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Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

Zweiter Weltkrieg - Kriegsbeginn 1939

Die deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

Von Daniel Koerfer

Antifaschismus war die Tarnkappe des Stalinismus. Er verbarg und legitimierte seine Menschheitsverbrechen. Doch zwischen dem 23. August 1939 und dem 22. Juni 1941, der Zeit zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt und dem deutschen Überfall auf die UdSSR, wurde die Tarnkappe im Kreml beiseitegelegt. In diesen 22 Monaten war plötzlich das Gegenteil politisch richtig und wurde von der Stalin hörigen Komintern auch international propagiert. Das ging so weit, dass im Sommer 1940 die KP-Führung bei dem deutschen Botschafter Abetz nachfragte, unter welchen Umständen das Parteiblatt „L’Humanité“ im besetzten Frankreich weiter erscheinen könne. Es sind die 22 Monate der deutsch-sowjetischen Beutepartnerschaft, die Europa nachhaltig verändert und bis 1991 tief geprägt haben.

Am Anfang stand der Pakt, der die Tür zum großen Krieg weit aufstieß. Dass beide Diktatoren sogar in einem geheimen Zusatzprotokoll einen Angriffsvertrag gegen Polen geschlossen und die Aufteilung Osteuropas unter sich geregelt hatten, durfte lange niemand wissen. Als der Verteidiger Alfred Seidl im Nürnberger Prozess 1946 das ihm zugespielte geheime Zusatzprotokoll als Entlastungsdokument einführen wollte – beim Anklagepunkt „Eröffnung eines Angriffskrieges“ wäre plötzlich die UdSSR als Siegermacht mit in den Fokus gerückt –, drohte der sowjetische Anklagevertreter, den Prozess platzen zu lassen.

Bis heute ist das Originaldokument verschollen. Allerdings kann man in der vorzüglichen Edition von Christian Haas zum „23. August 1939“ die Erklärungen nachlesen, die der Gorbatschow-Vertraute Alexander Jakowlew im Dezember 1989 vor dem Kongress der Volksdeputierten der UdSSR abgab: „Das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 hat existiert. Die daraus folgenden Ereignisse haben sich zudem ‚protokollgemäß‘ entwickelt.“

Allianz der Diktatoren

Das deutsch-sowjetische Pingpong, an dessen Ende Pakt, Zusatzprotokoll und Kriegsbeginn standen, eröffnete Stalin mit seiner „Kastanienrede“. Darin erklärt er, die UdSSR werde nicht für die kapitalistischen Mächte England und Frankreich die Kastanien aus dem Feuer holen. War das so falsch? Hätte nicht die UdSSR schon 1939 die Hauptlast eines Krieges gegen Deutschland zu tragen gehabt, wie sie es nach 1941 tatsächlich tat? Im Angesicht des Krieges schloss England am 25. August 1939 erstmals einen förmlichen Beistandspakt mit einem osteuropäischen Staat, mit Polen. Hitler stoppte deshalb seinen Angriffsbefehl für das Wochenende.

Während die Westmächte eher halbherzig mit dem sowjetischen Diktator verhandelten, Polen und Rumänen im Bündnisfall der Roten Armee kein Durchmarschrecht einräumen wollten, weil sie eine dauerhafte Besatzung fürchteten, konzedierte Hitler, was die andere Seite nicht konzedieren konnte: Land- und Menschengewinn. Beide Diktatoren gewannen durch die Allianz Zeit für weitere Aufrüstung, Zeit für die Restrukturierung einer durch vieltausendfache Hinrichtungen geschwächten Roten Armee. Zeit bis zum Krieg gegeneinander, den Hitler wollte und Stalin erwartete – jeder hoffte in dieser seltsamen Allianz, den anderen übervorteilen zu können. Zugleich schützten sie sich vor einem Zweifrontenkrieg. Hitler bekam Divisionen frei für den Frankreich-Feldzug. Stalins Grenze rückte weit nach Westen.

Entscheidendes Signal war Anfang Mai die Ablösung Maxim Litwinows als Volkskommissar des Auswärtigen. Der verbindliche Litwinow galt als Vertreter des Konzepts der Westorientierung und „kollektiven Sicherheit“, war mit einer Engländerin verheiratet – und Jude. Stalins Schachzug, Litwinow durch Molotow zu ersetzen, verstand Hitler sofort. Es folgten bilaterale Handels- und Kreditvereinbarungen, deren Geheimklauseln die Rückerstattung eines Teils der offiziell vereinbarten sowjetischen Zinsen vorsahen: die ersten Werbegeschenke – trotz Antikominternpakt – eines ungeduldig zum Losschlagen drängenden Hitler. Es folgte Ribbentrops Verhandlungsnacht im Kreml vom 23. auf den 24. August. Im vom Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Gaus, entworfenen geheimen Zusatzprotokoll wird „für den Fall einer territorialpolitischen Umgestaltung Osteuropas“ – eine Umschreibung für den unmittelbar bevorstehenden Krieg – die Grenze der Interessensphären festgelegt.

