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Vortragsskript

Lorenz Heiligensetzer

Deutschschweizer Selbstzeugnisse – Ergebnisse eines lektürereichen

Archivprojekt

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Ich spreche heute zu Ihnen über ein Projekt, das Schweizer Selbstzeugnis-Projekt, das viele von Ihnen bereits kennen und das einige von Ihnen im Rahmen solcher Veranstaltungen auch schon präsentiert bekommen haben. Bei der Vorbereitung dieses Referats habe ich mich deshalb entschieden, im Vergleich zu früheren Vorträgen ein etwas anderes Vorgehen zu wählen. Ich werde Ihnen somit in einem ersten Schritt Anlage und Ergebnisse des Projekts nochmals kurz erläutern, mich dann jedoch im Hauptteil des Referats dem zuwenden, was sozusagen das Kerngeschäft und auch das eigentlich Spannende der Projekttätigkeit war: nämlich das Aufspüren und Entdecken von Texten, die bisher unbekannt waren, sowie das Lesen dieser Texte, bei dem sich einem gewissermaßen neue Welten eröffnen. Solche Entdeckungen möchte ich Ihnen im Hauptteil des Referates präsentieren, zunächst jedoch das Projekt selbst vorstellen.

Anlage und Ergebnisse des Projekts

Hauptziel unseres Projekts – und wenn ich von uns rede, meine ich damit den Projektleiter, Kaspar von Greyerz, sowie Sebastian Leutert, Gudrun Piller und mich – Ziel unseres Projekts war eine Bestandesaufnahme handschriftlich vorhandener Selbstzeugnisse in Deutschschweizer Archiven und Bibliotheken für den Zeitraum von 1500-1800. In der Praxis sah dies so aus, dass wir alle entsprechenden kantonalen Institutionen aufgesucht haben – die Staatsarchive, die Universitäts- und Kantonsbibliotheken sowie einige kirchliche Archive – und deren Bestände systematisch nach Selbstzeugnissen abgesucht haben. Wir gingen dabei von einem offenen Selbstzeugnis-Begriff aus, der sich an die von Benigna von Krusenstjern vorgeschlagene Definition anlehnt. Dies hatte zur Folge, dass wir nicht nur Autobiographien oder Tagebücher angeschaut haben, sondern jegliche Formen des Schreibens über sich selbst. Briefe, Rechnungsbücher oder Reiseberichte, die natürlich auch Selbstzeugnisse sind, blieben aus pragmatischen Gründen ausgeschlossen bzw. wurden nicht systematisch erfasst.

Ergebnis dieser Archivrecherchen – die sich über sechs Jahre hinzogen – ist ein Inventar in Form einer FileMaker-Datenbank, die nun nach Projektende 855 Selbstzeugnisse enthält. Das Projekt ist abgeschlossen, in diesem Sommer lief die Finanzierung durch den Schweizerischen Nationalfonds aus. Diese Datenbank, als Arbeitsinstrument gedacht, ist über das Internet benutzbar, die entsprechende Adresse finden Sie auf dem Handout. Das zweite Hauptziel des Projekts bestand in einer Auswertung der Texte in Form von Dissertationen der Projektmitarbeiter, die alle abgeschlossen sind. Gewissermassen ein Nebenprodukt des Projekts sind Editionen, die entstanden sind, wofür Kaspar von Greyerz zusammen mit Alfred Messerli eine Reihe mit dem Titel "Selbst-Konstruktionen" gegründet hat.

Wir haben also, wie Sie unschwer erkennen können, in diesem Projekt ausgiebige Quellenlektüre betrieben, nicht nur mit den 855 Selbstzeugnissen, die Aufnahme in die Datenbank fanden, sondern auch mit den vielen Quellen, die keine Aufnahme fanden, schätzungsweise nochmals 2-3mal so viel. Dies hängt damit zusammen, dass 'Selbstzeugnis' kein archivsystematischer Begriff ist und Selbstzeugnisse sich hinter verschiedensten Begriffen in den Findmitteln verstecken können – z.B. 'Chronik', 'Aufzeichnungen', 'Notizen' – und man deshalb immer mehr Texte sich anschaut, als man schlussendlich inventarisiert. Man lernt dabei ungemein interessante Quellen kennen – Schreibkalender, Bauernhofchroniken, Pferdearzneibücher, Liebesgedichtsammlungen u.a. –, doch möchte ich im Folgenden bei den Selbstzeugnissen bleiben und in Form kleiner Miniaturen drei Texte vorstellen, die ich im Rahmen meiner Archivrecherchen entdeckt habe.

