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Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft (lange Version)

Der weiße Fleck

 

Der Antifaschismus war Stalins wichtigste internationale Tarnkappe. Er verbarg und legitimierte zugleich die Menschheitsverbrechen des Regimes. Doch zwischen dem 23.August 1939 und dem 22.Juni 1941, der Zeit zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt und dem deutschen Überfall auf die UdSSR, wurde die Tarnkappe im Kreml beiseite gelegt. In diesen 22 Monaten war plötzlich das Gegenteil politisch richtig, gewollt und angemessen und wurde von der Komintern auch international propagiert. Das ging soweit, dass im Sommer 1940 Vertreter der französischen Kommunisten beim deutschen Besatzungsbotschafter Abetz nachfragten, unter welchen Umständen das Parteiblatt „L’Humanité“ im besetzten Frankreich weiter erscheinen könne.  Diese 22 Monate der deutsch-sowjetischen Beutepartnerschaft haben Europa nachhaltig verändert und bis 1991 tief geprägt.

   Am Anfang steht der Schock - der Pakt zwischen den ideologischen Todfeinden. Die Plötzlichkeit der Wendung erschreckt alle  politisch Interessierten - jedem wird am 24.August 1939 klar, dass die Tür zum großen Krieg weit aufgestoßen worden ist. Für viele altgediente Sozialisten ist es schlichtweg Verrat, den Stalin begeht. Hans Werner Richter gräbt voller Wut die versteckten Parteibücher seiner illegalen KPD-Ortsgruppe aus und verbrennt sie. Jürgen Kuczynski allerdings kauft sich im London Exil eine große Zigarre „zur Feier des Paktes, der die UdSSR aus dem möglichen Krieg heraushalten kann“, wie er sich später erinnert.

   Dass die beiden Diktatoren in einem geheimen Zusatzprotokoll einen Angriffsvertrag gegen Polen geschlossen und die Aufteilung Osteuropas unter  sich „geregelt“ hatten, sollte die Welt lange nicht wissen. Als Alfred Seidl, der deutsche Verteidiger von Hans Frank und Rudolf Hess, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1946 das ihm vermutlich von amerikanischer Seite zugespielte streng geheime Zusatzprotokoll als nachhaltiges Entlastungsdokument in den Prozess einführen will – beim Anklagepunkt „Eröffnung eines Angriffkrieges“ wäre plötzlich die  sowjetische Siegermacht mit in den Fokus gerückt –, droht der sowjetische Anklagevertreter, General Rudenko, den Prozess platzen zu lassen, wenn diese „Fälschung“ tatsächlich Eingang in die Prozessakten finden würde. Doch es ist eine kleine Zeitung aus Präsident Trumans Heimatstaat Missouri, die „Saint-Louis Post-Dispatch“, die am 23.Mai 1946 erstmals das geheime Zusatzprotokoll publiziert.  

   In den sowjetischen Archiven jedoch werden die Spuren verwischt. Das Original des geheimen Zusatzprotokolls bleibt in Moskau für immer verschollen. Heute, da von manchen russischen Historikern in einer bizarren Neuauflage der Vorwürfe Molotows aus dem Herbst 1939 abermals den intransigenten, wenig kompromissbereiten Polen die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben wird und man Stalin in jüngsten Umfragen als den bedeutendsten Staatsmann des Landes im 20.Jahrhundert feiert, wird die Erinnerung an jene 22 Monate in Russland neuerlich zum weißen Fleck (F.A.Z. vom 30.Juni „Eiserne Ration“).

   Das war nicht immer so. Man kann in der vorzüglichen Edition von Christian Haas zum „23.August 1939“ die Erklärungen nachlesen, die der Gorbatschow-Vertraute Alexander Jakowlew im Dezember 1989 vor dem Kongress der Volksdeputierten der UdSSR abgegeben hat, wo er erstmals öffentlich einräumt: „Das geheime Zusatzprotokoll vom 23.August 1939 hat existiert. Die daraus folgenden Ereignisse haben sich zudem ‚protokollgemäß’ entwickelt“. Es war ein schmerzliches Eingeständnis nach fünf Jahrzehnten offiziellem Leugnen. Für Jakowlew ist das „Geheimprotokoll eine der gefährlichsten Verzögerungsminen auf dem uns vom Stalinismus als Erbe hinterlassenen Minenfeld“. Dieses Minenfeld ist noch nicht geräumt. Die im Folgenden aufscheinenden Quellenstücke sind im heutigen Russland tabu, können derzeit nicht durch dortige Archivstücke “gespiegelt“ werden.

   Blenden wir zurück ins letzte Friedenjahr der Zwischenkriegszeit. Zwischen den Westmächten und Hitler hat der Wettlauf nach Moskau begonnen. Dass Arthur Rosenberg, der „Ost-Experte“ des NS-Regimes, bereits am 7.Februar 1939 einen Vortrag vor dem diplomatischen Korps und der Auslandspresse hält mit dem Titel „Müssen weltanschauliche Kämpfe zwangsläufig staatliche Feindschaften ergeben?“, darf man im Rückblick getrost als eines der ersten fein abgestimmten Signale werten, mit denen das merkwürdige deutsch-sowjetische Ping-Pong beginnt, das in Nichtangriffspakt und Geheimes Zusatzprotokoll mündet. Stalin „antwortet“ einen Monat später mit seiner „Kastanienrede“, wo er die bürgerlich-kapitalistischen Westmächte England und Frankreich aller Appeasement-Signale zum Trotz bezichtigt, die „faschistischen Mächte“ Japan und Deutschland in einen Krieg mit der Sowjetunion hineinzutreiben und erklärt, die UdSSR werde für die Kapitalisten nicht die Kastanien aus dem Feuer holen. War das so falsch? Hätte nicht die UdSSR schon 1939 die Hauptlast eines Krieges gegen Nazi-Deutschland zu tragen gehabt, so wie sie es nach 1941 tatsächlich tat?

