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Deutscher Historikertag

Kaspar von Greyerz, Claudia Ulbrich: Eine Welt - eine Geschichte?

Einleitung zur Sektion 1.5 "Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive", 43. Deutscher Historikertag 2000, Aachen

Einführung

Claudia Ulbrich und Kaspar von Greyerz

"Das Selbst im Zeitalter der Konfessionalisierung", "Grenzen des Selbst" und die "Konstruktion des Selbst" – so oder ähnlich lauten in der Geschichtswissenschaft und zum Teil auch in angrenzenden Disziplinen verschiedene Aufsatz- und Tagungsthemen der letzten Zeit. Im Zentrum des neuen Forschungsinteresses steht der historische Weg von der Wahrnehmung und Darstellung der äußeren Person zur Erfassung der Persönlichkeit und der eine Persönlichkeit konstituierenden Ich-Identität im Zeitraum zwischen Spätmittelalter und Aufklärung. Der historische Prozess der individuellen Identitätsfindung ist mit anderen Worten zu einem zentralen Thema nicht nur der Geschichtswissenschaft, sondern auch angrenzender Disziplinen geworden. Dabei wird einerseits nach den strukturellen Bedingungen dieses Vorgangs gefragt, zum Beispiel in bezug auf die Vermittlung der Identitätsfindung durch die Familie, Kirche, Gemeinde oder Gemeinschaft (community). Andererseits ist vor allem in den letzten Jahren ein Interesse an der Identitätsfindung als kultureller Konstruktion hinzugekommen, wobei die jeweilige Wahrnehmung des Anderen, die historisch-kulturelle Funktion des Gedächtnisses, die Wahrnehmung und Erfahrung des eigenen Körpers und die Psychologisierung des Selbst u.a. zu zentralen Themen des Erkenntnisinteresses geworden sind. In dieser Sektion sollten einzelne dieser durch die neueste Forschung vorgegebenen Themen sowohl auf der langen Zeitschiene (Mittelalter bis 19. Jahrhundert) als auch – und ganz besonders – in transkultureller Perspektive ausgelotet und diskutiert werden.

Eine Welt - eine Geschichte?

Claudia Ulbrich und Gabriele Jancke

Das Motto des Historikertages hat je nach Perspektive der Betrachterinnen und Betrachter etwas Ermutigendes und – trotz des Fragezeichens – etwas Beängstigendes. Ermutigend, weil es signalisiert, dass die deutsche Geschichtswissenschaft endlich dabei ist, die Verengungen eines eurozentrischen Blickwinkels zu erkennen. Beängstigend, weil mit dem Ausgreifen in eine neue Welt Prozesse der Hierarchisierung und Kolonisierung verbunden sein können. Damit meinen wir, dass mit der Gegenüberstellung einer europäischen Dominanzkultur gegen viele außereuropäische Kulturen Interpretationsmuster wirksam werden, die auf hierarchischen Prämissen aufbauen. Mit dem Plädoyer für eine transkulturelle Perspektive wollten wir uns bewusst von diesem Konzept abwenden und die verschiedenen Kulturen gleichberechtigt betrachten. Unser Frageinteresse richtete sich auf Konstellationen, Konfigurationen und Konzepte. Wir fragten zum Beispiel, welchen Platz eine Person in ihrer Kultur bzw. zwischen den Kulturen, in denen sie schreibt, einnimmt.

Wir tun dies anhand von Selbstzeugnissen, einer Quellengruppe, die in der europäischen Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren große Aufmerksamkeit findet, nicht zuletzt weil sie Zugang zu Individuen und zu Prozessen der Identitätsbildung verspricht. Dies gilt nicht nur für Westeuropa, sondern in zunehmendem Maße auch für das Osmanische Reich. So hat Suraiya Faroqhi bereits 1995 darauf verwiesen, dass Menschen sich nicht "als autonome Individuen verstehen müssen, bevor sie ihre eigenen Erfahrungen für aufzeichnenswert halten können. Vielmehr kann es durchaus vorkommen, dass sie sich als Mitglied einer sozialen Gruppe thematisieren, eine Betrachtungsweise, die auch ohne ausgeprägten Individualismus möglich ist. Wahrscheinlich hat dieser Umschwung in den Ansichten zur theoretischen Möglichkeit der Ich-Erzählung die Suche nach osmanischen Texten dieses Genres stark beflügelt." [1]

Alle hier am Podium vertretenen WissenschaftlerInnen haben sich in ihren Forschungen bzw. in laufenden Forschungsprojekten mit Selbstzeugnissen befasst.

