eher militärisch.

Nur in Berlin wurden alle Ost-Angestellten wegen möglicher Verwicklungen mit der Stasi überprüft, nicht in anderen Bundesländern. Bei der Anpassungsfortbildung ging es deshalb auch darum, „die Erfahrungen einer Großstadtpolizei einer demokratisch verfaßten Industriegesellschaft mit ihren speziellen Problemen zu vermitteln.“ (Dokument 19)

 

 

2. Wie vollzog sich die Vereinigung der Polizeikräfte in Berlin?

 

Bei kaum einer anderen Behörde ist der Integrationsprozess so frühzeitig und so umfassend in Gang gesetzt worden als wie bei der Berliner Polizei und zwar durch Aktivitäten des Westteils. Wichtige Etappen waren folgende Treffen, Planungen und Übereinkünfte zwischen Vertretern der beiden Stadthälften:

·         11. November 1989, 14:00 Uhr, Treffen des Berliner Polizeipräsidenten (West) mit einem Oberst der Volkspolizei am Grenzübergang „Checkpoint Charlie“, um die labile Lage am Brandenburger Tor zu besprechen

·         11. November 1989, 22:37 Uhr, Schaltung einer ersten Telefonverbindung zwischen der Berliner Polizei und der Volkspolizei in Ost-Berlin, die Funkverbindung stand um 23:44 Uhr

·         20. Dezember 1989, Gesprächsrunde im Ostteil der Stadt mit hohen Polizeiführern beider Seiten, Hauptthema: Verkehrsprobleme und bevorstehende Öffnung des Brandenburger Tores

·         12. Februar 1990, Treffen der beiden Polizeipräsidenten, erstmalig in der Geschichte des geteilten Berlins; es wurde jeweils ein leitender Polizeiangehöriger als ständiger Ansprechpartner bestimmt

·         15. März 1990, Treffen in Potsdam zwischen dem Berliner Polizeipräsidenten (West) und einem Oberst der Volksarmee

·         1. April 1990, Grenzöffnung für alle Berliner Wassersportler; die Wasserschutzpolizisten beider Seiten waren die ersten, die eine wirklich umfassende Zusammenarbeit erreichten

·         27. April 1990, Treffen zwischen DDR-Innenminister Dr. Peter-Michael Diestel und Innensenator Erich Pätzold; die West-Berliner Seite drängt auf mehr Zusammenarbeit im Hinblick auf einen Zusammenschluss, der DDR-Innenminister bremst etwas

·         Anfang Juli 1990, Einrichtung einer Arbeitsgruppe, die aus Vertretern des Berliner Senats, des Magistrats und des Innenministeriums der DDR besteht; Aufgabe: Ergreifen von Vorbereitungsmaßnahmen für den Vereinigungsprozess sowie, nach Beschreibung des Ist-Zustandes (Dokument 27), Entwicklung von Zielvorstellungen und Vorbereitung praktischer Entscheidungen (Dokumente 25 und 28)

·         2. Juli 1990, Beginn der fachbezogenen Grundeinweisungen

·         Im Juli 1990 wurden konkrete Überlegungen für Veränderungen (Personal, Verfahren) bei Passkontrolle und Fluggastkontrolle auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld angestellt. (Der Flughafen liegt an der Grenze zwischen Berlin und Brandenburg; Schönefeld war damals der „Hauptstadtflughafen“ der DDR.)

·         1. Oktober 1990, 13:00 Uhr, Übernahme der Polizeihoheit vom Ostteil der Stadt durch das Land Berlin, Senats- und Magistratsbeschluss vom 25. September 1990, mit Blick auf die polizeilichen Aufgaben bei Durchführung der Vereinigungsfeierlichkeiten wurde der Übergang vom 3.10. auf den 1.10. vorgezogen (Dokumente 44 und 49).

 

Bestandsaufnahme und Planungen

Für die Zusammenführung beider Polizeikräfte wurde eine Arbeitsgruppe Schutzpolizei (AGS) geschaffen, die keine Entscheidungsbefugnis hatte, sondern Vorschläge unterbreiten sollte (Dokument 53). Sie bildete sechs Unterarbeitsgruppen.

Diese Arbeitsgruppen:

·         machten umfassende Bestandsaufnahmen und formale Vorschläge für die Vereinigung der Polizeibehörden (z. B. Dokument 10);

·         sie trafen in kurzen Zeitabständen zusammen und schlugen u. a. vor, einen schnellstmöglichen Personalaustausch anzustreben, damit die Arbeitsweisen im Westteil kennengelernt werden konnten (Dokument 54).

 

Ausstattung

Die Materialausstattung der Volkspolizei erwies sich als veraltet und mangelhaft. Das Kraftfahrzeugwesen entsprach keinen zeitgemäßen Anforderungen (Dokument 29). Es gab Sicherheitsprobleme bei Waffen der Volkspolizei, die starke Quecksilberbelastung der Munition hatte zur Folge, dass nach zwei Gutachten des Technischen Überwachungsvereins (TÜV) viele Pistolen eingezogen werden mussten. Der Berliner Polizei war damit ein Nachrüstungsbedarf von ca. 6.000 Pistolen zum Stückpreis von 1.200 DM entstanden. Auch der Uniformwechsel bei Volkspolizisten musste sofort begonnen und schnell abgeschlossen werden.