   Hitler lässt unmittelbar darauf die „Resttschechei“ besetzen, greift erstmals auf Territorien über, die nicht von erheblichen deutschen Bevölkerungsgruppen bewohnt sind. England und in seinem Schlepptau Frankreich, wenn auch widerwillig und über „la gouvernante anglaise“ murrend - „mourir pour Danzig?“ ist nicht nur in Paris eine wenig verlockende Vorstellung – garantieren daraufhin die Existenz Polens, was Hitler zum Vorwand nehmen wird, um den deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag von 1934 aufzukündigen, den Druck auf Polen zu erhöhen. In Warschau setzt man aber auf die Westmächte, bleibt in der Danzig- und Korridorfrage unnachgiebig, verwirft alle Offerten des „Führers“, sich gegen den in Polen ja durchaus gefürchteten Bolschewismus zusammenzutun.

   Im unmittelbaren Angesicht des Krieges wird England am 25.August 1939 tatsächlich erstmals in seiner Geschichte einen förmlichen Bündnis- und Beistandspakt mit einem osteuropäischen Staat, mit Polen, eingehen. Hitler stoppt deshalb - und weil Mussolini plötzlich nicht mittun will - seinen Angriffsbefehl für das Wochenende (wie bei fast allen seiner Coups wählt er auch diesmal für die Eröffnung ein Wochenende, weil dann die Apparate der Gegenseiten Pause machen). Aber die Verachtung für die Westmächte und ihre „schwächlichen Führer“ Chamberlain und Daladier, die ihm nicht nur in München überaus konzessionsbereit begegnet waren, gewinnt bald wieder die Oberhand. Er rechnet nicht mit einer britischen Kriegserklärung nach einem deutschen Angriff auf Polen. Als Göring warnend meint, man solle hier nicht „Vabanque spielen“, lautet Hitlers bezeichnende Antwort: „Ich habe immer Vabanque gespielt“. Dass die förmliche und formvollendete britische Kriegserklärung - Außenminister Halifax wird sie mit "your obedient servant“ unterzeichnen - am 3.September eintrifft, ist für Hitler und seine Entourage ein erster Dämpfer. Allerdings bleibt sie zunächst folgenlos, denn abgesehen von der Verhängung einer Seeblockade setzen weder England noch Frankreich Truppen gegen Deutschland in Marsch.

   „Vabanque“ spielt Hitler auch gegenüber Stalin. Während die Westmächte eher halbherzig mit dem sowjetischen Diktator verhandeln, Polen und Rumänen im Bündnisfall der Roten Armee kein Durchmarschrecht einräumen wollen, weil sie eine dauerhafte Besatzung fürchten, konzediert Hitler im Herbst 1939 Stalin, was die Westmächte nicht konzedieren können: Gewaltigen Land- und Menschengewinn. Hitler tut dies in der Erwartung, die dadurch halbierte polnische „Beute“ leichter einstreichen und zugleich später einmal alle an Stalin abgetretenen Gebiete wieder einkassieren zu können, wenn es an den für ihn zentralen und eigentlichen Krieg geht, den Rasse- und Lebensraumkrieg im Osten gegen die riesige Sowjetunion, die er bei aller Bewunderung für die Härte und Brutalität des „wirklichen Revolutionärs“ im Kreml  für schwach hält und reif für den Zusammenbruch. Stalin wiederum greift entschlossen zu – das von Lenin hochgehaltene Selbstbestimmungsrecht der Völker zählt jetzt ebenso wenig wie die Erklärung von 1930, dass die Sowjetunion keinerlei Territorialansprüche geltend mache. Beide Diktatoren gewinnen zudem durch die gemeinsame Allianz einen der wichtigsten politischen Rohstoffe überhaupt: Zeit. Zeit für weitere Aufrüstung, Zeit für die Restrukturierung einer durch die vieltausendfache Hinrichtungen im Offizierskorps teilweise enthaupteten Roten Armee. Zeit bis zum Krieg gegeneinander, den Hitler will und Stalin erwartet.

   Zugleich schützen sich beide Diktatoren jeweils vor einem Zweifrontenkrieg. Hitler bekommt die Armeen frei für den möglichen Westfeldzug. Stalin verschiebt durch die Vereinbarungen mit dem deutschen Diktator sein „Glacis“ weit nach Westen und muss ihn – das wiegt die neue deutsch-sowjetische Grenze bei weitem auf - erst einmal nicht mehr fürchten. Dass am 20.August 1939 an der mandschurisch-mongolischen Ostgrenze der Sowjetunion eine der ersten grossen Panzerschlachten der Moderne begonnen hat - die gegen Japan am Ende siegreichen sowjetischen Verbände kommandiert übrigens mit General Schukow ausgerechnet jener Mann, der sie fast sechs Jahre später siegreich nach Berlin führen wird –, hat man im Westen damals wie so vieles aus dem roten Reich kaum wahrgenommen, spielt aber für den Diktator im Kreml und seine engsten Berater Molotow, Verteidigungskommissar (Minister) Woroschilow, und die Militärs Schaposchnikow, Kulik und Mechlis eine beträchtliche Rolle.