Warum gerade diese drei? Ich habe sie ausgewählt, weil sie 1. bisher nicht bekannt sind, 2. weil sie unsere drei Hauptgattungen Autobiographie, Tagebuch sowie Familienbuch repräsentieren, und 3. weil ich sie in verschiedener Hinsicht für je speziell halte – und indem ich dieses Spezielle herausarbeite, kann ich im Gegenzug stets auch Allgemeineres zu unserem Korpus an autobiographischen Quellen ansprechen.

Tagebuch Barbara Bansi (1777-1863)

Ich beginne mit einem Tagebuch, derjenigen Gattung, die wir weitaus am meisten gefunden haben, insgesamt 296 Tagebücher enthält unser Inventar, das sind rund ein Drittel unserer Texte. Die meisten davon stammen aus dem 18. Jahrhundert, und eines davon stelle ich Ihnen im Folgenden vor. Es ist von einer jungen Frau verfasst worden und stellt schon deshalb in unserem Quellenkorpus etwas Spezielles dar, denn wir haben nur relativ wenige Texte gefunden, die von Frauen verfasst bzw. mitverfasst wurden, insgesamt 57, die meisten für die Zeit nach 1750. Das Tagebuch, das ich hier ansprechen möchte, stammt von der damals fünfzehnjährigen Barbara Bansi, einer Kunstmalerin.

Sie stammte aus Graubünden, wo sie 1777 als Sohn eines reformierten Pfarrers geboren wurde. 1783 übergab sie ihr Vater als Pflegetochter an eine befreundete Familie in Zürich, was eine Art pädagogisches Experiment darstellte. Mit ihren Pflegeeltern zog Barbara Bansi sodann 1786 im Alter von 8 Jahren nach Paris, wo sie zur Malerin ausgebildet wurde und schliesslich auch ausstellte. 1802 verliess Barbara Bansi Paris und zog nach Italien, wo sie ihre Ausbildung komplettierte, zeitweilig auch als Begleiterin von Laetitia Bonaparte, der Mutter Napoleons, auftrat, zum katholischen Glauben konvertierte und schliesslich 1808 einen Chirugen heiratete, der jedoch wenige Jahre darauf starb. 1814 kehrte sie als Witwe wieder nach Paris zurück, um dort bis an ihr Lebensende im Jahr 1863 als Mädchenerzieherin sowie Lehrerin für Malerei zu wirken.

Werke von Barbara Bansi haben sich erhalten, u.a. dieses Selbstporträt [Folie] aus dem Jahre 1793, im Alter von 15 Jahren, was umso interessanter ist, da auch ihr Tagebuch aus dem Jahre 1793 stammt. Barbara Bansi besuchte damals die Akademie und lebte wieder bei ihren Eltern, die aus politischen Gründen nach Paris emigriert waren. Das Tagebuch, das die erste Hälfte des Jahres 1793 umfasst, besteht aus zwei Oktavheften mit zusammen 55 Seiten. Es ist offensichtlich unvollständig, denn Barbara Bansi hat das ältere Heft selbst als "Tagebuch, zweites Heft" angeschrieben – d.h. der Beginn fehlt –, auch bricht der Text mit dem 26. Juli 1793 am Ende des anderen Heftes ziemlich abrupt ab, so dass es möglicherweise noch Fortsetzungen gegeben hat. Die Autorin hat nicht täglich geschrieben, im Durchschnitt etwa alle 5/6 Tage, jedoch stets in Form ausführlicher Einträge. Auch scheint sie das Tagebuch stets wieder gelesen zu haben, denn der Text (im Übrigen auf Deutsch) weist viele Korrekturen auf.

