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Stundenbücher im Pariser Frühdruck 1485 bis 1550 – Digital Horae - Digitale Bibliothek und Recherchedatenbank

Strukturen des Stundenbuchs und des Buchgewerbes im Medienwandel des Pariser Frühdrucks

Stundenbücher sind schon seit ihrer Entstehung herausragende Bestseller der Buchproduk­tion des Spätmittelalters am Übergang zur Neuzeit. Mit zunehmender Lesefähig­keit und Kaufkraft drängte es viele Menschen zum Besitz eines eigenen Gebet­buchs für den täglichen Gebrauch, während die Anschaffung weiterer Bücher sich auf eine kleinere Bevölkerungsschicht be­schränkte. Nach Aufkommen des Buchdrucks, der weitere Käufergruppen erschloss, wurden Stundenbücher in Paris bald zur Spezialität und zum Exportschlager des Druckwesens, der sich auch über die Grenzen, nach England, Spanien oder Deutschland verbreitete und auf die Entwick­lung in kleineren französischen Zentren wirkte. Stundenbücher bieten daher ein beson­ders reiches inter- und transdisziplinäres Forschungsgebiet, beispielsweise für Kultur- und Medien­wissenschaft, Kunstgeschichte, Handschriften- und Frühdruckforschung oder Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte.

Von besonderem Interesse sind Stundenbücher aber nicht nur wegen ihrer enormen Popula­rität und großen Verbreitung, sondern ebenso aufgrund ihrer Beschaffenheit. Sie enthalten Textkonglomerate, deren Zusammenstellung nach verschiedenen Kriterien wie regionalem Gebetsgebrauch bis hin zu individuellen Wünschen hinsichtlich der Texte oder des gesamtem Umfangs variieren. Zudem sind Bilder integraler Bestandteil dieser Bücher, ohne die Texte im engeren Sinne zu illustrieren. Vielmehr bieten sie Orientierung im Text­gefüge und neben den Texten eine variable parallele Lektüre. Von jeher bot der Bilder­schmuck stolzen Besitzern zu­dem die Möglichkeit zu (auch buchstäblicher) Selbstdarstel­lung und Repräsentation durch Pracht. Während der Buchdruck einerseits zur Vereinheitli­chung des Stundenbuchs beitrug, erlaubte er andererseits vielfältige Variatio­nen von Textformularen, einzelnen Texten (wie Heiligenkalendern, Litaneien und Suffra­gien) und Bildern mit geringerem Aufwand und hoher Flexibilität. Noch beim Kauf konn­ten vorbereitete Lagen mit unterschiedlichen Texten und Bildausstattungen nach Käufer­wunsch zusammengestellt werden. Vor allem aber nahm der Reichtum von Bildern und Dekor mit ihrer technischen Reproduzierbarkeit zu. Auch verloren Stundenbuchdrucke mit der Einführung des Buchdrucks keinesfalls den Charakter individueller Kostbarkeiten. In den ersten Jahrzehnten verließ kein Exemplar die Werkstatt vollständig ge­druckt. Viel­mehr ließ man Lücken für Initialen und anderen Dekor, zuweilen sogar für Bilder, die an­schließend von Malern eingefügt wurden.

Bilder haben im Stundenbuch zweierlei Funktion. Hauptbilder und Kleinbilder kennzeich­nen den Beginn neuer Abschnitte im Text und markieren durch ihre Größe deren Hierar­chie im Textgefüge, während Bordürenbilder zu Rahmen für die Textseiten zusammen­gefügt werden. Alle für ein Stundenbuch benötigte Haupt- oder Kleinbilderplatten konnten in Serien für den Buchdruck produziert werden. Dabei ist eine Serie durch stilistische Einheit­lichkeit gekennzeich­net und lässt sich von ikonographisch gleichen Serien anderen Stils (von anderen Künstlern) unterscheiden. Ein inhaltlicher Zusammenhang besteht zwar zwischen einigen, nicht aber zwischen allen Bildern einer Serie. Bei der Illustration der Drucke legte man allerdings kaum Wert auf stilistische Homogenität. Häufig findet man in den Büchern Bilder unterschiedli­cher Serien vereint, so dass erst der Überblick über zahlreiche Ausgaben eines Verlags erkennen lässt, dass die Bildfolgen in einheitli­chen Serien hergestellt wurden. Die Unter­scheidung von Serien setzt nicht unbedingt ei­nen Stilunterschied voraus, da viele Künst­ler für mehrere Verleger und Drucker Serien entworfen haben. Diese lassen sich durch ihr For­mat, eine stilistische Entwicklung oder ihr Erscheinungsdatum in bestimmten Ausgaben erken­nen. Bordürenbilder fügen sich hingegen meist zusätzlich zu Zyklen mit narrativen Histo­rien oder anderen Sujets wie Reihen von Tugenden oder Propheten und Sibyllen zusammen.