   Stalin bekleidete damals kein Regierungsamt. Den Vorsitz im Rat der Volkskommissare als Nachfolger Molotows – dieser bleibt weiterhin Aussenkommissar – wird er erst im Sommer 1941 übernehmen. Noch bezieht er all seine Macht aus der Position des Sekretärs der KPdSU,  hat als solcher die Weichen im Frühjahr 1939 auf Kooperation mit Hitler gestellt. Entscheidendes Signal in Richtung Berlin ist Anfang Mai die Ablösung Litwinows als Volkskommissar des Auswärtigen. Nicht allein, weil der verbindliche Litwinow Jude war und als Verfechter eines Konzepts der Westorientierung und „kollektiven Sicherheit“ galt, massgeblich etwa 1934 den Eintritt der UdSSR in den Völkerbund und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den USA eingefädelt hatte. Sondern auch, weil Litwinow mit einer Engländerin verheiratet war.

   Stalins Schachzug, Litwinow brüsk abzuschieben und durch seinen engsten Vertrauten Molotow zu ersetzen, verstand Hitler sofort. „Das war das Zeichen, dass Stalin es ernst mit uns meinte“, wird er später zu Goebbels sagen. Es folgen Handels- und Kreditvereinbarungen, von Karl Schnurre aus dem AA ausgehandelt und bereits mit geheimen Zusätzen versehen, die den sofortigen Rücktransfer eines Teils der offiziell vereinbarten sowjetischen Zinsen auf russische Sonderkonten in Berlin vorsehen. Es sind – trotz Antikominternpakt - die ersten heimlichen Werbegeschenke eines ungeduldig aufs Losschlagen drängenden Hitler an Moskau. Es folgt Ribbentrops Verhandlungsnacht im Kreml vom 23. auf den  24.August. Im vom Leiter der Rechtsabteilung des AA, Gaus, entworfenen geheimen Zusatzprotokoll wird „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung Osteuropas“ – eine verlogene Umschreibung für den unmittelbar bevorstehenden Krieg, im Kreml kennt man Hitlers Angriffsbefehle, den Operationsplan „Fall Weiss“ -  die Grenze der deutsch-sowjetischen Interessensphäre festgelegt. Für Polen soll sie entlang der Flüsse Narew, Weichsel, San verlaufen. Das Baltikum mit Ausnahme Litauens – das wird erst am 28. September 1939 in einem neuerlichen Geheimen Zusatzprotokoll von Hitler an Stalin ausgeliefert – soll ebenso wie Finnland in die sowjetische „Sphäre“ fallen.

   Was bedeutet das alles? Es bedeutet kalte Grossmachtpolitik hinter dem Rücken und auf Kosten abwesender Drittstaaten mit Millionen von Menschen, bedeutet, dass München sich in Moskau wiederholt. Bedeutet die vierte Teilung Polens. Stalin bekommt die Chance, jene territorialen Verluste wieder wettzumachen, die im Diktatfrieden von Brest-Litowsk – die deutschen Armeen hatten das zaristische Russland besiegt, diese „Erfahrung“ lebt im deutschen Generalstab durchaus noch fort -, in Versailles und im Frieden von Riga 1921 verloren gegangen waren, nachdem der Vorstoss der Roten Armee nach Westen bei Warschau gestoppt worden war.

   Doch zurück in den Herbst 1939. Die Moskauer Dokumente wurden signiert. In der Sowjetunion wurde auf deutschen Wunsch ein rasanter Ratifizierungsprozess in Gang gesetzt – die Delegierten des Obersten Sowjet mussten eilends nach Moskau beordert werden, während Hitler seit dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 derlei Verfahren nicht mehr benötigt, alleinverantwortlich „ratifizieren“ kann. Auf deutscher Seite mussten alle Beamten und Angestellten, die vom „Geheimen Zusatzprotokoll“ Kenntnis erhalten hatten, eine besondere Geheimhaltungsverpflichtung abzeichnen. Hitler vollzog nun, was er am 22.August – mit dem unmittelbar bevorstehenden Paktschluss als Trumpfkarte – seiner versammelten Generalität angekündigt hatte: „Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Herz verschliessen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Millionen Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muss gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Grösste Härte…“. Diese vom Rassen- und Raumwahn bestimmten Äusserungen Hitlers verweisen bereits auf den enthemmten Charakter des Krieges, der mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen am Freitag, dem 1.September beginnt und für den der durch Heydrichs SS unter dem zynischen Codenamen „Konservendose“ mit KZ-Häftlingsleichen in polnischen Uniformen fingierte „polnische“ Überfall auf den Sender Gleiwitz den angekündigten „Anlass“ liefern wird.   

   Hinter den Kulissen nimmt eine erstaunlich intensive deutsch-sowjetische Kooperation ihren Anfang. Hitler erklärt Goebbels, man knüpfe darin an die Bismarckzeit an. Das war nicht einmal ganz falsch. Jedenfalls wird im AA und in der deutschen Botschaft in Moskau fürderhin immer wieder Bismarcks Satz zustimmend zitiert, den Ribbentrop nach seiner Rückkehr aus Moskau in seinem Kommuniqué verwendet hatte, bzw. der ihm hineingeschrieben worden war: „Deutschland und Russland ist es früher immer schlecht gegangen, wenn sie Feinde waren, aber gut, wenn sie Freunde waren“.

   In der kleinen deutschen Mannschaft in der Botschaft in Moskau ist diese Einschätzung verbreitet, ergänzt um die „Rapallo-Tradition“. Botschafter Friedrich Werner Graf von der Schulenburg - er wird nach dem 20.Juli hingerichtet werden - steht hier in einer Kontinuitätslinie mit seinen  Vorgängern Brockdroff-Rantzau, von Dirksen und Nadolny. Aber auch seine engsten Mitarbeiter Gustav Hilger, der als versierter Dolmetscher bei allen Verhandlungen Ribbentrops mit Stalin und Molotow dabei ist,  Hans von Herwarth und Ernst Köstring stehen in dieser Tradition, bewerten Stalins Wirken ambivalent. Vom millionenfachen Mord an den Kulaken wissen sie wenig, die GULAG-Welten sind ihnen weitehend verborgen geblieben, aber das Grauen der tausendfachen Schauprozesse und Todesurteile ist ihnen trotz aller raffinierten sowjetischen Presselenkung und -Steuerung nur zu präsent. Dennoch sehen und würdigen sie die Leistungen und Fortschritte der Stalin-Zeit, halten deren Schattenseiten, gerade weil sie ihr Ausmass nicht kennen, für brutale, aber unvermeidliche Begleiterscheinungen einer Entwicklungsdiktatur.