Aus dem Fragment geht nicht hervor, warum Bansi das Tagebuch geführt hat, denn es kommen kaum Schreibaussagen vor, d.h. Aussagen, mit denen Autorinnen oder Autoren ihr Schreiben kommentieren. Lediglich aus einer Bemerkung lässt sich herauslesen, dass sie offenbar Tagebuch führte, um ihre eigene Entwicklung als Malerin zu begleiten. Hauptthema ihres Diariums ist demnach die Kunst, neben ihrer Lektüre oder dem Alltag in Paris. Sie berichtet von ihrer eigenen Tätigkeit als Zeichnerin, notiert sich die Kommentare ihrer Lehrer und kommentiert selbst wiederum die Werke anderer Künstler. Zweifellos wäre es interessant, ihren künstlerischen Standpunkt herauszuarbeiten – z.B. äussert sie sich mehrfach kritisch zum klassizistischen Historienmaler Jacques-Louis David, dessen berühmtes Bild "Der Schwur der Horatier" in vielen Schulbüchern zu finden ist –, doch möchte ich mich einem anderen inhaltlichen Aspekt ihres Tagebuchs zuwenden.

Barbara Bansi ist auch Beobachterin der Revolutionsereignisse in Paris. Ihr Tagebuch fällt dabei in die Zeit der beginnenden jakobinischen Machtergreifung. Sie nimmt an den Ereignissen durchaus Teil, besucht regelmässig das im März neu errichtete Revolutionstribunal, spaziert des öfteren in den Tuilerien und macht sich zahlreiche Notizen dazu in ihr Tagebuch. Die Frz. Revolution ist somit das zweite Hauptthema im Selbstzeugnis von Barbara Bansi, so dass sich die Frage stellt, was sie wahrnimmt und wie sie das Wahrgenommene bewertet. Gerade Tagebücher sind eine spannende Quelle, um solche Wahrnehmungsprofile zu erstellen, erfolgt doch das Schreiben hier in der Regel zeitlich sehr nahe an den dargestellten Ereignissen. Tagebücher widerspiegeln deshalb viel unmittelbarer als andere autobiographische Quellen, wie bestimmte Ereignisse und Prozesse erfahren wurden, und am Beispiel Barbara Bansis möchte ich das für die Frz. Revolution ausführen:

Zunächst fällt auf, dass keine klare politische Haltung erkennbar ist. Sie schwärmt beispielsweise für Marat und begrüsst die durch das Revolutionstribunal gefällten Todesurteile gegen sog. Verräter. Andererseits bemitleidet sie den gefangen gehaltenen König oder bedauert die Emigranten, insbesondere Lafayette. Auch fällt auf, dass bestimmte wichtige Ereignisse wie etwa die Hinrichtung des Königs oder die Ermordung Marats keine Resonanz in ihrem Tagebuch finden. In anderer Hinsicht ist ihre Haltung jedoch eindeutig und unmissverständlich, und dazu möchte ich ein Zitat aus dem Tagebuch anführen, das dafür symptomatisch ist [Folie]:

Paris den 17ten Aprill [1793].

Noch zittere ich, wann ich denke, daß es izt, in einem Jahrhundert, wo alle Künste und Wissenschaften am aufgeklärtesten sind, selbst die Seele ist von allem Aberglauben befreyt, die den Pöbel [und] auch die vornehmen Leüte vorher viele grausame Thaten zu verfertigen nöthigte, und noch viel abscheulicher geht es izt zu. Man ermordet und selbst gibt es Leute, die davon leben, für ein Assignat bleiben sie den ganzen Tag an einem Gefängnis um die Verbrecher, die viel unschuldiger als sie sind, zu töden. Viele Soldaten und Mezger verlassen ihre Pläze, um sich ein bischen zu ergezen und um der Nation einen grossen Dienst zu leisten. Aber nichts mehr von dem, ich vergesse mich noch.

Der Eintrag zum 17. April spricht in Gestalt einer Zeitklage die mit der Revolution einhergehende Brutalisierung des Alltags an. Barbara Bansi beklagt sich darin über den geringen Stellenwert, den ein Menschleben hat, und über die grosse Anzahl mordlustiger Männer, die aus Geldgier sowie im Glauben, der Nation damit einen Dienst zu erweisen, zur Lynchjustiz greifen. Abscheu über Verrohungstendenzen findet sich auch an anderen Stellen und zieht sich wie ein roter Faden durch das Tagebuch. Mal ist es der Zustand der Tuilerien, den Bansi beklagt (zu Zeiten des Königs waren die Tuilerien noch gepflegt und voller Blumen, heute hat es nur noch grobschlächtig tanzende Knechte darin), mal ist es der die Lebensmittelgeschäfte plündernde "Pöbel" – ein Wort, das sie oft und in deutlich negativer Konnotation benutzt –, der sie anwidert, dann ist es wieder das Umfeld des Revolutionstribunals, das sie verabscheut: nämlich, dass sich im Justizpalast eine Art Jahrmarktsbetrieb entwickelt hat und die Leute sich dort vergnügen, während gleich daneben Leute verurteilt und hingerichtet werden. Ihr Kommentar dazu, Zitat: "Dieß ist der Charakter der Franzosen."

