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Vivisektion und Filmfraktur:

Der Schnitt als Figur der Transformation ästhetischer Erfahrung

 

[1] Die beiden Projekte „Schnittmuster. Hogarths Sektionen der Schönheit“ (Oliver Jehle) und „faktur und fRaktur : Transformatoren ästhetischer Erfahrung im Film“ (Anke Hennig) betrachten den Schnitt als Figur der Transformation ästhetischer Erfahrung.

[2] Um die Konversion rezeptionsästhetischer Erfahrung aufzuzeigen, beschäftigt sich Oliver Jehle mit durchtrennten Linien und verletzten Flächen. Als ihre Voraussetzung gilt der Schnitt, mit dem nicht nur die Auflösung klassizistischer Konturen einhergeht, sondern der Blick in subkutane Schichten. Die ins Bild gesetzte anatomische Sektion lässt sich dabei als eine invertierte Archäologie lesen, eine paradoxe Schichtenabtragung, in der die tiefsten Lagen zuerst erobert werden und der Blick sukzessive an die Oberfläche zurückkehrt. Mit die­sem ästhetischen Erkenntnismodell werden subkutane Landschaften vermessen und Topographien des Niegesehenen erstellt. So lässt sich die anatomische Sek­tion als ästhetisches Verfahren beschreiben, das die Differenz zwischen Ober­fläche und Tiefenschichten gewärtigt und produktiv wendet, da diese Differenz ein fluktuierendes Wechselspiel zwischen Sehen und Sagen in Gang setzt. Das spezifische Erfahrungspotential einer invertierten Strategie der Offenlegung erschöpft sich jedoch nicht in semiotischen Prozeduren, die dem physiogno­mischen Denken entspringen. Mit dem Schnitt lässt Hogarth vielmehr die Prob­lematik der Oberfläche hinter sich, um zur Kategorie der Schichten zu gelangen: Der Schnitt in den Leib legt den Blick in die pure Materialität des Körpers offen und setzt mit jedem Einsatz des Skalpells zahllose neue Oberflächen frei.

[3] Ausgehend von dieser Erweiterung des Sichtbaren in den Sektionen des 18. Jahrhunderts zu den Tausenden von Schnitten, aus denen nach Pudovkin der Film besteht, entwickelt sich die Schnittstelle zu einem Ort der Transformation ästhetischer Erfahrung. Im historischen Vergleich zeigt sich, dass die Schnitte sich nicht nur vermehren, ihre Anordnung zu einer Serie vielmehr einhergeht mit der Vervielfältigung von Oberflächen. Der Schnitt wandelt sich dabei von einem Prinzip, das Form und Bildästhetik stört, zu einem Prinzip der Bildkonstitution, nicht zuletzt weil der Schnitt die Oberfläche nicht überwindet, sondern im opera­tiven Eingriff zahllose Oberflächen konstituiert: Unter der lebendigen Haut lebt das Bindegewebe, unter dem Bindegewebe die Gewebeschichten der Organe, unter der Oberfläche der Organe die Zellmembran usw., unter jeder Oberfläche findet der Schnitt eine weitere Oberfläche und der avantgardistische Film ordnet sie zu einer seriellen Bildfolge an. Die ästhetische Erfahrung lässt die Obsession der Tiefe hinter sich - der Schnitt ins Innere gibt nur den Blick auf eine unendlich verletzbare Oberfläche frei.

[4] In den Filmen der russischen Avantgarde kollabiert die Grenze von Interio­rität und Exteriorität. Der Verschiebung des Intellegiblen in die Filmizität der Frakturmontage bei Vsevolod Pudovkin steht die Verschiebung des Sensorischen in die Filmizität der Glasfaktur bei Lilja Brik gegenüber. Sie erfassen damit Pole der avantgardistischen Psychophysik in ihrem Pendeln zwischen fakturaler Obsession und Gegenstandslosigkeit. Als Gemeinsamkeit beider Künstler ließe sich eine ästhetische Desintegration der Perception formulieren, eine Dislozierung der Sinne, die einen „unnatürlich weiten Abstand zwischen ihren Augen und ihrem Gehirn“ (Šklovskij) in das Filmmedium eintragen.

[5] Beide Projekte betonen, dass die Sektion als Erweiterung des Sehens an der Herstellung einer spezifisch modernen Reflexivität der Erfahrung mitwirkt. Die epistemologische Strategie anatomischer Sektionen und die Strategie filmischer Montage ist die Offenlegung ihrer Gegenstände. Sie bieten ein spezifisches Erfahrungspotential, indem sie mit der emphatischen Anbindung des Auges an den Körper die affektive Leibhaftigkeit eines taktilen Auges ansprechen. Die spe­zifische Erfahrung einer Identifikation von Betrachter und Schnitt eröffnet ein reflexives Verhältnis von Sehen und Blick. Die Erfahrung des Blicks als eines Sehens, das sich auf den Betrachter richtet, vollzieht sich als die schmerzvolle Erfahrung eines operierendem Sehen am eigenen Leib.

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