   Die beiden Diktatoren, die sich persönlich nie begegnen sollten, benötigen jetzt ihre intensiven Vermittlerdienste – zum letzten Mal, denn je länger der Krieg dauert, desto geringer wird die Bedeutung der deutschen Diplomatie, die bald auf Handreichungen bei der mörderischen europaweiten Judenjagd herabsinken wird. Wenn Ribbentrop 1944 in seinem Hauptquartier im ostpreussischen Steinort morgens lautstark verkündet: „Zum Führer“, fährt ihn sein Fahrer stattdessen anschliessend – in den Wald. Hitler hat längst keinen Bedarf mehr für die verachteten Diplomaten, die ihm wie die Juristen eigentlich stets lästige Bedenkenträger und Bremser gewesen sind. 

   Im Herbst 1939 profitiert er allerdings von der intensiven diplomatischen Aktivität der deutschen Gesandtschaft in Moskau. Tatsächlich gibt TASS auf geheime deutsche Bitte am 30.August bekannt – Polen hat inzwischen die Generalmobilmachung ausgerufen -, dass die UdSSR keineswegs 200.000-300.000 Mann zur Verstärkung der fernöstlichen Grenzen abgezogen, sondern im Gegenteil „das sowjetische Kommando beschlossen habe, den zahlenmässigen Bestand der Garnisonen an den westlichen Grenzen der UdSSR zu verstärken“. Das erinnerte tatsächlich stark an die russische „Hilfe“ für Bismarck während der Einigungskriege. Zufrieden kann Schulenburg schon am 6.September nach Berlin telegraphieren: „Presse wie umgewandelt. Angriffe auf Haltung Deutschlands haben nicht nur völlig aufgehört, sondern auch Darstellung aussenpolitischer Vorgänge fusst vorwiegend auf deutschen Nachrichtenquellen, aus Buchhandel wird antideutsche Literatur entfernt u.a.“.   

   Bei der militärischen Zusammenarbeit wird nahtlos angeknüpft an die geheime Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee, die einst Anfang der Zwanziger Jahre von Hans von Seeckt eingeleitet worden war, um die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrages umgehen zu können und die erst Hitler hatte einschlafen lassen. Schlüsselfigur auf deutscher Seite ist der in Russland aufgewachsene Militärattaché in Moskau, General Ernst Köstring, der einst Seeckts Adjutant und dann der Nachfolger Oskar Ritter von Niedermayers als Verbindungsoffizier zur Roten Armee gewesen war. Köstring ist es, der am 1.September 1939 die Bitte des Chefs des Generalstabs der deutschen Luftwaffe, Generalleutnant Martini, an das Volkskommissariat für Telegraphie weiterleitet, dass der Sender Minsk den deutschen Flugzeugen für ihre Angriffe auf Polen Navigationshilfen gibt, während Gobbels und vermutlich auch die polnische Seite Anweisung gegeben haben, einen Teil der eigenen Sender aus militärischen Gründen abzuschalten. Die Antwort aus Moskau lautet: „Sowjetregierung ist bereit, Wünschen dergestalt entgegenzukommen, dass Rundfunksender Minsk im Laufe des Programms, das zu diesem Zweck um zwei Stunden verlängert werden könnte, möglichst oft das Wort „Minsk“ sendet. Sie bittet anzugeben, ob hierfür bestimmte Zeiten besonders erwünscht sind. Darüber hinausgehende Rufzeichen möchte Sowjetregierung unterlassen, um Aufsehen zu vermeiden.“ Die deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft hat an diesem 1.September 1939 begonnen. Auch die Sowjetunion bereitet sich auf den Krieg vor, führt an diesem Tag die allgemeine Wehrpflicht ein, wird innerhalb von knapp  drei Wochen rund 3 Millionen Soldaten zu den Waffen rufen.        

    Stalin schickt jetzt eine geheime hochrangige Militärdelegation nach Berlin, angeführt von General Maxim Alexejewitsch Purkajew, einem altgedienten, loyalen Offizier, im russischen Bürgerkrieg Bataillonschef, der in der Zeit der Staatsmorde 1938 zum Chef des Stabes des Weissrussischen Militärbezirks aufgestiegen war. Diese Delegation, die die militärische Zusammenarbeit fixieren soll, wird in Schweden am 1.September von einer Maschine der Luftwaffe abgeholt – Hitler selbst ordnet für ihren Empfang eine Ehrenkompanie an. Vorsorglich lässt Molotow am 2.September wissen, „dass Sowjetregierung ankündigende Notiz über Ankunft der Sowjetoffiziere in Berlin aus Gründen von deren Sicherheit nicht für zweckmässig hält“. Ribbentrop, offenbar nicht in alle Details der militärischen Kooperation eingeweiht, beauftragt am 3.September Schulenburg in Moskau, bei Molotow darauf zu drängen, „dass russische Streitkräfte sich zur gegebenen Zeit gegen polnische Streitkräfte in Bewegung setzen und das Gebiet ihrerseits in Besitz nehmen“. Überdies will er wissen, „ob wir diese Sache mit hier angekommenen Offizieren besprechen können und wie deren Stellung überhaupt von der Sowjetregierung gedacht ist?“ Molotow antwortet einen Tag später, dass Purkajew ebenso wie der Nachfolger Astachows, der gerade neu ernannte Sowjetbotschafter A. A. Schkvartzev „in grossen Zügen in das Wesen der deutsch-sowjetischen Abmachungen eingeweiht sei. Trotzdem bitte er, alle wichtigen Fragen nach wie vor nur mit ihm an der Urquelle zu behandeln.“ 