Eine kurze Zusammenfassung: Die Frz. Revolution nimmt im Tagebuch Bansis einen grossen Stellenwert ein und hat die junge Frau offenkundig beschäftigt. Ihre Beobachtungen und Aussagen dazu lassen erkennen, dass Barbara Bansi dem revolutionären Zeitgeschehen kritisch gegenüberstand. Ihre Kritik speist sich dabei – dies meine Interpretation – weniger aus einer bestimmten politischen Überzeugung, sondern widerspiegelt vielmehr ihr Entsetzen über die mit der Revolution gepaarte Grobheit, die offensichtlich ihr persönliches Empfinden verletzte. Die Revolution erscheint in ihrem Tagebuch deshalb weniger als politisches Ereignis, sondern als ästhetisch-moralischer Rückschritt.

Solothurner Hausbuch

Tagebücher haben wir am meisten gefunden, danach folgen die Familienbücher, von denen wir 173 inventarisert haben, rund ein Fünftel aller Texte. Dieses Genre verteilt sich sich ziemlich gleichmässig über unseren Erfassungzeitraum, d.h. es kommt innerhalb unseres Korpuses nicht zu einem rapiden Anstieg im 18. Jahrhundert, dies im Gegensatz zu den meisten anderen Gattungen. Familienbücher erscheinen inhaltlich zunächst nicht sonderlich spannend, denn häufig werden darin Geburten, Eheschliessungen sowie Todesfälle innerhalb der Familie bloss formelhaft aufgelistet. Als bestimmte Form privater Schriftlichkeit, die vielfach von mehreren Händen verfasst und oft generationenübergreifend weitergeführt wurde, halte ich dieses Genre – als Gesamtpaket betrachtet – jedoch für eine hochinteressante Quelle. Ich habe nun nicht den gesamten Bestand unserer Familienbücher analysiert, jedoch für die 34 Familienbücher aus dem Kanton Graubünden habe ich kleine Auswertung gemacht, daraus einige Zahlen [Folie]:

Von diesen 34 Familienbücher sind 13 von einer Hand verfasst worden, 7 weitere von zwei Händen und 14 von mehr als zwei Händen, was sich bis zu über 20 Hände auswachsen kann. In 13 Fällen handelt es sich dabei um Texte, die die Familiengeschichte über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren protokollieren, davon in drei Fällen über 200 Jahre und im Falle der Familie Jecklin sogar von 1581 bis 1864. Was die zeitliche Verteilung betrifft, so  stammen 10 Texte aus dem 16. Jahrhundert sowie je 12 Texte aus dem 17. und 18. Jahrhundert. An mindestens 6 dieser 34 Texte (immerhin ein Sechstel) haben Frauen mitgeschrieben, wobei eine genauere Schriftanalyse bisher nicht identifizierter Hände diese Zahl vermutlich noch erhöhen dürfte. Zu den ältesten von Frauen verfassten Selbstzeugnissen der Deutschschweiz gehören dabei die Aufzeichnungen von Katharina Tscharner und Barbara von Salis an der Wende vom 16. ins 17. Jahrhundert. Neben Briefen sind somit gerade Familienbücher eine Quellengattung, in der weibliche Schriftlichkeit für die Zeit vor 1750 in der Deutschschweiz fassbar wird.

Dies ist auch im folgenden Beispiel der Fall, das ich Ihnen genauer vorstellen möchte. Es handelt sich um das Selbstzeugnis, das der Solothurner Patrizier Urs Viktor von Sury (1670-1710) 1696 anlässlich seiner Hochzeit unter dem Titel "Sit Nomen Domini Benedictum [= der Name des Herrn sei gesegnet]" angelegt hat. Es handelt sich um einen Band mit 200 Seiten, von dem bloss 30 beschrieben sind, doch ziehen sich diese Notizen bis ins Jahr 1865, also über knapp 200 Jahre. Urs Viktor von Sury hat in diesem Band zunächst säuberlich die Geburten seiner Kinder verzeichnet, zum Beispiel [Folie]:

A° 1697. Sambstag den 16. Hornung ist mein F. morgenß zwischen acht undt neün Uhren mit Einem Sohn glückhlich genäßen. Eodem die ist gemeltes Kind bei St. Ursen getaufft worden, und Urs Victor genennet worden. Gevatter H.  Vetter Haupt. Jung. Urs Suri. Gevatterine F. Obrist Clara von Roll Ein gebohrne Wallierine.