Gerhard Wedel ist Arabist und bearbeitet ein Projekt über "Wissen und arabische Biographik". Natalie Zemon Davis hat mit ihrem Zugang zur Geschichte, aus Lebensgeschichten Handlungsräume zu rekonstruieren, mit ihren Perspektiven auf die Ränder und Kontaktzonen der Selbstzeugnisforschung viele Impulse gegeben. Ihr 1995 erschienenes Buch "Women on the Margins" ist gerade auch in methodischer Hinsicht wegweisend, wenn es darum geht, alternative Modelle menschlichen Handelns, Denkens und Kommunizierens in einem transkulturellen Kontext zu erforschen. Desanka Schwara ist Spezialistin für jüdische Geschichte und hat sich in ihrer Dissertation mit Tagebüchern ostjüdischer Jugendlicher um 1900 beschäftigt.

Die Beiträge dieser Sektion gehen auf langjährige Forschungen zurück, von denen einiges bereits publiziert ist. [2] Schon bei den vorbereitenden Diskussionen wurde klar, dass ein disziplinenübergreifender, problemorientierter Zugriff im Überschneidungsbereich verschiedener Fächer völlig neue Perspektiven eröffnet. Besonders deutlich wurde das in der Diskussion um das biographische Lexikon des Ibn Khallikan: "Wafayat al-a´yan" ist eine Sammlung von Biographien und damit eine für den vorderen Orient typische Quellengattung. Bislang wurden diese Quellen in den Orientwissenschaften immer nur als Steinbruch für Ereignisse gesehen. [3] Wir konnten feststellen, wie sehr sich die Ergebnisse verändern, wenn die gleichen Quellen als Selbstzeugnisse gelesen werden.

In unserer Sektion haben wir Themen nebeneinander gestellt, die sich nicht in einen gemeinsamen zeitlichen oder nationalen Bezugsrahmen bringen lassen. Dies verdankt sich nicht der Verlegenheit, keine ReferentInnen zu einem enger zusammenhängenden Thema gefunden zu haben; es war eine bewusste Entscheidung, nicht Vergleichbares nebeneinander zu stellen. Wir wollten damit unsere Skepsis gegenüber einer Verabsolutierung kategorialer Vorannahmen zum Ausdruck bringen (wie z.B. Rasse, Klasse, Geschlecht) und zeigen, dass der Kontext wichtig ist. Im Mittelpunkt der Ausführungen standen die Strategien der Selbstkonstruktion. Darüber hinaus thematisierten wir verschiedene Funktionen des Schreibens in verschiedenen Jahrhunderten und Kulturen (Entlastungsfunktion, Erinnerungsfunktion, Unterhaltungsfunktion, etc.) und fragten, wie Authentizität bzw. Autorität hergestellt wird (wörtliche Rede, Genauigkeit der lebensgeschichtlichen Angaben, etc.).

 

In der lebhaften Diskussion wurde deutlich, dass es notwendig und lohnend ist, die bisherige Forschungsdebatte um jüdische und außereuropäische Perspektiven zu erweitern – manchmal zeigte sich eben in "multiple stories" doch "one world", um den schönen Vortragstitel von Natalie Zemon Davis umzudrehen.

 

Lebensweg, Wissen und Wissensvermittlung. Arabische Autobiographik (13. Jh.)

Gerhard Wedel

 

Ibn Khallikan, ein islamischer Gelehrter und Richter aus dem 13. Jahrhundert, steht mit seinem biographischen Lexikon: "Wafayat al-a´yan wa-anba` abna` az-zaman" – "Verstorbene Persönlichkeiten und Nachrichten über Zeitgenossen" – in der Tradition der umfangreichen arabischen Biographik, die sich als Teil der islamischen Geschichtsschreibung versteht. Diese Sammlung enthält etwa 900 Artikel über Personen, die vom 1. bis zum 7. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung lebten.

Traditionell wurden biographische Informationen nach Generationen aneinandergereiht, um den Prozess der Wissenstradierung nachvollziehbar zu machen. Die historisch überprüfbare Kette der Tradenten galt als wichtiges Kriterium für die Authentizität von Wissen. Ibn Khallikan verändert diese Darstellungsweise, indem er die Personen nicht mehr generationenweise gruppiert, sondern sie in alphabetischer Reihenfolge anordnet, und er erweitert das Spektrum der behandelten Personen, denn er beschränkt sich nicht auf gesellschaftliche Gruppen wie Gelehrte, Könige, Fürsten, Wesire oder Dichter, sondern erwähnt alle Personen, die auf irgendeine Weise berühmt waren.