   Das Geheime Zusatzprotokoll war vermutlich in Moskau wirklich nur wenigen bekannt. Dem deutschen Drängen setzen  Molotow und Stalin entgegen, der „Zeitpunkt“ für konkrete sowjetische Militäraktionen sei noch nicht „herangereift“.  Im Kreml spielt man noch auf Zeit. Die Einsatzpläne für die über 620.000 Soldaten, rund 4.700 Panzer und etwa 3.300 Kampfflugzeuge der Roten Armee – das entspricht etwa der Hälfte der deutschen Truppenstärke - müssen erst ausgearbeitet werden.  Je stärker die Wehrmacht die polnische Armee bis zum eigenen Einmarsch schwächt, desto besser. Allerdings rücken die deutschen Truppen unerwartet schnell vor. Nachdem er am 9.September erfahren hatte, dass deutsche Truppen bereits Warschau erreichten - bis zum Fall der Stadt nach erbitterten Kämpfen und grossen Verwüstungen durch deutsche Luftangriffe sollte es noch bis zum 28.September dauern – lässt Molotow nach Berlin mitteilen: “Übermitteln Sie der Reichsregierung meine Glückwünsche und Grüsse“.

   Einen Tag später kommt es zu einer entscheidenden Unterredung zwischen Molotow und Schulenburg. Der sowjetische Aussenminister räumt ein, dass „(die) Sowjetregierung durch unerwartet schnelle deutsche militärische Erfolge völlig überrumpelt“ worden sei und die eigenen Militärs dadurch in eine schwierige Lage gebracht würden, weil sie eigentlich zur Vorbereitung des eigenen Angriffs noch „etwa 2-3 Wochen brauchten“. Schulenburg drängt weisungsgemäss dennoch weiter auf „schnelles Handeln der Roten Armee“. Anschliessend wird offen über eine politische Begründung für den sowjetischen Einmarsch gesprochen. Molotow erklärt Schulenburg freimütig, seine Regierung beabsichtige, „das weitere Vordringen deutscher Truppen zum Anlass zu nehmen um zu erklären, dass Polen auseinanderfalle und Sowjetregierung infolgedessen genötigt sei, den von Deutschland ‚bedrohten’ Ukrainern und Weissrussen zu Hilfe zu kommen. Mit dieser Begründung solle den (internationalen) Massen das Eingreifen der Sowjetunion plausibel gemacht und gleichzeitig vermieden werden, dass Sowjetunion als Angreifer erscheint.“ In jedem Fall dürfe Deutschland keinen raschen Waffenstillstand mit Polen schliessen, weil „die Sowjetunion nicht einen neuen Krieg beginnen“ könne. Ein tolles Beispiel für sowjetische Dialektik: Insgeheim ist man aufs Engste mit dem deutschen Angreifer verbündet, stimmt sich ab, kooperiert – und nimmt gleichzeitig den deutschen Angriff zum Vorwand für die eigene Intervention. Begründet alles obendrein – darin Hitler kopierend - mit Problemen von Minderheiten, um die man sich wenige Wochen zuvor noch keinen Deut gekümmert hat.

   Am 14.September signalisiert Molotow, dass die Marschbereitschaft der Roten Armee früher als angenommen erreicht werden könne. Allerdings soll der Befehl mit Blick auf die politische Begründung erst dann erfolgen, wenn das Regierungszentrum Polens gefallen ist – „Molotow bat daher, ihm so annähernd wie möglich mitzuteilen, wann mit Einnahme Warschaus zu rechnen ist“, berichtet Schulenburg nach Berlin. Doch diese Forderung ist bald vom Tisch. Ribbentrop zeigt sich in seiner Antwort zufrieden, dass die „Sowjetregierung im Begriff ist, ihre Aktion jetzt einzuleiten. Wir begrüssen das. Sowjetregierung enthebt uns damit der Notwendigkeit, die Reste der polnischen Armee durch Verfolgung bis an die russische Grenze zu vernichten.“ Allerdings hält er die geplante Begründung – „eine Bedrohung der ukrainischen und weissrussischen Bevölkerung durch Deutschland“ – schlicht für unmöglich; das würde „im Gegensatz zu dem beiderseitigen Wunsch nach Herstellung freundschaftlicher Beziehungen Deutschland und die UdSSR vor der Welt als Gegner in Erscheinung treten lassen.“ Das war in der Tat der Kern des raffinierten sowjetischen Verschleierungsmanövers. Molotow hatte ja nicht ohne Grund Schulenburg gegenüber am 16.September eingeräumt, dass diese Begründungskette, die in einer Note Polen und allen in Moskau akkreditierten Vertretungen vorgetragen werden sollte, „für das deutsche Empfinden einen kleinen Schatten enthalte, bat aber im Hinblick auf die schwierige Lage der Sowjetregierung, über diesen Strohhalm nicht zu stolpern“.