Pragmatische Freundschaft

Eine intensive deutsch-sowjetische Zusammenarbeit nahm hinter den Kulissen ihren Anfang. Hitler erklärte Goebbels, man knüpfe an die Bismarckzeit an, und unter deutschen Diplomaten wurde Bismarcks Satz zitiert: „Deutschland und Russland ist es früher immer schlecht gegangen, wenn sie Feinde waren, aber gut, wenn sie Freunde waren.“ Im kleinen Moskauer Team um Botschafter von der Schulenburg – er wurde nach dem 20. Juli hingerichtet – ist diese Einschätzung verbreitet. Wie er bewerten seine Mitarbeiter Hilger, Herwarth und Köstring Stalins Wirken ambivalent. Vom millionenfachen Mord an den Kulaken wissen sie wenig, die GULag-Welten sind ihnen verborgen geblieben, aber das Grauen der tausendfachen Schauprozesse und Todesurteile ist ihnen trotz der raffinierten sowjetischen Presselenkung präsent. Dennoch sehen und würdigen sie die Leistungen und Fortschritte der Stalinzeit, halten deren Schattenseiten, gerade weil sie nicht ihr ganzes Ausmaß kennen, für brutale, aber unvermeidliche Begleiterscheinungen einer Entwicklungsdiktatur.

Stalin und Hitler benötigten ihre Vermittlerdienste. Die sowjetische Nachrichtenagentur Tass gab auf geheime deutsche Bitten am 30. August bekannt – Polen hatte inzwischen die Generalmobilmachung ausgerufen –, dass das sowjetische Kommando „den zahlenmäßigen Bestand der Garnisonen an den westlichen Grenzen der UdSSR erheblich verstärken“ werde. Zufrieden konnte Schulenburg schon am 6. September nach Berlin telegraphieren: „Presse wie umgewandelt. Angriffe auf Haltung Deutschlands haben nicht nur völlig aufgehört, sondern auch Darstellung außenpolitischer Vorgänge fußt vorwiegend auf deutschen Nachrichtenquellen, aus Buchhandel wird antideutsche Literatur entfernt u. a.“.

Bei der militärischen Zusammenarbeit knüpfte man an die geheime Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee während der Weimarer Republik an, die Hitler hatte einschlafen lassen. Schlüsselfigur auf deutscher Seite war der in Russland geborene Militärattaché General Köstring. Köstring war es, der am 1. September 1939 die Bitte Görings als Chef der Luftwaffe an das Volkskommissariat für Telegraphie weiterleitete, dass der Sender Minsk den deutschen Flugzeugen für ihre Angriffe auf polnische Ziele Navigationshilfen gibt, während Goebbels die östlichen deutschen Sender aus militärischen Gründen hatte abschalten lassen. Die Antwort aus Moskau lautete: „Sowjetregierung ist bereit, dass Rundfunksender Minsk im Laufe des Programms, das zu diesem Zweck um zwei Stunden verlängert werden könnte, möglichst oft das Wort Minsk sendet. Sie bittet anzugeben, ob hierfür bestimmte Zeiten erwünscht sind. Darüber hinausgehende Rufzeichen möchte Sowjetregierung unterlassen, um Aufsehen zu vermeiden.“

Ein kleiner Schatten

Die deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft begann an diesem 1. September. Stalin schickte eine geheime Militärdelegation unter General Purkajew, dem Kommandeur des an Polen angrenzenden Weißrussischen Militärbezirks, die in Schweden von einer Maschine der Luftwaffe abgeholt wurde. Hitler ordnete zum Empfang eine Ehrenkompanie an. Molotow ließ vorsorglich wissen, „dass Sowjetregierung ankündigende Notiz über Ankunft der Sowjetoffiziere in Berlin aus Gründen von deren Sicherheit nicht für zweckmäßig hält“. Drei Tage später drängte Ribbentrop Molotow, „dass russische Streitkräfte sich gegen polnische Streitkräfte in Bewegung setzen und das verabredete Gebiet ihrerseits in Besitz nehmen“. Aber noch spielte man im Kreml auf Zeit. Als jedoch die deutschen Truppen am 9. September unerwartet rasch Warschau erreichten, ließ Molotow nach Berlin telegraphieren: „Übermitteln Sie der Reichsregierung meine Glückwünsche und Grüße.“