 

Diese Veränderung in der Darstellung des Wissens über Personen ist im Zusammenhang mit dem zeitgenössischen politischen Umbruch zu sehen (Mongoleneinfall und Ende des Kalifats von Bagdad 1258): Zerstörung von Büchern und Bibliotheken als Wissensträger, Tod von Tradenten. Dem Leser gegenüber begründet Ibn Khallikan seine biographische Sammlung dreifach:

1. Er beginnt mit dem Aufschreiben der Biographien von Personen, um eine Gedächtnisstütze für sein auswendig gelerntes Wissen über diese Personen zu schaffen.

2. Besonderes Anliegen von Ibn Khallikan ist es, das eigene Wissen über seine (verstorbenen) Zeitgenossen für künftige Generationen zu bewahren.

3. Seine literarisierende Darstellungsweise soll das Werk zu einer unterhaltsamen Lektüre machen.

Durch die veränderte biographische Methode gewinnt er Raum zur Selbstdarstellung. Er stellt sich zum einen direkt dar, indem er innerhalb der Artikel über andere Personen eigene Erinnerungen an diese Personen sowie Informationen über sein eigenes Leben mitteilt. Er präsentiert sich indirekt, indem er die Personen auswählt, charakterisiert und bewertet, und sie so aufgrund seines eigenen Urteils in der islamischen Gesellschaft positioniert.

Autobiographical Writing in a Cross-Cultural Context

Natalie Zemon Davis

This talk compares three examples of "autobiographical" writing in the 16th and 17th century, one by a Muslim traveller and scholar of the early 16th century, one by a Catholic woman of 17th-century Tours and Québec, and one by a 17th- and early 18th-century Jewish merchant woman of Hamburg and Metz. There are some resemblances between the texts by the two women, both of them mothers; all three texts are much shaped by religious belief and all three have dialogic features. But each writer develops self-description in a different genre and puts religion and inner dialogue to different uses in the life-story.

 

Al-Hasan ibn Muhammad al-Wazzân, better known in Europe as Leo Africanus (1488/89-?), was a learned Muslim scholar and poet, merchant and traveller. In an Islamic tradition little supplied with narrowly focussed autobiography, al-Wazzân writes about himself in many fragments in his Description of Africa. This is a book of multiple genres – geography, travel, history, and memoir – written initially in Arabic and then translated by its author into Italian during several years of residence in Italy. Composed with both Muslim and Christian audiences in mind, the book moves between different worlds and different selves.

 

Marie Guyart de l’Incarnation (1599-1672) was a Catholic artisan of Tours. Widowed early, she became an Ursuline when her son turned twelve and had an expressive life as mystic and convent orator in Tours and finally missionary and teacher in Québec. Her self-description is made through a spiritual autobiography in French, requested by her son and intended – at least by convention – only for his eyes. God is present throughout in dialogue with the writer, who puts her life and inner struggles to the service of religion. The interiority of the story lessens as she moves to Canada, where she represents herself as the instrument for converting the Amerindians. Her son published her text after her death, adding to the voices in the Vie by his own biographical section to each of her chapters.

 

Glikl bas Judah Leib (1646/47-1724) was a Jewish woman from a commercial family of Hamburg, married early to the merchant Haim Hamel and the mother of many children. After her husband’s death, she began in her "melancholy" to write of his life and especially of her own to pass on to her children. She then carried on her composition during her own years as an active trader and moneylender in Germany and during her second marriage to a banker at Metz. She draws on three Jewish traditions – the family genealogy, the death-bed confessional life story, and the oral tale – and intersperses her autobiography with folktales at critical junctures in the text. The dialogic structure of the book comes both from this mixture of genres and from her raising questions about her life, which constitute a form of "arguing with God".