   Am 17.September wird Schulenburg um zwei Uhr Nachts zu Stalin in den Kreml gerufen. Im Beisein von Molotow und Woroschilow eröffnet der Diktator dem deutschen Botschafter, dass die Rote Armee vier Stunden später die Grenze zu Polen auf der Linie von Polozk bis Kamenec-Podolsk überschreiten werde. Er bittet dringend, dass Flugzeuge der deutschen Luftwaffe die Linie Bialystok-Brest-Litowsk-Lemberg nicht mehr überfliegen, signalisiert, dass eine sowjetische Militärkommmission zur Feinabstimmung mit den deutschen Stäben bereits am nächsten, spätestens übernächsten Tag in Bialystok eintreffen werde, regt überdies an, alle unmittelbar auftauchenden militärischen Fragen zukünftig auf oberster Ebene zwischen Woroschilow und Generalleutnant Köstring zu regeln. Schliesslich ändert Stalin auch noch auf Einwände Schulenburgs hin in der offiziellen sowjetischen Note an die diplomatischen Vertretungen „drei für uns unangenehme Stellen breitwilligst“ ab und stellt die Herausgabe eines gemeinsamen deutsch-sowjetische Kommuniqués in einigen Tagen in Aussicht. Hinter den Kulissen herrscht weiter nationalsozialistisch-sowjetischer „Honeymoon“.

   Zur propagandistischen „Legitimation“ des Einmarsches, bei dem er sich kalt über den sowjetischen Nichtangriffspakt mit Polen hinwegsetzt, präsentiert Stalin das zuvor abgestimmte Argumentationspaket, das Goebbels in seinem Tagebuch voll Bewunderung „sehr originell“ nennen wird. Stalin operiert weiter mit dem für die Sowjetunion bedrohlichen Zerfall des Nachbarstaates – dass der polnische Staatspräsident Moscicki und die polnische Regierung an diesem 17.September nach Rumänien flüchten, kommt ihm dabei durchaus zupass – und mit der Schutzbedürftigkeit der „blutsmässig verwandten Ukrainer und Weissrussen“, die nunmehr nicht der Willkür der Deutschen, sondern der „Willkür des Schicksals“ wehrlos ausgeliefert seien, behauptet ansonsten die „volle Wahrung der Neutralität im gegenwärtigen Konflikt“. Die Note schliesst mit einer Wendung, die an Zynismus kaum zu überbieten ist: „Gleichzeitig beabsichtigt die Sowjetregierung alle Massnahmen zu treffen, um das polnische Volk aus dem unglückseligen Krieg herauszuführen, in den es durch seine unvernünftigen Führer gestützt wurde und ihm die Möglichkeit zu geben, sein friedliches Leben wieder aufzunehmen“. Es ist der gleiche Zynismus, mit dem Stalin im Sommer 1944 die Rote Armee vor Warschau halten lässt, um zuzusehen, wie die polnischen Aufständischen von Wehrmacht und SS niedergemacht werden, weil ihm nicht an Befreiung, sondern an anhaltender Schwächung der Polen gelegen ist.

    Der sowjetische Einmarsch im Herbst 1939 in Ostpolen war eine gewagte Operation. Um ein Haar nur, betonte Jakowlew in seiner bereits erwähnten Rede 1989, sei die UdSSR damals einem „Aufeinanderprallen“ mit England und Frankreich entgangen. Tatsächlich muss man fragen, weshalb England nicht auch der Sowjetunion den Krieg erklärte wie Deutschland vierzehn Tage zuvor? Weshalb der internationale Protest jetzt überhaupt schwach und halbherzig ausfällt, die UdSSR erst im Dezember 1939 nach dem Überfall Finnlands als Aggressor verurteilt und aus dem Völkerbund ausgeschlossen wird? Weil Stalin seine Truppen im Windschatten Deutschlands oder besser hinter dem Eisernen Vorhang von Wehrmacht und SS operieren liess – und weil die geschickt gewählten, tarnenden Begründungen verfingen, den Interessen der Westmächte entgegenkamen.       

   Winston Churchill hat das Spiel durchschaut. In seiner epochalen Weltkriegsgeschichte, die ihm den Literaturnobelpreis eintragen sollte, bemerkt er, die Sowjets hätten sich 1939 ihre osteuropäischen Territorialgewinne angeeignet „by force and fraud“ (mit Gewalt und Betrug). Allerdings blieb für ihn, der mit Kriegsbeginn ins britische Kabinett eintreten, nach Beginn des deutschen Angriffs im Westen im Mai 1940 britischer Premier werden wird, Hitler und Nazi-Deutschland stets der Hauptfeind („the main immediate enemy“). Auch noch der UdSSR nach deren Einmarsch den Krieg zu erklären, überstieg selbst die britischen Kräfte bei weitem, während in Frankreich für die starke Linke die Sowjetunion per se eine „gute Macht“ war und blieb, ganz anders als Nazi-Deutschland. Ausserdem entsprach die am 22.September offiziell vorgesellte deutsch-sowjetische Demarkationslinie – die insgeheim ja schon am 23.August verabredet worden war – in etwa jener Linie, die eine Kommission unter Lord Curzon 1919 als ethnisch angemessene Ostgrenze Polens bezeichnet hatte. Churchill setzte auf die Hoffnung, die unnatürliche deutsch-sowjetische Allianz werde nicht von Dauer sein; irgendwann werde es England gelingen, die Sowjetunion als Verbündeten zu gewinnen. Dass er, als es soweit war, Stalins „Beute“ in Polen und im Baltikum garantierte, dass er sogar noch weitere Teile Mittel- und Osteuropas der sowjetischen Hegemonialsphäre zuschlagen und damit der roten Diktatur ausliefern sollte, steht auf einem andern Blatt.

   Der sowjetische Einmarsch war für alle politisch Interessierten der zweite Schock nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Das Geheimnis des Zusatzprotokolls kannten selbst im deutschen OKW nur wenige. Als General Jodl mitgeteilt wurde, die Rote Armee habe mit ihrem Vormarsch begonnen, fragte er verblüfft: „Gegen wen?“ Roman Frister und andere vor den deutschen Truppen nach Ostpolen geflohene Juden haben von dem tiefen Entsetzen berichtet, als sich herausstellte, dass die Soldaten der Roten Armee nicht als Befreier und Beschützer, sondern als Besatzer und Verbündete der Wehrmacht einrückten, ihre Panzer das Feuer auf die Reste der polnischen Armee eröffneten.