Alle Einträge zu seinen 8 Kindern hat von Sury genauso ausgestaltet. Auch von seiner Frau Klara Brunner (1674-1736) finden sich einige Aufzeichnungen, sie notiert den Tod eines Sohnes und schreibt ein Rezept gegen Nierenschmerzen ins Buch hinein. Obwohl von Sury Söhne hatte, wurde das Familienbuch nun nicht wie üblich in Sohnesfolge weitergeführt. Die dritte Hand, die die Aufzeichnungen von 1733 an fortführte, stammt von Urs Karl Gugger (1694-1778) aus einer anderen Solothurner Patrizierfamilie. Er hatte eine Tochter von Surys geheiratet und war offenbar auf diesem Weg in den Besitz des Familienbuchs gelangt.

Auch Gugger notiert nun zahlreiche Geburten, Eheschliessungen und Todesfälle in seiner Familie, was nach seinem Tod 1778 von einer unbekannten Hand weitergeführt wird (ich komme noch darauf zu sprechen). Die fünfte Hand ist wieder identifizierbar, sie gehört Johann Baptist Altermatt (1764-1849) aus einer weiteren Solothurner Patrizierfamilie, der von 1792 an (nun auf Französisch) Aufzeichnungen zur eigenen Familiengeschichte machte. Er hatte eine Enkelin Guggers geheiratet und war so offenkundig in Besitz des Bandes gelangt. Schliesslich hat eine unbekannte Hand seinen Tod 1849 eingetragen, während die letzten Notizen zu 1865 den Nachkommen Eduard Tugginers (1791-1865) aus einer vierten Patrizierfamilie zugeordnet werden können; Tugginer hatte eine Tochter Altermatts geheiratet und wohl so das Familienbuch erhalten.

Vier verschiedene Familien haben also in diesem Band Familiengeschichte betrieben, es beginnt bei den von Surys und endet bei den Tugginers. Auch wenn zwischen ihnen verwandtschaftliche Beziehungen bestanden, so ist es doch im Rahmen unseres Bestandes an Familienbüchern speziell, dass das Buch – mangels Söhne bzw. Söhne, die kinderlos blieben – stets in Tochterfolge weitergegeben und auch weitergeführt wurde. Dafür findet sich jedoch – so denke ich – eine relativ einfache Erklärung. Urs Viktor von Sury, der erste Schreiber, war Besitzer des 'Könighofs', einem Schlossgut etwas ausserhalb der Stadt Solothurn [Folie]. Das Schloss ging 1748 an seinen Schwiegersohn Urs Karl Gugger über, der dritten Hand, später dann durch Heirat auch an Johann Baptist Altermatt und schliesslich im 19. Jahrhundert an die Tugginer-Familie. Anschliessend wurde der 'Königshof' versteigert, heute ist er in Privatbesitz.

Mit dem Haus scheint nun auch jedes Mal das Buch mit den Familiennotizen in den Besitz der neuen Schlosseigentümer gelangt zu sein. Der Vorgang lässt sich am ehesten so vorstellen, dass der Band stets auf dem 'Königshof' verblieb, von den neuen Bewohnern entdeckt und sodann weitergeführt wurde. Dies bedeutet, dass hier ein Familienbuch vorliegt, das eigentlich korrekter als 'Hausbuch' bezeichnet werden müsste. Dieser Zusammenhang von Haus und Buch macht es nun möglich, die bisher unbekannte vierte Hand zu identifizieren. Es handelt sich wahrscheinlich um Xaveria Glutz (1738-1795), die Tochter Urs Carl Guggers, die in die Solothurner Glutz-Familie geheiratet hatte und nach ihrem Vater Besitzer des 'Königshofs' war. Ihre Ehe blieb kinderlos, sonst hätten das Haus und damit das Buch vermutlich einen nochmals anderen Weg genommen.