Tags darauf erläuterte Molotow dem deutschen Botschafter den sowjetischen Einmarsch. Freimütig eröffnet er ihm, Stalin beabsichtige „das weitere Vordringen deutscher Truppen zum Anlass zu nehmen, um zu erklären, dass Polen auseinanderfalle und Sowjetregierung infolgedessen genötigt sei, den von Deutschland bedrohten Ukrainern und Weißrussen zu Hilfe zu kommen. Mit dieser Begründung soll den internationalen Massen das Eingreifen der Sowjetunion plausibel gemacht und gleichzeitig vermieden werden, dass Sowjetunion als Angreifer erscheint.“

Am 14. September signalisierte Molotow, dass der Einmarsch der Roten Armee bevorstehe. Ribbentrop ließ antworten: „Wir begrüßen das. Sowjetregierung enthebt uns damit der Notwendigkeit, die Reste der polnischen Armee durch Verfolgung bis an die russische Grenze zu vernichten.“ Allerdings nannte er die geplante Begründung – „eine Bedrohung der ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung durch Deutschland“ – schlicht unmöglich: „Das würde im Gegensatz zu dem beiderseitigen Wunsch nach Herstellung freundschaftlicher Beziehungen Deutschland und die UdSSR vor der Welt als Gegner in Erscheinung treten lassen.“ Das war in der Tat der Kern des raffinierten sowjetischen Verschleierungsmanövers. Molotow hatte ja nicht ohne Grund gegenüber Schulenburg eingeräumt, dass diese Begründungskette „für das deutsche Empfinden einen kleinen Schatten enthalte, aber mit Blick auf die schwierige Lage der Sowjetregierung gebeten, über diesen Strohhalm nicht zu stolpern“.

Dem Zynismus ausgeliefert

Um zwei Uhr nachts wurde Schulenburg am 17. September zu Stalin in den Kreml gerufen. Im Beisein von Molotow und dem Verteidigungskommissar Woroschilow eröffnete ihm der Herrscher, dass die Rote Armee vier Stunden später die Grenze zu Polen überschreiten werde. Er bat um Zurückhaltung der deutschen Luftwaffe, signalisierte, dass eine sowjetische Militärkommission zur Feinabstimmung umgehend in Bialystok eintreffen werde, und regte an, künftig militärische Fragen auf oberster Ebene zwischen Woroschilow und Köstring zu regeln.

Zur Legitimation des Einmarsches präsentierte Stalin der Welt das zuvor abgestimmte Argumentationspaket, das Goebbels in seinem Tagebuch „sehr originell“ nannte. Stalin operierte weiter mit dem für die UdSSR bedrohlichen Zerfall des Nachbarstaates und mit der Schutzbedürftigkeit der „blutsmäßig verwandten Ukrainer und Weißrussen“, die nunmehr aber nicht der Willkür der Deutschen, sondern der „Willkür des Schicksals“ wehrlos ausgeliefert seien. Ansonsten behauptete er dreist „die volle Wahrung der Neutralität im gegenwärtigen Konflikt“. Die Note schloss mit einer zynischen Wendung: „Gleichzeitig beabsichtigt die Sowjetregierung alle Maßnahmen zu treffen, um das polnische Volk aus dem unglückseligen Krieg herauszuführen, in den es durch seine unvernünftigen Führer gestürzt wurde, und ihm die Möglichkeit zu geben, sein friedliches Leben wiederaufzunehmen.“

Churchills Kalkül

Der sowjetische Einmarsch im Herbst 1939 in Ostpolen war eine gewagte Operation. Um ein Haar, so betonte Jakowlew in der erwähnten Rede 1989, sei die UdSSR einem Zusammenstoß mit England und Frankreich entgangen. Weshalb erklärte England jetzt nicht der Sowjetunion den Krieg wie Deutschland vierzehn Tage zuvor? Weshalb fiel der internationale Protest schwach und halbherzig aus, warum wurde die UdSSR erst im Dezember 1939 nach dem Überfall auf Finnland als Aggressor verurteilt und aus dem Völkerbund ausgeschlossen? Weil Stalin seine Truppen im Windschatten Deutschlands oder besser hinter dem Eisernen Vorhang von Wehrmacht und SS operieren ließ, weil die geschickt gewählten, verhüllenden Begründungen verfingen und auch den Interessen der Westmächte entgegenkamen.