   Am 18.September kommt es zu einer abermaligen nächtlichen Unterredung zwischen Stalin und Schulenburg im Kreml, wo erneut über gemeinsame militärische Kommissionen in Bialystok und gemeinsame Presseerklärungen beraten wird. Bei dieser Gelegenheit äussert Stalin seine Sorge, ob die deutschen Truppen sich tatsächlich an die vereinbarten neuen Grenzen halten würden, weil es „eine bekannte Tatsache (sei), dass alle Militärs eroberte Territorien nicht gern räumten“ – eine Erfahrung, die die Staaten Osteuropas mit der Roten Armee noch machen sollten. Aber im Falle der Wehrmacht traf sie nicht zu. Hitler hielt sich bis zum 22.Juni 1941 präzise an die Vereinbarungen. Die Beutepartnerschaft wird in einem geheimen Militärprotokoll fixiert, das Woroschilow und Köstring am 21.September in Moskau unterzeichnen und wo es unter § 5 heisst: “Falls deutsche Vertreter beim Kommando der Roten Armee Hilfeleistungen anfordern zwecks Vernichtung polnischer Truppenteile oder Banden, wird das Kommando der Roten Armee erforderlichenfalls die zur Vernichtung der Widerstände nötigen Kräfte zur Verfügung stellen“.A n d i e s e m T a g n a h m e n d i e P a n z e r g e n e r ä l e Guderian und Kriwoschein in Brest-Litowsk die erste gemeinsame Militärparade in Polen ab, wurden feierlich Hakenkreuz- und Rote Fahne ausgetauscht, verwundete, von sowjetischen Ärzten versorgte versprengte Wehrmachtsoldaten übergeben.

   Die Allianz wird am 28.Sepember, nachdem die polnische Niederlage feststeht, um einen deutsch-sowjetischen „Grenz- und Freundschaftsvertrag“ und zwei weitere streng geheime Zusatzvereinbarungen ergänzt, die u.a. eine geheimdienstliche Kooperation zur Ausschaltung polnischer Agitation fixieren. Litauen fällt jetzt nach kurzer telefonischer Rücksprache mit Hitler – Stalin dazu: „Hitler versteht sein Handwerk“ - an die UdSSR, die am gleichen Tage noch im Baltikum erste Schritte einleitet, die estische Regierung zwingt, die Stationierung sowjetischer Truppen zuzulassen. Binnen Jahresfrist werden Estland, Lettland und Litauen Sowjetrepubliken sein, Bessarabien und die Bukowina von der Roten Armee besetzt, einem Schicksal, dem Finnland mit knapper Not entkommt. Hitler erhält im Gegenzug des territorialen Geschachers die Woiwodschaften Lublin und Warschau. Ribbentrop ist für den neuerlichen Vertragsabschluss eigens wieder nach Moskau gereist. Die Stimmung im Kreml ist ausgelassen, das abendliche Diner im prächtige Andreewski-Saal umfasst 24 Gänge. Es servieren jene Kellner aus dem berühmten Hotel Monopol, die auch Churchill und Roosevelt in Jalta bedienen werden. Der rote Diktator bringt, Molotow zuzwinkernd, einen Toast aus: „Trinken wir auf den Komintern-Gegner Stalin“. Anschliessend fordert er Ribbentrop auf, sein Glas auf Kaganowitsch, den stellvertretenden Vorsitzenden im Rat der Volkskommissare zu erheben – einen Juden. Ein „Spass“ ganz nach Stalins Gusto. Aber Ribbentrop will sich durchaus wohl gefühlt haben. Als er nach seiner Rückkehr in Hitlers Entourage gefragt wird, wie es denn bei zweiten Besuch im Kreml gewesen sei, antwortet er sichtlich vergnügt: „Wie unter Parteigenossen…“.

    Die Folgen des engen Zusammenwirkens der beiden europäischen Massenmordsysteme sind weitreichend – und für die Betroffenen in den neuen Besatzungsgebieten gleichermassen fatal. Nach aussen hin unterstützt die Sowjetunion die nach dem Polenfeldzug einsetzenden Friedensbemühungen Hitlers, erklärt Briten und Franzosen zu den eigentlichen Aggressoren, weil sie für eine Fortsetzung des Krieges plädieren. Molotow ruft am 31.Oktober 1939 vor dem Obersten Sowjet tatsächlich aus, es sei von beiden Westmächten „nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg zur ‚Vernichtung des Hitlerismus’ zu führen, getarnt als Kampf für die Demokratie“. Hinter dem im Nachhinein verblüffenden Propagandavorhang wird die militärische und geheimdienstliche Kooperation zwischen den beiden Diktaturen intensiviert. In den nächsten Monaten wird die Reichsmarine geheime Flottenstützpunkte, etwa in der Nähe von Murmansk und Wladiwostok, eingeräumt bekommen und über sowjetische Zufuhrschiffe Betriebsstoffe für Kreuzer und U-Boote erhalten sowie die Möglichkeit zur permanenten Stationierung von „Werkstattschiffen“. Gestapo und NKWD beginnen auf schreckliche Weise zusammenzuarbeiten – mehrere hundert deutsche und östereichische Kommunisten werden von Stalin an Hitler ausgeliefert. Margarete Buber-Neumann, die als eine von ganz wenigen sowohl das stalinistische GULAG wie das NS-KZ durchleiden und überleben sollte, hat darüber nach dem Krieg in einem berührenden Band berichtet. Übergabepunkt ist immer Brest-Litowsk. Hier werden Menschen ebenso ausgetauscht wie die endlosen Warenmengen gemäss den immer weiter verfeinerten wechselseitigen Lieferverpflichtungen. Die Sowjetunion liefert bis zum 22.Juni 1941 verlässlich rüstungswichtige Rohstoffe, die sie zuvor teilweise selbst – so bedeutsam ist Stalin die Kooperation mit Hitler – gegen wertvolle Devisen hat erwerben müssen. Vom Reich kommen Industriegüter, Baupläne für Produktionsanlagen, auch einige Rüstungsmaterialien.Zugleich drängt Stalin die Türkei, den Bosporus offenzuhalten, damit das Reich die britische Seeblockade leichter umgehen kann, während Hitler in Tokyo im sowjetisch-japanischen Konflikt vermittelt.