 

Selbst und Kontext. Tagebücher jüdischer Jugendlicher aus Osteuropa (um 1900)

Desanka Schwara

 

Die Tagebücher stammen aus den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Sie sind zwischen 1899 und 1935 entstanden, stammen von fünf Mädchen und fünf Jungen aus ungleichen sozialen Schichten, aus Familien mit unterschiedlicher religiöser oder politischer Ausrichtung, aus verschiedenen Regionen im osteuropäischen Raum und sind in diversen Sprachen geschrieben: Polnisch, Russisch, Deutsch oder Jiddisch. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Auswahl aus den 900 Tagebüchern, die YIVO (Jiddisches Wissenschaftliches Institut) in Wilna anlässlich von Tagebuchwettbewerben in den Jahren 1932, 1935 und 1939 gesammelt hatte. 300 der insgesamt 900 Tagebücher sind erhalten geblieben und befinden sich heute bei YIVO in New York. In den Mittelpunkt stelle ich Marta, die im Jahre 1917 mit vierzehn Jahren ihr Tagebuch angefangen und es bis zu ihrer Heirat 1925 geführt hatte. Diese Quelle führt auf rund 650 Seiten in den Alltag in einem mehrheitlich chassidischen Städtchen in der Nähe von Krakau hinein. Zudem ist sie ein höchst differenziertes Dokument der täglichen Versuche ihrer Verfasserin, etwas mehr Freiraum zu erkämpfen, und damit auch ihrer Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen und Normen ihres kulturellen Kontextes.

 

Die exemplarische Auseinandersetzung mit diesem Text ist besonders lohnend, weil die Autorin den Leser selbst zu Zeiten der nicht enden wollenden Klagen über Enttäuschungen und nicht erfüllte Erwartungen mit schwungvoller Sprache erfreut, mit einem regen Geist und messerscharfer Analyse der Begebenheiten überrascht. Ein wesentlicher Aspekt in ihren Aufzeichnungen ist die absolute soziale Kontrolle im Schtetl. Marta befand sich mitten im kulturellen Kampf zwischen jenen, die für die Welt der traditionellen Normen standen, allen voran ihre Eltern, und jener kleinen Minderheit, die neue Lebensformen ins Schtetl brachte.

 

Aus dem Tagebuch wurde das Personen-Konzept herausgearbeitet, so wie es dort entfaltet wird. Dabei wurde von vornherein ganz besonders auf die Bezüge zum kulturellen Kontext geachtet. Er ist zunächst in einem religiösen Milieu zu finden, das mehr und mehr mit säkularem Gedankengut, Verhaltensweisen und Lebensstrategien konfrontiert wurde. Gefragt wurde danach, wie sich eine junge Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb dieser beiden, auf den ersten Blick nicht zu vereinbarenden Welten positionierte und worüber sie sich definierte. Diese beiden Sphären, die sich im Alltag überschnitten, wurden zur Lebensphase und zur Schichtzugehörigkeit ins Verhältnis gesetzt. Wichtig war dabei, soziale Netze offenzulegen und die Bedeutung der Autodidaktik und der Mehrsprachigkeit gerade jüdischer Jugendlicher zu betonen. Die Selbstdarstellung im Tagebuch legt die Strategien der Selbst-Konstruktion offen, nicht zuletzt durch die Widerstandsformen, die Marta völlig selbstverständlich in ihren Alltag integrierte. Das soziale Beziehungsnetz und der Platz, den sich die Tagebuchautorin darin zuwies, geben Aufschluss über ihre Wahrnehmungsmuster. Darüber hinaus lässt sich das Individuum gerade an diesen Schnittpunkten besonders klar erkennen, wo es sich auf kollektive Verhaltensweisen und Regeln bezieht, sowohl wenn es sich davon abgrenzt und möglicherweise dagegen wehrt, als auch wenn es sich an ihnen orientiert. Fragen nach Ort und Richtung der jeweiligen Eigeninitiative sowie nach dem Umgang mit Spielräumen und Gestaltungsmöglichkeiten können das Individuum, so wie es sich im Tagebuch selbst definiert, erschließen. Diese Jugendperspektive wurde vergleichend zu Selbstzeugnissen gestellt, die erst in einem späteren Lebensalter entstehen.

Kommentar

Kaspar von Greyerz

Die über viele Generationen andauernde Herausbildung eines relativ autonomen Individuums ist eine Vorstellung, die in manchen in der europäischen und amerikanischen Geschichtswissenschaft gängigen Makro-Konzepten vom Entstehen der Moderne eine wichtige, wenn nicht gar zentrale Rolle spielt – es brauchen hier nur etwa die Namen Max Webers, Norbert Elias’ oder Michael Foucaults genannt zu werden. Im Kontext der Selbstzeugnisforschung sind freilich im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte auch grundlegende Fragen aufgeworfen worden, die dieses Individualisierungstheorem modifizieren. Einer der frühesten Beiträge zu dieser Diskussion stammte von Natalie Davis: Er konzentrierte sich kritisch auf die Frage, ob der französische Späthumanist Michel de Montaigne tatsächlich als Vertreter einer neuen, individualistischen Species im Sinne der traditionellen, nicht zuletzt an Jacob Burckhardt orientierten Historiographie der Renaissance und des Humanismus zu verstehen sei. Seither ist diese Problematik verschiedentlich im Kontext der Erforschung von frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen diskutiert worden.