 

Durchmischung

Eine wesentliche Grundentscheidung war die Einführung des Prinzips der „Durchmischung“, die dazu beitragen sollte, den Angleichungsprozess zu beschleunigen. So arbeiteten ab dem 1. Oktober 1990 im Ostteil der Stadt 2.323 Beamte aus West-Berlin; im Ausgleich dafür versahen 2.700 Angehörige der ehemaligen Volkspolizei ihren Dienst im Westteil der Stadt (davon jeweils 586 in gemischt besetzten Funkwagen Streifendienst).


 

Entlassungen, Übernahmen

Organisation/Struktur und Ausbildung/Qualifikation waren grundlegend verschieden im Ost-West-Vergleich.

Mit Schreiben vom 23. Januar 1991 erhielten alle ehemaligen Angehörigen der Volkspolizei einen von der Senatsverwaltung (entspricht einem Innenministerium) ausgearbeiteten, sehr detaillierten Personalfragebogen, mit dem die fachliche Qualifikation, die persönliche Eignung und insbesondere eine eventuelle Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überprüft wurden. Letztere hätte einer endgültigen Übernahme in den Polizeidienst entgegenstanden (Dokument 30).

Entsprechend einer Weisung der Senatsverwaltung vom Dezember 1990 wurden Personalauswahlkommissionen gebildet, denen es oblag, Empfehlungen über die persönliche Eignung und fachliche Qualifikation oder über die Notwendigkeit einer außerordentlichen bzw. ordentlichen Kündigung auszusprechen (Dokument 47).

Im Sommer 1990 gab es Schulungskurse für die Berliner Ost-Polizisten. Ca. 9000 von 12000 wurden nach Vorschlag der Personal-Kommission übernommen, der Rest wurde entlassen, kündigte von selbst oder ging in den Ruhestand (viele von ihnen bewarben sich erfolgreich bei damals bereits florierenden privaten Sicherheitsfirmen). Die früheren Ost-Angestellten wurden neue West-Beamte auf Probezeit; die ersten von ihnen erhielten am 18. Dezember 1991 ihre Ernennungsurkunde. Die Schulungskurse bedeuteten einen großen Aufwand in jederlei Hinsicht. Erst einmal verbeamtet, war es später sehr schwierig, wenn über einen Ost-Polizisten hinterher eine MfS-Tätigkeit bekannt wurde; die, die sich anfangs im Fragebogen selbst ehrlich belasteten, hatten dann größere Nachteile. Vom einstigen höheren Dienst der Volkspolizei wurden alle bis auf einen Angestellten als nicht zumutbar eingestuft und nicht übernommen, der Ausnahmefall fand in Sachsen eine Anstellung.

 

Regierungs- und Vereinigungskriminalität

Von Bedeutung in der Nachwendezeit war die ZERV (Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität), eine Berliner Polizeibehörde zur strafrechtlichen Aufarbeitung der SED- und DDR-Vergangenheit. Sie existierte in den Jahren von 1991 bis 2000. Unter anderem ging es um Geld, das die DDR auf Auslandskosten untergebracht hatte. Es handelte sich insgesamt um einen Betrag in Milliardenhöhe; Alexander Schalk-Golodkowski war einer der bekanntesten Fälle in dieser Hinsicht.

 

Hauptaufgaben des Vereinigungsprozesses bei der Polizei

Der Vereinigungsprozess der beiden Berliner Polizeikräfte, jedenfalls in den grundlegenden und strukturellen Entscheidungen und deren Umsetzung, konnte in der ersten Hälfte des Jahres 1992 abgeschlossen werden. Weiterhin galt es, drei Hauptaufgaben zu bewältigen:

1.      Überprüfung der Ost-Angestellten auf MfS-Tätigkeit

2.      Vereinheitlichung und Modernisierung von Verwaltungsstrukturen (u.a. Tarife)

3.      Vereinheitlichung und Modernisierung von Verwaltungstechnik (v.a. im Bereich der Datenverarbeitung)

 

Es gab die einmalige Chance, den Einigungsprozess für Vereinfachung, Modernisierung und damit letztlich auch für langfristige Kostenersparnis zu nutzen, eine Chance, von der nicht immer Gebrauch gemacht wurde.

3. Was könnte für Korea relevant sein?

 

Berlin als geteilte Stadt war ein Sonderfall, deswegen ergibt sich keine unmittelbare Relevanz für Korea.

 

Dennoch könnten zwei Aspekte von Interesse sein:

1.      Wichtig war, niemanden zu diskriminieren, aber Führungspositionen rasch und rigoros mit Personal aus dem Westen zu besetzen.

2.      Trotz politischem Dogmatismus und dem Gefühl der ungerechten Behandlung scheint bei bestimmten Personengruppen der Professionalismus eine besondere Rolle zu spielen, so mit Sicherheit beim Militär, vermutlich auch bei der Polizei. Trotz vieler Differenzen sind konstruktive Gespräche auf fachlicher Ebene möglich und erfolgreich, es gibt wechselseitiges Interesse sowie Informationsbedürfnis (z. B. an der Ausrüstung) und das Bemühen, die eigene Kompetenz unter Beweis zu stellen. Der Versuch dürfte in Korea lohnen sein, möglichst viele Ebenen für fachliche Gespräche sowie praktische Zusammenarbeit zu schaffen, d. h. berufsspezifische Fragen in den Vordergrund zu stellen und somit prioritär zu erörtern.

Koreastudien