Winston Churchill durchschaute das Spiel. In seiner monumentalen Weltkriegsgeschichte bemerkte er, die Sowjets hätten sich 1939 ihre osteuropäischen Territorialgewinne „mit Gewalt und Betrug“ angeeignet. Für ihn aber war Deutschland der Hauptfeind. Auch noch der UdSSR den Krieg zu erklären überstieg die begrenzten britischen Kräfte bei weitem. Außerdem entsprach die am 22. September vorgestellte deutsch-sowjetische Demarkationslinie – die insgeheim ja schon am 23. August verabredet worden war – in etwa jener Linie, die eine Kommission unter Lord Curzon 1919 als ethnisch angemessene Ostgrenze Polens bezeichnet hatte. Churchill hatte die Hoffnung, irgendwann werde England die Sowjetunion als Verbündeten gewinnen. Dass er, als es so weit war, Stalins Beute in Polen und im Baltikum garantierte, dass er sogar noch weitere Teile Mittel- und Osteuropas der sowjetischen Hegemonialsphäre zuschlagen sollte, steht auf einem anderen Blatt.

Anerkennung unter Diktatoren

Der sowjetische Einmarsch war für alle politisch Interessierten die zweite Erschütterung nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Das Geheimnis des Zusatzprotokolls kannten selbst im Oberkommando der Wehrmacht nur wenige. Als General Jodl mitgeteilt wurde, die Rote Armee habe mit ihrem Vormarsch begonnen, fragte er verblüfft: „Gegen wen?“ Roman Frister und andere vor den deutschen Truppen nach Ostpolen geflohene Juden haben von dem tiefen Entsetzen berichtet, als sich herausstellte, dass die sowjetischen Soldaten nicht als Befreier und Beschützer, sondern als Besatzer und Verbündete der Wehrmacht einrückten, ihre Panzer das Feuer auf die Reste der polnischen Armee eröffneten. Ihre Beutepartnerschaft wurde am 22. September in einem makabren Militärprotokoll fixiert, in dem es heißt: „Falls deutsche Vertreter beim Kommando der Roten Armee Hilfeleistungen anfordern zwecks Vernichtung polnischer Truppenteile und Banden, wird das Kommando der Roten Armee die zur Vernichtung der Widerstände nötigen Kräfte zur Verfügung stellen.“ An diesem Tag nahmen die Panzergeneräle Guderian und Kriwoschein in Brest-Litowsk die erste gemeinsame Militärparade in Polen ab, wurden feierlich Hakenkreuz- und Rote Fahne ausgetauscht, verwundete, von sowjetischen Ärzten versorgte versprengte Wehrmachtssoldaten übergeben.

Nach der polnischen Niederlage wurden am 28. September ein deutsch-sowjetischer „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ und weitere geheime Zusatzvereinbarungen unterzeichnet. Litauen fiel nach kurzer telefonischer Rücksprache mit Hitler – Stalin dazu: „Er versteht sein Handwerk“ – an die UdSSR. Binnen Jahresfrist wurden Estland, Lettland und Litauen Sowjetrepubliken. Ribbentrop war für diesen neuerlichen Vertragsabschluss wieder nach Moskau gereist. Die Stimmung im Kreml ist ausgelassen, das abendliche Diner im prächtigen Andreewski-Saal umfasst 24 Gänge. Es servieren jene Kellner aus dem berühmten Hotel Monopol, die auch Churchill und Roosevelt in Jalta bedienen werden. Stalin brachte, Molotow zuzwinkernd, einen Toast aus: „Trinken wir auf den Komintern-Gegner Stalin.“ Anschließend forderte er Ribbentrop auf, sein Glas auf Kaganowitsch, den stellvertretenden Vorsitzenden im Rat der Volkskommissare, zu erheben – einen Juden. Ein „Spaß“ ganz nach Stalins Gusto. Aber Ribbentrop fühlte sich wohl. Als er nach seiner Rückkehr in Hitlers Entourage gefragt wurde, wie es denn diesmal im Kreml gewesen sei, antwortete er: „Wie unter Parteigenossen.“

Deutsch-russischer Schulterschluss

Die Folgen des engen Zusammenwirkens der beiden Mächte sind weitreichend – und für die Betroffenen in den neuen Besatzungsgebieten gleichermaßen fatal. Nach außen hin unterstützte die Sowjetunion die nach dem Polen-Feldzug einsetzenden Friedensbemühungen Hitlers, erklärte Briten und Franzosen zu den eigentlichen Aggressoren, weil sie für eine Fortsetzung des Krieges eintraten. Molotow betonte am 31. Oktober 1939 vor dem Obersten Sowjet, es sei von beiden Westmächten „nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg zur ‚Vernichtung des Hitlerismus‘ zu führen, getarnt als Kampf für die Demokratie“.