 

So spannend diese Frage sein kann, so wenig sinnvoll wäre es gewesen, sie gleichsam zum Leitstern einer Diskussion zu machen, die über den Rahmen der europäisch-christlichen Geschichte hinausgreift. Denn das uns spätestens seit Jacob Burckhardt beschäftigende Individualisierungstheorem entspricht nicht nur einer spezifisch europazentrierten Fragestellung, sondern gleichzeitig auch einer Fokussierung auf die christliche Kultur des Abendlandes. Kann man für das europäische Judentum seit dem Spätmittelalter oder für den Islam auch behaupten, sie hätten den Kern ihrer Selbstauflösung in sich getragen, wie dies etwa Max Weber und Ernst Troeltsch für den europäischen Protestantismus getan haben? Kurzum: Im transkulturellen Vergleich bestünde bei einer Konzentration der Diskussion auf das Individualisierungstheorem die Gefahr, dass am Ende nicht mehr erreicht würde als eine erneute Bestätigung gängiger Vorstellungen des Fortschrittes abendländischer Zivilisation. Die historische Selbstzeugnisforschung sollte sich nicht vorschnell zur Handlangerin teleologischer Interpretamente von begrenzter Reichweite machen.

 

Als Ausgangspunkt für einen transkulturellen Vergleich vorzuziehen ist deshalb die Frage nach dem jeweiligen Konzept der Person. Denn dieses ist sozio-kulturell codiert. Das heißt: Aus historischer Perspektive ist das in Selbstzeugnissen aufscheinende Konzept der Person zeit- und ortsspezifisch. Das schließt den Vergleich keineswegs aus; im Gegenteil.

 

Schon allein ein Blick auf Zeitungsinserate unserer Tage zeigt unmissverständlich auf, dass spezifische Konnotierungen des Begriffs der Person zeit- und ortsgebunden sind. Da wird zum Beispiel eine "kooperative, initiative Persönlichkeit" gesucht, deren "Integrität und Belastbarkeit" sprichwörtlich zu sein hat, an anderer Stelle jemand, dessen "Persönlichkeitsprofil" durch "analytisches Denken, Zielorientierung und Teamfähigkeit" abgerundet wird. An wiederum anderer Stelle ist man interessiert an einem "performance driven self-motivated individual with sound business judgment". Solche Wunschbilder lassen sich weder widerspruchslos auf Mittelalter und Frühe Neuzeit noch auf indigene Kulturen unserer Tage übertragen.

 

Wie treten uns die Personen in den verschiedenen hier vorgestellten Texten entgegen? Wie versuchen die Autorinnen und Autoren sich und andere zu definieren? Da ist zunächst die Religion, nur noch uneinheitlich als Definitionskriterium aufscheinend in den durch Desanka Schwara vorgestellten Texten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus dem osteuropäischen Judentum, die von Autorinnen und Autoren stammen, die sich nicht mehr vollständig der kulturell und religiös traditionellen Welt des Schtetl zurechnen lassen. Bei Glikl bas Judah Leib macht das Zwiegespräch mit Gott noch einen zentralen Teil ihres Selbstverständnisses aus. Noch mehr gilt dies für Marie de l’Incarnation. Am wenigsten deutlich, so scheint es mir, wird der Stellenwert der Religion für das zugrundeliegende Konzept der Person in den beiden islamischen Texten. Es ist zunächst einmal zu vermuten, dass dies an gattungsspezifischen Einflüssen liegt, insbesondere bei Leo Africanus, dessen Aufzeichnungen sich sowohl an ein muslimisches wie christliches Publikum richten. Dennoch bleibt auffallend, dass in der islamischen Kultur Nordafrikas und der Levante im Zeitraum zwischen 13. und frühem 16. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sich im Unterschied zu Europa keine gattungsspezifische Tradition des Schreibens von Biographien bzw. des Schreibens über die eigene Person herausbildete. Die Texte von Ibn Khallikan und Leo Africanus orientieren sich stark an verschiedenen gelehrten Traditionen des Islam.