Forschungsschwerpunkt

Die Komplexität der Bezüge zwischen Bildern und Texten oder Bildern und anderen Bil­dern im Stundenbuchdruck zeigt sich besonders deutlich, wenn man die Wanderung von Ty­pen oder Bildplat­ten von einer Werkstatt zur anderen, die Verwendung von Bildern in unterschiedli­chem Kontext oder Kopiebeziehungen unter den Graphiken oder zwischen diesen und anderen Bildgattungen einbezieht. Diese Interdependenzen zwischen den Büchern und ihren Bestandtei­len, zwischen den Akteuren des Stundenbuchdrucks oder zwischen der Stundenbuchgra­phik und ihren Modellen oder Reflexen in anderen Kunstgattun­gen bilden ein komplexes Netzwerk, dessen Funktionsweise mit konventionel­len Verweissystemen in gedruck­ten Büchern nicht mehr anschaulich darstell­bar ist. Eine digitale Vernetzung der unter­schiedlichen Komponenten und Beziehungen dieses Systems ermöglicht hingegen nicht nur eine angemessene Präsentation beste­hender Forschung, sondern erschließt zugleich neue Erkenntnismöglichkeiten, indem die zahlreichen Bilder Texte und Personen und deren Bezüge erstmals recherchierbar verwal­tet werden.

Projektziele

Ziel des Projekts ist die Erforschung und digitale Er­schließung des französischen Stundenbuchdrucks von den Anfängen um 1485 bis zum Ende seiner Blütezeit um 1550. Die digitale Präsentation als Netzwerk von Beziehungen dient dabei nicht allein als Mittel der Darstellung von Forschungsergebnissen. Vielmehr soll die Zusammenarbeit von Softwareentwicklung und kunstgeschichtlicher Forschung erweisen, dass diese Form der digitalen Vernetzung und Präsentatio­nen sich als Forschungsinstrument eignet, da sie das zu bearbeitende Material umfangrei­cher zugänglich machen und darin komplexere Beziehungen herstellen kann als herkömmliche Medien.

Die Netzwerkstruk­tur von Stundenbüchern als komposite Gebilde aus Bildern und Texten, die ihrer­seits vielfältige interpicturale, intertexttuelle wie auch interme­diale Beziehungen aufwei­sen, ist in besonderer Weise geeignet durch kommentierte digitale Verlinkung zugleich abgebildet und analysiert zu werden. Eine besondere Stärke des Projekts besteht darin, dass es nicht pri­mär sprachgestützt, sondern bildorientiert arbeitet und forscht. Das behandelte Material im­mer unmittelbar reproduziert ist und bei­spielsweise Fehlerquellen durch Transkriptionen von Texten oder Bildbeschreibungen vermieden sind. Zudem kann das Projekt mit relativ geringem Aufwand mehrsprachig angeboten werden, was seine Reichweite sehr begünstigt, während deutschsprachige Buchpub­likationen international oft zu wenig wahrgenommen werden.

Inhaltlich soll das digitale Netzwerk des Stundenbuchdrucks die Drucke hinsichtlich ihrer redaktio­nellen, künstlerischen und technischen Produktionsstadien erforschen. Das Pro­jekt löst die Bücher in ihre einzelnen materiellen Bestandteile auf und gibt so die virtuelle Rekonstruk­tion des Pariser Buchhändlerviertels mit Druckereien, Künstlerwerkstätten und Verlagen und deren Produkten. Die Bücher werden nach Editionen erfasst, die durch die verantwort­lichen Drucker und Verleger sowie den Erscheinungstag definiert sind, sich aber selbst dabei noch erheblich unterscheiden können. So wird der Vergleich von Exempla­ren ei­ner Auflage vom gleichen Tag anschaulich präsentieren, wie umfangreich die Variationsmöglichkei­ten waren und was man in dieser Zeit überhaupt unter einer Aus­gabe verstehen kann.

Ein separater Datenbestand erfasst zudem die Personen, darunter Entwerfer, die für verschie­dene Verleger arbeiten, die ihrerseits verschiedene Drucker beschäftigen oder selbst Drucker sind. Dazu weitere Künstler, von denen beispielsweise Vorlagen für die Graphik stammen, oder die als Buchmaler Drucke koloriert haben.

Ein weiterer Datenpool enthält assoziierte Kunstwerke, die die Genese und Wirkung der Stunden­buchgraphik auf der Basis von Vorbildern und unmittelbaren Vorlagen und ihre anschlie­ßende Rezeption belegen. Schließlich kann man die Verwendung seltener Texte oder signifikanter Kalenderformulare verfolgen, wodurch neue Erkenntnisse zu erwarten sind.