   Sowohl in den deutschen Besatzungsgebieten – in den neuen „Reichsgauen“ Wartheland und Danzig-Westpreussen und im dem Reich nicht unmittelbar angeschlossen Generalgouvernement – wie in der sowjetisch besetzten Zone setzen im Zuge von „Germanisierung“ bzw. „Bolschewisierung“ gewaltige Menschenjagden und -verschiebungen ein. Viehwaggons kommen hier wie dort zum Einsatz. Sowohl von deutscher wie sowjetischer Seite werden Geistliche, Offiziere, Adlige, Intellektuelle verschleppt oder ermordet, um Polen im Kern zu vernichten. Himmler wird Anfang Oktober von Hitler auf eigene Initiative zum „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ ernannt. Sogleich beginnt er mit der Umsetzung mörderischer „Nah- und Fernpläne“, wischt zaghafte Einwände der Wehrmacht, etwa die mahnende Denkschrift von Generaloberst Johannes Blaskowitz beiseite, kann sich dabei auf die überwiegend von der SS gestellten Chefs der neuen „Ziviliverwaltungen“ stützen. Als Schaltzentrale fungiert das am Ende des Polenfeldzugs neu geschaffene Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unter Heydrichs Leitung, wo im Referat IV B 4 Judenreferent Adolf Eichmann bald schon die ersten, mörderischen Umsiedlungen von Juden nach Nisko am San veranlasst. Reichsrecht gilt in den Besatzungsgebieten nicht mehr. Polen, Juden, Zigeuner sind als Angehörige „minderwertiger Bevölkerungsgruppen“ der Willkür der ersten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Rasse- und Siedlungshauptamtes wehrlos ausgeliefert, werden bereits vieltausendfach ermordet oder ghettoisiert.

   Aber auch die Bolschewiki exportieren eine Kultur des Hasses und der Xenophobie. Der sowjetische Himmler heisst: Chrschuschow. Als Erster Sekretär der Ukraine setzt er zusammen mit NKWD-Chef Serow und Simon Timoschenko, dem Kommandeur für den Militärbezirk Kiew, eine schreckliche Verfolgungsaschinerie in Gang. In mehreren Wellen werden bis zum November 1940 1,2 Millionen Unschuldige - darunter auch 60.000 Juden - deportiert, ein Drittel wird dabei umkommen, 60.000 Personen werden inhaftiert, 50.000 als „Todfeinde der Sowjetmacht“ sofort erschossen. Über das Schicksal der rund 14.700 gefangenen polnischen Offiziere, Grundbesitzer, Polizisten und 11.000 „Konterrevolutionäre“ aus den drei grossen „Speziallagern“ Ostaschkow, Kosielsk und Starobielsk entscheidet das Politbüro am 5.März 1940: Tod für diese „Saboteure und Spione“, Deportation all ihrer Angehörigen - Stalin setzt als Erster seinen Namen unter die Verfügung. Achtundzwanzig Tage lang werden daraufhin etwa im Lager von Ostaschkow in einer Hütte mit schalldichten Innenwänden von dem NKWD-Tschekisten V.M.Blochin und zwei Helfern in ledernen Schlachterschürzen, wie Simon Montefiore berichtet, täglich 250 der todgeweihten Polen erschossen. Zur Verdeckung der Spuren benutzte man deutsche Walther-Pistolen. Ihre 7000 Leichen werden an verschiedenen Stellen vergraben, ein anderer Teil bleibt verschwunden für immer, 4500 Opfer aus dem Lager Kosielsk verscharrt man im Wald von Katyn. Mit diesem Namen schliesst sich unser Kreis. Was für die geheimen Vereinbarungen Stalins mit Hitler gilt, trifft auch für „Katyn“ zu. Es ist ein überaus mächtiges Tabu im russischen Geschichtsbild. Bis zur Ära Gorbatschow suchte man in der Sowjetunion den Massenmord nach seiner zufälligen Entdeckung 1943 den Deutschen in die Schuhe zu schieben. Seit man wieder gewaltsam unter die Tarnkappe des Antifaschismus von Hitler gedrängt worden war, verbaten sich alle sowjetischen Regierungen bis zu Gorbatschow entsprechende Verdächtigungen. Dem Eingeständnis von 1988/89 ist mittlerweile wieder eine Phase neuerlicher Tabuisierung gefolgt. Aber auch in Deutschland gibt es in Verbindung mit dem hier behandelten intnsiven nationalsozialistisch-stalinistischen Zusammenwirken ein mächtiges Tabu. In unserem Lande darf man nicht wie Francois Furet im Nachbarland Frankreich in seinem letzen Buch „Das Ende der Illusion“ feststellen: „Hitler und Stalin haben den Krieg gemeinsam begonnen“.                                                                                             

                                                                                                         

      Daniel Koerfer        

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