 

Die Konstruktion der Person im Text ist eng mit der Erzeugung von Authentizität verzahnt. Bei Ibn Khallikan geht es um größtmögliche Faktengenauigkeit in den durch ihn verfassten Biographien – Faktengenauigkeit primär bei Angaben zu Geburt und Tod, zur Genealogie, zur Schreibung des Namens, im weiteren Gang der Darstellung aber auch etwa beim Nachweis einer glaubhaften Kette von Autoritäten, denen die Überlieferung spezifischer biographischer Angaben zu verdanken ist. Die Lebensbeschreibung der Marie de l’Incarnation aus dem 17. Jahrhundert ist dagegen weitgehend der Tradition der spirituellen Autobiographie verpflichtet. Die Ich-Erzählung bezieht ihre Autorität vorrangig daraus, dass sich die Autorin durchgehend als Instrument der göttlichen Vorsehung darzustellen versucht. Anders wiederum das Selbstzeugnis der Glikl aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. In gattungsspezifischer Hinsicht versucht die Autorin Authentizität in der Anlehnung an drei bewährte jüdische Traditionen herzustellen: an die Familiengenealogie, das autobiographische Bekenntnis von Sterbenden und an mündliche Erzähltraditionen.

 

* * *

 

Aufs Ganze gesehen sollte ob aller Vielfalt der in den drei Referaten vorgestellten Texte keineswegs ihr Wert als geschichtswissenschaftliche Quellen übersehen werden. Die beiden Texte islamischer Autoren des Spätmittelalters bzw. des frühen 16. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung erinnern durch ihre ‚Fremdheit’ diejenigen unter uns, die sich vorwiegend mit Selbstzeugnissen christlicher Provenienz beschäftigen, an die Grenzen der Aussagekraft der uns besonders vertrauten Texte. Die jüdischen Selbstzeugnisse – nicht nur der Glikl bas Judah Leib, sondern auch noch der Jugendlichen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – signalisieren mit ihren starken Bezügen zur Familie und deren verwandtschaftlichen Verästelungen die Grenzen der Reichweite des von mir eingangs erwähnten Individualisierungstheorems.

Die historische Selbstzeugnisforschung will keine Alternative, kein vollwertiger Ersatz für die Forschungsarbeit mit anderen Quellengattungen sein. Aber sie erfüllt mittlerweile sowohl in der deutschsprachigen wie in der anglo-amerikanischen Historiographie eine unverzichtbare Funktion sowohl als Ergänzung anderer Forschungsstrategien namentlich im Einzugsbereich der historischen Anthropologie als auch als empfehlenswertes Korrektiv hinsichtlich allzu großzügiger historiographischer Generalisierungen.

 

Anmerkungen:

 

[1] Suraiya Faroqhi: Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. München 1995, 217.

[2] Natalie Zemon Davis: Boundaries and the Sense of Self in Sixteenth-Century France. In: Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought. Ed. by Thomas C. Heller, Morton Sosna, and David E. Wellbery with Arnold I. Davidson, Ann Swidler, and Ian Watt. Stanford, Calif. 1986, 53-63. 332-335 (dt. Übers.: Bindung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Frankreich des 16. Jahrhunderts. In: dies.: Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers. Berlin 1986, 7-18. 133-135); dies.: Fame and Secrecy: Leon Modena’s Life as an Early Modern Autobiography. In: The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena’s Life of Judah. Transl. and ed. by Mark R. Cohen. With introductory essays by Mark R. Cohen and Theodore K. Rabb, Howard E. Adelman, and Natalie Zemon Davis, and historical notes by Howard E. Adelman and Benjamin C. Ravid. Princeton, NJ 1988, 50-70 (dt. Übers.: Ruhm und Geheimnis: Leone Modena’s ‚Leben Jehudas’ als frühneuzeitliche Autobiographie. In: dies.: Lebensgänge. Glikl. Zwi Hirsch. Leone Modena. Martin Guerre. Ad me ipsum [!]. (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 61). Berlin 1998, 41-56. 112-120); dies.: Women on the Margins. Three Seventeenth-Century Lives. Cambridge, Mass./London 1995 (dt. Übers.: Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian. Berlin 1996); Desanka Schwara: "Ojfn weg schtejt a bojm". Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongresspolen, Litauen und Russland, 1881-1939. (= Lebenswelten osteuropäischer Juden 5). Köln/Weimar/Wien 1999.

[3] Barbara Kellner-Heinkele: Osmanische Biographiensammlungen. In: Anatolica 6 (1978) 171-194: 183.