Johannes Erb (1635-1701)

Dritter Hauptvertreter (neben dem Tagebuch und dem Familienbuch) in unserem Quellenkorpus ist die Autobiographie, 138 Lebensberichte enhält unser Inventar, wobei die Zahl vom 16. bis 18. Jahrhundert sukzessive ansteigt. Die Autobiographie, die ich Ihnen im Folgenden vorstelle, stammt aus dem 17. Jahrhundert und fällt ihrer formalen Gestalt wegen aus dem üblichen Rahmen, denn die Lebensgeschichte des Autors wird in Form eines Dialogs abgehandelt. Beim Autor handelt es sich um einen protestantischen Landpfarrer namens Johannes Erb (1635-1701). Johannes Erb entstammte einer Thuner Familie, hat in Bern und Heidelberg studiert und sodann Pfarrstellen auf der Berner Landschaft innegehabt, zunächst in Grindelwald in den Berner Alpen, sodann in Oberburg im Berner Mittelland.

Dass ich Ihnen als drittes Beispiel einen schreibenden Pfarrer präsentiere, ist nicht ganz zufällig, enthält unser Quellenkorpus doch eine überraschend hohe Zahl geistlicher Autoren, rund ein Viertel aller Texte stammen von Geistlichen. Neben Geistlichen kommen ansonsten vor allem Ratsherren und Soldoffiziere vor, also Vertreter der Oberschicht, dagegen haben wir nur relativ wenige 'populare', d.h. nicht von Oberschichtsangehörigen verfasste Selbstzeugnisse gefunden, nämlich 64 Texte. Dieses Resultat lässt sich sicherlich mit einem unterschiedlichen Alphabetisierungsgrad in Verbindung bringen, allerdings ist ebenfalls darauf hinzuweisen, dass die von uns gewählte Suchstrategie von staatlichen Institutionen ausging, in denen die Nachlässe bedeutender Familien zentral gesammelt wurden. Es ist gut möglich, dass kommunale und private Archive, die wir nicht berücksichtigen konnten, noch zahlreiche von Handwerkern oder Bauern verfasste Texte besitzen.

Zurück zu Johannes Erb: Er war ein belesener Mann, besass eine grosse Bibliothek, hat sich als Übersetzer englischer Erbauungsschriften betätigt sowie auch eigene solche Werke verfasst, die jedoch grösstenteils verloren gegangen sind. Überliefert hat sich dagegen die von ihm verfasste Autobiographie, ein Text von rund 30 Seiten in einem Band mit Druckschriften, 1685 im Alter von 50 Jahren begonnen und noch für einige Jahre fortgesetzt hat. Erbs Lebensgeschichte enthält ein für das 17. Jahrhundert übliches Themenspektrum: Er beginnt bei seinen Eltern, erzählt seine Ausbildung an verschiedenen Schulen, notiert seine Eheschliessung sowie die Geburten seiner Kinder, berichtet von Krankheiten und beschäftigt sich ausführlich mit seiner Tätigkeit als Pfarrer. Im Folgenden sollen nun jedoch weniger inhaltliche, sondern formale Aspekte der Autobiographie interessieren. Dazu möchte ich den Anfang des Textes betrachten [Folie]:

Speculum Providentiae Divinae

oder

Warhafftige Läbensbeschreibung

Johannis Erby

Thunensis pastoris Ecclesiae Domini in Oberburg

Martyris incruenti

vorgestelt under zweüen verblümbten nammen, namlich

Armmgast und Baldreich.

Der Titel zeigt zunächst, dass Johannes Erb – wie viele andere damalige Autobiogaphen auch – seine Lebensgeschichte als Providenzgeschichte verstanden haben will, als exemplarische Biographie für das Wirken der göttlichen Vorsehung im Lebenslauf des Einzelnen. Auch das zweite Leitmotiv des Textes klingt an, kündet doch der Titel davon, dass es sich bei diesem Text um den Lebensbericht eines unblutigen Märtyrers, oder anders formuliert: um eine Lebensgeschichte handelt, die ihren Akzent auf erfahrene Verfolgungen legt und der nur der gewaltsame Tod zum vollkommenen Märtyrerschicksal fehlt. Erfahrenes Leid in Form von Anfeindungen, Armut oder Krankheiten spielt denn auch eine herausragende Rolle in der Lebensbeschreibung Erbs – auch dies eine Gemeinsamkeit mit anderen Texten aus jener Zeit, die sich ebenfalls explizit als Leidensgeschichten verstehen. Der Titel kündigt weiter auch an, dass der Text in Form eines Dialoges verfasst wurde. Der Beginn lautet demnach so [Folie]:

Armgast:  Guten Tag Baldreich.