Hinter dem Propagandavorhang wurde die militärische und geheimdienstliche Kooperation weiter intensiviert, bis hin zu geheimen Flottenstützpunkten der Kriegsmarine in der Nähe von Murmansk und Wladiwostok. Gestapo und NKWD begannen, sich abzustimmen – mehrere hundert deutsche und österreichische Kommunisten wurden von Stalin an Hitler ausgeliefert. Übergabepunkt ist stets Brest-Litowsk. Hier wurden Menschen ebenso ausgetauscht wie die endlosen Warenmengen gemäß den immer weiter verfeinerten Lieferverpflichtungen.

In den neuen „Reichsgauen“ Wartheland und Danzig-Westpreußen und im Generalgouvernement setzten ebenso wie in der sowjetisch besetzten Zone Polens im Zuge von „Germanisierung“ beziehungsweise „Bolschewisierung“ gewaltige Menschenjagden und -verschiebungen ein. Sowohl von deutscher wie sowjetischer Seite wurden Geistliche, Offiziere, Adlige, Intellektuelle verschleppt oder ermordet, um Polen im Kern zu vernichten. Der Anfang Oktober von Hitler zum „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ ernannte Himmler begann mit der Umsetzung mörderischer „Nah- und Fernpläne“, wischte zaghafte Proteste der Wehrmacht, etwa die mahnende Denkschrift von Generaloberst Blaskowitz, beiseite, konnte sich dabei auf die überwiegend von der SS gestellten Chefs der neuen „Zivilverwaltungen“ stützen. Polen, Juden, Zigeuner sind als Angehörige „minderwertiger Bevölkerungsgruppen“ der Willkür der ersten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Rasse- und Siedlungshauptamtes wehrlos ausgeliefert, werden bereits vieltausendfach ermordet oder gettoisiert.

Tarnkappe des Antifaschismus

Aber auch die Bolschewiki exportierten Hass und Xenophobie. Der sowjetische Himmler hieß Chruschtschow. Als Erster Sekretär der Ukraine setzte er zusammen mit dem NKWD-Chef Serow eine Verfolgungsmaschinerie in Gang. In mehreren Wellen wurden bis zum November 1940 1,2 Millionen Menschen deportiert, ein Drittel kam um. 60.000 Personen wurden inhaftiert, 50.000 als „Todfeinde der Sowjetmacht“ sofort erschossen. Über das Schicksal der rund 14.700 gefangenen polnischen Offiziere, Grundbesitzer, Polizisten und 11.000 „Konterrevolutionäre“ aus den drei großen sowjetischen Speziallagern Ostaschkow, Kosielsk und Starobielsk entscheidet das Politbüro am 5. März 1940: Tod für „Saboteure und Spione“, Deportation aller Angehörigen. Stalin setzte als Erster seinen Namen unter die Verfügung. Achtundzwanzig Tage lang werden daraufhin von drei NKWD-Tschekisten allein im Lager von Ostaschkow täglich 250 der todgeweihten Polen erschossen. Zur Verdeckung der Spuren benutzte man deutsche Walther-Pistolen. 7000 Leichen wurden an verschiedenen Stellen vergraben, ein Teil blieb für immer verschwunden, 4500 Opfer aus dem Lager Kosielsk verscharrte man im Wald von Katyn.

Mit diesem Namen schließt sich unser Kreis. Was für die geheimen Vereinbarungen Stalins mit Hitler gilt, trifft auch für Katyn zu. Es ist ein weiterer weißer Fleck im russischen Geschichtsbild. Bis zur Ära Gorbatschow suchte man in der Sowjetunion den Massenmord nach seiner Entdeckung 1943 den Deutschen in die Schuhe zu schieben. Seit sich Stalin die Tarnkappe des Antifaschismus nach dem deutschen Angriff wieder aufsetzen konnte, hatte keine sowjetische Regierung mehr auf sie verzichtet – bis zu Gorbatschow. Seinem Eingeständnis ist mittlerweile wieder die neuerliche Tabuisierung gefolgt. Aber auch in Deutschland gibt es in Verbindung mit der hier behandelten rot-braunen Beutepartnerschaft ein mächtiges Tabu. In unserem Land darf man nicht wie François Furet in Frankreich feststellen: „Hitler und Stalin haben den Krieg gemeinsam begonnen.“

Daniel Koerfer lehrt als Honorarprofessor Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihm: „Hertha unter dem Hakenkreuz. Ein Berliner Fußballclub im Dritten Reich“ (2009).

Text: F.A.Z. (17.September 2009, S.33)

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