Baldreich:  Großen Danck Armmgast.

Armg:    Wo wilt hinauß also frühe?

Baldr:           Ich frage dich, wo wilt du hinauß, nicht nur sehr frühe, sondern noch darzu sehr traurig und betrübt?

Armg:           Ich will nach Schertzlingen, gegen der Eselmatt, spatzieren, damit ich meines Kummers umb etwas vergäße.

Baldr:           Ja, mich bedunckt, es seige dir etwas Widerwärtiges begägnet, also bleich=färbig, gälb und alt sihest du auß.

 

Armg:           Es bedunckt dich rächt, dan ich Armer=gast in diser Welt, altere           wegen Jamers, Elends und Kranckheiten gleichsam vor der Zeit.

 

Ausgangspunkt der Autobiographie ist ein zufälliges Treffen zweier Bekannter morgens in der Frühe nahe Thun. Armmgast eröffnet bei dieser Gelegenheit seinem Gesprächspartner Baldreich, dass er spazieren gehen wolle, um seinen Kummer zu vergessen. Diese Aussage bildet nun für Baldreich den Anlass, genauer nachzufragen und sich in der Folge das Leben Armmgasts erzählen zu lassen. Während Armmgast – der Befragte – aufgrund seiner Lebensgeschichte leicht mit Johannes Erb zu identifizieren ist, bleibt die Figur Baldreich im Text blass und ohne biographischen Hintergrund. Sie besitzt jedoch eine wichtige erzählerische Funktion, ist sie es doch, die mit ihren Fragen das Gespräch lenkt, neue Themen einführt und das Gehörte kommentiert. Für die Interpretation der Autobiographie bedeutet dies, dass durch die Hereinnahme einer das Gespräch strukturierenden Instanz in den Text hinein dessen Bauplan und damit das reflektierte Vorgehen Erbs besonders augenfällig hervortritt.

 

Auch kann die Figur Baldreichs als ein Instrument bewusster Leserlenkung verstanden werden. Mit ihren Fragen und Kommentaren nimmt sie mögliche Leserreaktionen vorweg und vermag das Verständnis der Biographie Armmgasts alias Erb in erheblichem Masse vorzustrukturieren. Gerade die Dialogstruktur des Textes verweist deshalb nachdrücklich auf den inszenierenden Charakter der autobiographischen Darstellung. Dies lässt sich auch anhand der Namensgebung zeigen. Während Armmgast seinen Namen selbst aufschlüsselt – er ist ein "Armer=gast in diser Welt" –, gibt es im Text keine Erklärung für den Namen Baldreich, doch vermutlich handelt es sich ebenfalls um eine Zusammensetzung im Sinne von "Bald=reich". Trifft diese Auflösung zu, so erscheint es offensichtlich, dass die beiden Namen sich aufeinander beziehen, indem der arme Gast alias Johannes Erb bald reich sein wird, vermutlich im Sinne himmlischen Reichtums, auch wenn dies nicht explizit gemacht wird.

 

Schluss

 

Ich komme zum Schluss. Absicht meines Vortrags war es, Ihnen das nun abgeschlossene Schweizer Selbstzeugnisprojekt zu präsentieren, dabei von einzelnen Texten auszugehen, anhand dieser Texte mögliche Fragestellungen und Interpretationslinien anzudenken und gleichzeitig einige allgemeinere Informationen zum Gesamtbestand unseres Inventars an Selbstzeugnissen zu geben. Die Auswahl der drei Texte, die ich Ihnen präsentiert habe, erfolgte unter diesem Gesichtspunkt, ich hätte jedoch genauso gut andere nehmen können. Es war also eine subjektive Wahl, es sind Texte, die mich wie viele andere Texte, die ich in den Archiven angeschaut habe, fasziniert haben – und nicht zuletzt war es auch Absicht meines Vorgehens, Ihnen etwas von dieser Faszination zu vermitteln versuchen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören.